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Einleitung
Andreas Filippi
Die Zunge ist das mit Abstand gröĂte Organ in der Mundhöhle. Mit ihrer exzellenten Innervation und Beweglichkeit ĂŒbernimmt sie fĂŒr den Menschen wichtige Aufgaben wie Tasten, Schmecken, Sprechen, Pfeifen, Saugen sowie die Selbstreinigung der Mundhöhle. Die Zunge ĂŒbernimmt auch bei der Nahrungszerkleinerung eine wichtige Aufgabe: Sie bewegt die Nahrung im Mund, sodass diese gut gekaut und durchspeichelt werden kann. Bei EinschrĂ€nkungen einer oder mehrerer dieser Funktionen ist die LebensqualitĂ€t der betroffenen Menschen meist erheblich eingeschrĂ€nkt. Bei fortgeschrittenen Ausfallerscheinungen oder gar vollstĂ€ndigem Verlust einzelner Funktionen erscheint vielen Betroffenen das Leben oft nicht mehr lebenswert. Zu wichtig sind Artikulation sowie Tast- und Geschmackssinn fĂŒr die QualitĂ€t unseres Lebens. Patienten unter laufender oder nach erfolgter Radiotherapie im Kopf-Hals-Bereich berichten dies immer wieder eindrucksvoll1,2. Neben der Mukositis kommt es zu starken BeeintrĂ€chtigungen des Geschmackssinns. Vieles schmeckt anders oder schwĂ€cher als gewohnt. Teilweise entstehen Abneigungen gegen einzelne Lebensmittel: Manche Dinge, die man frĂŒher gern gegessen hat, schmecken einem nicht mehr. Zum GlĂŒck verschwinden nach der onkologischen Therapie diese sensorischen Störungen meist wieder. Die Zungenoberseite hat als einzige orale Schleimhaut eine mikroraue OberflĂ€che.
Diese beherbergt mehr als die HĂ€lfte aller oralen Mikroorganismen, welche dort in einem sehr gut organisierten Biofilm leben, der sie vor chemischen und mechanischen EinflĂŒssen schĂŒtzt3. An der OberflĂ€che befinden sich eher die Aerobier, in der Tiefe eher die Anaerobier. Letztere leben in den Spalten der eindrucksvoll zerklĂŒfteten Fadenpapillen (Papillae filiformes), welche nur auf der Oberseite der Zunge vorkommen (Abb. 1-1 bis 1-4).
Die hĂ€ufigste TĂ€tigkeit in einer Zahnarztpraxis ist die Behandlung von Folgen mikrobiologischer Erkrankungen in der Mundhöhle (Karies, Parodontitis marginalis, Parodontitis apicalis). Es ist naiv zu glauben, dass die verursachenden Mikroorganismen primĂ€r auf den ZĂ€hnen oder im Sulkus bzw. in den parodontalen Taschen sitzen. Ganz im Gegenteil. Wir reinigen mit MĂŒhe und Handarbeit einzelne Parodontien. Hat dies tatsĂ€chlich nachhaltigen Einfluss auf die Reinfektion des Parodonts? Wie sinnvoll ist die aktuelle Diskussion ĂŒber den Nutzen von Zahnseide? Bringt die Dentalindustrie jedes Jahr tatsĂ€chlich neue ZahnbĂŒrsten auf den Markt, die immer noch besser reinigen als alle bisherigen? Und ist das wirklich der alleinige SchlĂŒssel des Erfolgs zur BekĂ€mpfung der Volkskrankheit Karies?
Die moderne Zahnmedizin beschĂ€ftigt sich durch den oben genannten Wissenszugewinn in PrĂ€vention und Therapie heute glĂŒcklicherweise zunehmend mit dem gröĂten Camp fĂŒr orale Mikroorganismen: der Zunge. Dies kann an Beispielen wie der âFull Mouth Disinfectionâ, der modernen Halitosis-Behandlung und der Idee einer KariesprĂ€vention durch Zungenreinigung beobachtet werden. Zudem gibt es immer wieder AnlĂ€ufe, den oralen Biofilm (der mit Abstand gröĂte befindet sich auf der Oberseite der Zunge, Abb. 1-5) mithilfe probiotischer Medikamente oder probiotischer Nahrungsmittel zugunsten der Mundgesundheit zu verĂ€ndern. Im Bereich der Darmflora ist dies bei bestimmten VerĂ€nderungen oder Erkrankungen gut gelungen; in der Mundhöhle bisher leider noch nicht. Auch ist die Diagnostik der Zunge zur Freude der Herausgeber in den letzten Jahren stĂ€rker in das Bewusstsein von Zahnmedizinern und vor allem von Dentalhygienikerinnen gerĂŒckt, die ĂŒberraschenderweise oder erschreckenderweise deutlich mehr Interesse an Befunden der Zunge (und anderen MundschleimhĂ€uten) zeigen als die meisten ZahnĂ€rztinnen und ZahnĂ€rzte. Begonnen hat dies mit der umfangreichen professionellen Zungendiagnostik bei Halitosis-Patienten, auf die im vorliegenden Buch nicht eingegangen werden soll, da es hierfĂŒr andere LehrbĂŒcher gibt3. GrundsĂ€tzlich sollte sich die Zahnmedizin nicht nur mit ZĂ€hnen beschĂ€ftigen. Nicht umsonst gibt es in anderen LĂ€ndern an UniversitĂ€ten Fachbereiche wie Oral Medicine, Oral Diagnostic Sciences oder Oral Health â ein Trend, den man an den UniversitĂ€ten deutschsprachiger LĂ€nder bisher zu wenig berĂŒcksichtigt hat.
Abb. 1-1 Die ZungenoberflÀche ist mit Fadenpapillen besetzt, ...
Abb. 1-2 ... die sich bei zunehmender VergröĂerung ...
Abb. 1-3 ... sehr zerklĂŒftet darstellen.
Abb. 1-4 Unterschied Zungenoberseite versus Zungenunterseite.
Abb. 1-5 Der gröĂte orale Biofilm befindet sich auf der Zunge.
Insgesamt spielt im Gegensatz zur Traditionellen Chinesischen Medizin die Zungendiagnostik in der Schulmedizin und Schulzahnmedizin eine noch kleine Rolle. Trotzdem wird bei Untersuchungen durch Hals-Nasen-Ohren-, Haus- oder KinderĂ€rzte zumindest die ZungenoberflĂ€che mit angeschaut. Im Rahmen der eingehenden zahnmedizinischen Untersuchung sollten grundsĂ€tzlich auch die ZungenrĂ€nder, die Zungenunterseite, der Zungengrund und der Mundboden inspiziert werden. Bei sichtbaren oder auch nur tastbaren VerĂ€nderungen muss dann eine weiterfĂŒhrende Diagnostik diskutiert und je nach Ergebnis eine entsprechende Therapie eingeleitet werden. Neben sichtbaren und/oder tastbaren VerĂ€nderungen spielen in der immer Ă€lter werdenden Bevölkerung, die auch hĂ€ufig allgemeinmedizinisch medikamentös behandelt werden muss, auch subjektive Beschwerden eine zunehmende Rolle. Ein hĂ€ufiges Problem ist die Reduktion der SpeichelflieĂrate, welche zu Rötungen, EntzĂŒndungen, Pilzinfektionen und vor allem zu Zungenbrennen fĂŒhren kann. Hier ist oft eine interdisziplinĂ€re Vorgehensweise erforderlich, um den in ihrer LebensqualitĂ€t oft eingeschrĂ€nkten Patienten zufriedenstellend helfen zu können.
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Anatomie und Physiologie der Zunge
Ralf J. Radlanski
In Ruhelage fĂŒllt die Zunge bei geschlossenem Mund die Mundhöhle palatinal der Zahnreihen (das Cavum oris proprium) komplett aus. Mithilfe ihrer Binnenmuskulatur ist sie dabei so variabel beweglich, dass die Zungenspitze fast jeden Punkt des Mundes erreichen kann (Abb. 2-1 und 2-2). Nur bei verkĂŒrztem ZungenbĂ€ndchen (Ankyloglossum) wĂ€re dies nur eingeschrĂ€nkt möglich.
2.1Gliederung der Zunge
Der Sulcus medianus linguae trennt die linke und rechte HÀlfte des Corpus linguae in sagittaler Richtung. In transversaler Richtung verlÀuft, leicht V-förmig, der Sulcus terminalis (auch: Linea terminalis) (Abb. 2-3). Durch ihn wird die Zunge in eine Radix linguae (Zungenwurzel), die im Rachen liegt, sowie in einen Corpus linguae (Zungenkörper) und einen Apex linguae (Zungenspitze) aufgeteilt, die beide in der Mundhöhle liegen (Abb. 2-4). Die Radix umfasst dabei etwa 1/3 des Zungenvolumens, auf die beiden vorderen Anteile entfallen 2/3. Die Papillae vallatae liegen noch auf dem Corpus linguae, das Foramen caecum liegt dorsal vom Sulcus terminalis, somit auf der Radix linguae7,17,22.
2.2Entstehung der Zunge
Die Visceralbögen nehmen bei der Entstehung des Gesichts einen groĂen Einfluss. Dies gilt auch fĂŒr die Zunge: Aus dem ersten Visceralbogen entstehen der Apex und der Corpus linguae. Die Radix linguae entsteht aus dem 3. und 4. Visceralbogen. Das Foramen caecum markiert den Endpunkt des Ductus thyroglossus und zeugt vom Descensus der Glandula thyroidea zur embryonalen Zeit der Entwicklung8.
2.3Binnenstruktur der Zunge
Der Zungenkörper ist von einer Binnenmuskulatur durchsetzt, die in sagittaler, transversaler und vertikaler Richtung, teils ineinander verwoben, verlÀuft (Abb. 2-4 bis 2-7). Sagittal verlaufen der M. longitudinalis superior, der M. longitudinalis inferior, der M. genioglossus sowie der M. geniohyoideus, transversal verlÀuft der M. transversus linguae und vertikal der M. verticalis linguae. Faszien, die in den genannten Rich...