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Von der Lehrperson zur Lehrerpersönlichkeit
Vom Ich zum Wir: Wenn Netze werken
Christian Wiesner
Von der Unbelehrbarkeit der Theorien
Konkurrenz anstatt Wechselbeziehungen oder die Vielfalt der Teile anstatt der Wahrnehmung einer Gestalt
Ich machte es mir zur strengen Aufgabe, nichts auszusagen, was ich nicht aus meiner Erfahrung belegen und beweisen konnte. (...) Dabei befleiĂigte ich mich, sachliche Argumente anderer kaltblĂŒtig zu prĂŒfen, was ich um so leichter tun konnte, da ich mich an keine strenge Regel und Voreingenommenheit gebunden glaube, vielmehr dem Grundsatz huldige: alles kann auch anders sein.
Welchen Weg soll eine Lehrerpersönlichkeit einschlagen? Gibt es wirklich die eine richtige Antwort oder nicht eher viele geeignete Möglichkeiten? Auf der Suche nach der idealen, wirksamen und stimmigen Lehrpersönlichkeit stellt sich auch die Frage nach der Persönlichkeit selbst und deren Grenzen und Möglichkeiten des Lehrens und Lernens. Mit dem Erkunden der Persönlichkeit ergibt sich die Nachfrage nach den integralen Bestandteilen des Lehrens und Lernens. Durch den Einblick in Aspekte und BestÀnde der Persönlichkeit zeigen sich Systeme, Funktionen, Teile und Dialoge, die wiederum scheinbar Ungleiches aus unterschiedlichen Blickwinkeln wahrnehmen und beobachten. Aus den Unterschieden und Gemeinsamkeiten entsteht womöglich eine Gesamtheit, eine Ganzheit, um das Verhalten, Handeln, Wissen und Können durch Erleben und Erfahrung beschreibbar zu machen.
Betrachten wir zunĂ€chst eine hĂ€ufig gestellte Frage im Zusammenhang mit der Persönlichkeit: âWie viele Ichs bin ich?â Ein Mensch besteht aus vielen bewussten Ich-ZustĂ€nden: Wir nehmen wahr und empfinden (VorgĂ€nge im eigenen Körper und der Umwelt werden wahrgenommen bzw. empfunden), wir fĂŒhlen unseren Körper (die âMeinigkeitâ des Körpers), wir empfinden Emotionen, GefĂŒhle sowie Stimmungen und haben Durst, Hunger u.a.m. (Affekte, Triebe, BedĂŒrfniszustĂ€nde, Temperament), wir denken, erinnern uns oder stellen uns etwas vor (mentale ZustĂ€nde des Denkens, Erinnerns und der Vorstellung), wir erleben uns in unserer IdentitĂ€t (Erleben von Gemeinsamkeiten, Unterschiedlichkeiten, Grenzen, Du und Ich, des Selbstwerts und deren KontinuitĂ€t), wir verhalten uns und handeln (die Autorenschaft der eigenen Handlungen und des Denkens) und wir kennen die Uhrzeit, den Tag, das Jahr, den Ort u.a.m. (Verortung in Raum und Zeit). FĂŒr alle Module der Ich-ZustĂ€nde liegen unterschiedliche Gehirn-Systeme zugrunde. Die Lehrpersönlichkeit als Ich entspricht somit einer Ganzheit, einer dynamischen Gestalt aus einer Vielheit von Bewusstseinsperspektiven in Verbindung mit dem GedĂ€chtnis und den Möglichkeiten zu Lernen und Lehren. Die Vielfalt der Ich-ZustĂ€nde entspricht der Mannigfaltigkeit des Denkens, der Erfahrung und der Reichhaltigkeit möglicher Kommunikationsformen. Im weiteren Verlauf versuche ich eine AnnĂ€herung an die Vielfalt und Buntheit einer Lehrpersönlichkeit auf Basis von vier Orientierungen und vier Ich-ZustĂ€nden.
Aber zunĂ€chst etwas scheinbar ganz anderes: Wir bauen eine Bienenkiste. Wer an eine Bienenkiste denkt, hat Informationen und Bilder zu Bienen im Kopf â womöglich schmecken wir Honig und erinnern uns an Erlebnisse mit Bienen. Wer eine Bienenkiste bauen möchte, dem genĂŒgt diese Vorstellung alleine nicht. Er muss einen Plan entwerfen, langfristige Zielvorstellungen entwickeln, die Elemente fĂŒr den Bau der Kisten systematisch erfassen, einkaufen oder Holz selbst zuschneiden. Sowohl der Zusammenbau als auch der Innenausbau einer Bienenkiste benötigen ein VerstĂ€ndnis darĂŒber, wie die Teile zusammengehören und welchen Zweck sie erfĂŒllen. Planen ist eine Aufgabe der Vorstellungskraft, benötigt jedoch auch vernĂŒnftiges Vorgehen nach altbewĂ€hrten und ĂŒblichen Standards, das Aufrechterhalten des Ziels aber auch die FlexibilitĂ€t umzudenken oder auch neu zu denken. Damit die Vorstellungen am Ende wirklichkeits- und anwendungstauglich werden, benötigen wir Wissen, Erfahrung, Entscheidungen und Handeln. In das Wechselspiel zwischen anerkanntem, kritischem und kreativem Denken mischen sich Urteile und Bewertungen, Unklarheiten sowie emotionale Empfindungen vor, wĂ€hrend und nach dem Bau. Der Bau einer Bienenkiste benötigt somit Problemerkennung, Verstehensprozesse, ProblemlösefĂ€higkeit, Anwendbarkeit, Gestaltbarkeit, Kooperation, FlexibilitĂ€t, Hinterfragen von VorgĂ€ngen sowie unterschiedliche Denk- und Kommunikationsprozesse. Eine Bienenkiste zu bauen, benötigt viele Facetten von Ich-ZustĂ€nden, es braucht eine Lehr-Lernpersönlichkeit.
Auf der Suche nach der Lehr- und Lernpersönlichkeit ist die Erforschung des Selbst unentbehrlich, um den inneren Ort der eigenen Lehr- und Lerngestalt zu erkennen und zu verstehen, um dann diese sowohl selbst gestalten zu können als auch sich in der Folge selbst in einem lebenslangen Prozess zu hinterfragen. Die Wissenschaft entwickelte dazu mehrere Paradigmen, um beispielsweise Lehren und Lernen zu charakterisieren. Dabei wurde ein BĂŒndel an theoretischen LeitsĂ€tzen, Fragestellungen und Methoden entwickelt, die aktuell auch in Konkurrenz zueinander auftreten. Die Paradigmen bieten wiederum Werkzeuge, Tools, RatschlĂ€ge u.a.m., die oftmals sehr erfolgreich sind, jedoch in anderen FĂ€llen bei der Anwendung derselben Methode kaum etwas oder sogar nichts bewirken. Die QualitĂ€t der Ergebnisse (Wirkkraft) scheint demnach eher nicht von den Werkzeugen, den Tools abzuhĂ€ngen, sondern von der QualitĂ€t der Haltung sowie der AgilitĂ€t und PlastizitĂ€t möglicher Ich-ZustĂ€nde, aus denen heraus eine Lehr- und Lernpersönlichkeit handelt.
Als Ăbersicht ĂŒber die jeweiligen Herangehensweisen an das Lehren und Lernen und um den jeweils inneren Ort der eigenen Lehr-Lerngestalt zu bestimmen, zeigt das Konfluenzmodell unterschiedliche Paradigmen (siehe Tabelle 1). Der Ăbersichtlichkeit wegen sind die Paradigmen in Forschungs- und Themenbereiche (kurz: âOrientierungenâ) strukturiert und stellen die Herangehensweisen der Denkmodelle (so weit wie möglich) voneinander unabhĂ€ngig dar, obwohl die Orientierungen aktuell in der Lehr-Lernforschung nebeneinander und auch gemeinsam vorzufinden und die ĂbergĂ€nge oft flieĂend sind. Beachtlich erscheint mir an dieser Stelle, dass wohl aufgrund der Funktion und Struktur des menschlichen Gehirns unterschiedliche wissenschaftliche Forschungsrichtungen und Denktraditionen auf unterschiedliche Weise dasselbe erforschen und jeweils einen bestimmten Fokus â die höheren oder die tieferen Ebenen â nĂ€her beleuchten (siehe Abbildung 4).
Tabelle 1: Konfluenzmodell der Lehrpersönlichkeit (in Anlehnung an Wiesner, 2010; Scharmer & KÀufer, 2013; Wiesner, George, Kemethofer & Schratz, 2015)
Die Akteure dieser Lehr-Lern-Paradigmen â wie in Tabelle 1 dargestellt â gehen dabei von divergierenden Denkmodellen in ihren ForschungsansĂ€tzen aus und erstellen Befunde, die auf den ersten Blick als kaum integrierbar erscheinen. Vermutlich denken die Akteure in jeder Orientierung (1.0, 2.0, 3.0, 4.0) auch sehr unterschiedlich ĂŒber ein Gesamtsystem, wodurch ihr Handeln maĂgeblich bestimmt wird. Die Denkrichtungen fördern und bevorzugen wiederum Denksysteme, die unterschiedliche Ergebnisse, Erlebnisse und Erfahrungen ermöglichen. Kommunikative Prozesse sind dabei fĂŒr die Entwicklung des Gehirns besonders bedeutsam, da die differenzierte Entwicklung von höheren und komplexeren Funktionen âganz wesentlich von den KommunikationsfĂ€higkeiten und -möglichkeitenâ abhĂ€ngt.
Die folgenden Abschnitte werden sich nun ausfĂŒhrlicher mit den zentralen Aspekten einer Lehr-Lernpersönlichkeit beschĂ€ftigen und dabei die vier Orientierungen des Konfluenzmodells darin verorten. Die Grundannahme basiert darauf, dass wenn die unterschiedlichen Ich-ZustĂ€nde beginnen miteinander in Wechselbeziehungen zu stehen, sich eine Verbindung zu zukĂŒnftigen Möglichkeiten und Entwicklungen aufbaut. In Anlehnung an Carl Rogers (1902â1987) sehe ich vier no...