1Sprechen, Hören, Lesen, Schreiben
Im Alltag verwenden wir Sprache in verschiedenen kommunikativen Situationen. Jemand spricht, wir hören zu; wir lesen eine Nachricht auf dem Smartphone und schreiben eine Antwort, wir hören ein Referat und machen uns Notizen oder wir tippen am PC und lesen gleichzeitig in einem anderen Fenster im Internet. Die Beispiele zeigen, dass Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben in unserem Alltag nicht isoliert vorkommen. Sie können zudem verdeutlichen, dass die Kommunikation im MĂŒndlichen anders als im Schriftlichen verlĂ€uft: MĂŒndlich kommunizieren wir auf direktem Wege und spontan, im Schriftlichen indirekt ĂŒber das Medium der Schrift â stĂ€rker reflektiert. Auch der Zeitpunkt der Kommunikation spielt eine wichtige Rolle, denn die Kommunikation im MĂŒndlichen erfolgt simultan, im Schriftlichen zeitlich versetzt. Trotz dieser Unterscheidungen ist es oft nicht einfach zu bestimmen, ob ein Text ein mĂŒndlicher oder ein schriftlicher Text ist. Wer am FrĂŒhstĂŒckstisch einen Zeitungstext vorliest, spricht. Der vorgelesene Text ist aber ein geschriebener Text. Bevor wir uns mit mĂŒndlichem Sprachgebrauch als Lerngegenstand befassen, wollen wir diese ZusammenhĂ€nge nĂ€her erörtern.
1.1Mediale und konzeptionelle MĂŒndlichkeit
In der Linguistik unterscheidet man nicht nur zwischen mĂŒndlichen und schriftlichen Texten, sondern differenziert genauer zwischen medialer und konzeptioneller MĂŒndlichkeit bzw. Schriftlichkeit: Medial schriftlich ist ein Text, wenn er in gedruckter Form vorliegt, egal ob als Buch oder E-Book. Medial mĂŒndlich ist ein Text, wenn er akustisch prĂ€sentiert wird, unabhĂ€ngig davon ob er aus dem Radio, aus dem Internet oder von einem GesprĂ€chspartner face-to-face stammt. Konzeptionell mĂŒndliche Texte sind Texte, die Merkmale der gesprochenen Sprache aufweisen, z. B. GesprĂ€che. Konzeptionell schriftliche Texte sind dagegen Texte, die stĂ€rker an den Merkmalen der Schriftsprache orientiert sind (vgl. Koch/Oesterreicher 1994; zusammenfassend SpitzmĂŒller 2014), z. B. Zeitungsberichte.
Konzeptionell mĂŒndliche Sprache unterliegt vielfach einer breiten situativen Varianz und einer geringeren und weniger offensichtlichen Normierung. Bei nĂ€her an der Schriftlichkeit angesiedelten Textsorten spielt der Bezug zur geschriebenen Sprache eine wichtige Rolle. Die Analyse und Einordnung einer Textsorte bildet die Grundlage ihrer Behandlung im Deutschunterricht: Bei einem Kurzvortrag, der medial mĂŒndlich, aber nĂ€her an der Schriftlichkeit orientiert ist, wird nicht spontan gesprochen. Der Kurzvortrag wird geplant, dabei werden zentrale Aspekte beispielsweise in einer Mindmap (schriftlich) gesammelt, der Vortrag kann anschlieĂend mit Hilfe von Stichwörtern prĂ€sentiert werden; bei der PrĂ€sentation können die Zuhörenden durch (schriftlich prĂ€sentierte) Verstehenshilfen entlastet werden (z. B. in Form eines Plakats oder digitaler PrĂ€sentationstechniken). DemgegenĂŒber erscheint im GruppengesprĂ€ch eine gewisse VorlĂ€ufigkeit angemessen; Alltagssprache, sprachliche Merkmale spontanen Sprechens wie SatzabbrĂŒche, Ellipsen, Pausen usw. sollten dabei nicht als Fehler betrachtet werden.
Von besonderer Relevanz ist die Differenzierung in mediale und konzeptionelle MĂŒndlichkeit bzw. Schriftlichkeit in Bezug auf die Bildungssprache, eine fĂŒr âden kognitiven und v. a. schriftlichen Umgang mit LerngegenstĂ€nden typische schulsprachliche VarietĂ€tâ (vgl. Gogolin 2006, Feilke 2012). Bildungssprache ist âin der Tendenz konzeptionell schriftliche Spracheâ (Abraham 2016, 31), die von der Lehrkraft aber gesprochen wird, also medial mĂŒndlich ist (Feilke 2012, 6). In der Forschung werden bestehende Sprachbarrieren und HĂŒrden fĂŒr mehrsprachige Kinder auf diese Besonderheit der Bildungssprache zurĂŒckgefĂŒhrt (vgl. dazu Kapitel 5.3.1.3).
Trotz der Relevanz der âSchriftlichkeits-MĂŒndlichkeitsforschungâ werden fĂŒr die Deutschdidaktik daraus bislang nur ansatzweise Konsequenzen gezogen (vgl. Abraham 2016, 23 f.). Auf didaktische Folgerungen werden wir in Kapitel 7 eingehen, wenn es darum geht, Perspektiven und aktuelle AnsĂ€tze einer Didaktik der MĂŒndlichkeit aufzuzeigen.
1.2Kompetenzbereiche des Sprachunterrichts
Der Kompetenzbereich âSprechenâ darf nicht fĂŒr sich allein betrachtet werden. Dies wird besonders deutlich, wenn wir AnsĂ€tze aus der Fremdsprachendidaktik heranziehen. Wer eine Sprache erlernt, erwirbt in dieser Sprache die Fertigkeiten Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben. Jeglicher Fremdsprachenunterricht ist auf diese vier Basiskompetenzen bezogen. Inzwischen gibt es kaum noch eine Fremdsprachendidaktik, die grundsĂ€tzlich nicht auf diesen Grundfertigkeiten basiert. Dazu hat nicht zuletzt der Gemeinsame europĂ€ische Referenzrahmen fĂŒr Sprachen (GER) (2001) beigetragen, der als Framework das Lernen und Lehren von Sprachen und das Beurteilen von Sprachkompetenzen nach gemeinsamen Kriterien beschreibt und vergleichbar macht. Er ist ein mittlerweile in ganz Europa anerkannter Bezugsrahmen zur Beschreibung von Sprachkompetenzen und damit eine wichtige Grundlage fĂŒr Curriculumentwicklung, Lehrwerkserstellung und fĂŒr SprachprĂŒfungen.
In einem ersten Zugriff werden die sprachlichen Fertigkeiten in produktive und rezeptive unterschieden: Produktiv sind das âSprechenâ und âSchreibenâ, rezeptiv das âHörenâ und das âLesenâ. Dabei wird hervorgehoben, dass ârezeptivâ nicht mit âpassivâ gleichzusetzen ist, Verstehen wird als aktiver Prozess verstanden. Aus diesem Grunde sprechen die Didaktiker auch von âHörverstehenâ bzw. âLeseverstehenâ. Innerhalb der produktiven und rezeptiven Fertigkeiten wird eine weitere Unterscheidung vorgenommen. Beim Lesen und Schreiben dient die geschriebene Sprache als Medium, beim Hören und Sprechen die gesprochene Sprache.
| rezeptiv | produktiv |
gesprochen | Hören | Sprechen |
geschrieben | Lesen | Schreiben |
Abb. 1:Sprachrezeptive und -produktive Grundfertigkeiten
Das Hören bezieht sich beispielsweise auf das Verstehen eines Vortrags oder Referats, auf Radio- oder Fernsehnachrichten oder auch auf Hörspiele oder Filme. Da es dabei auch um Hören und Sehen geht, wird das Hörverstehen um die visuelle Komponente erweitert (Hör-Seh-Verstehen). Das Lesen bezieht sich auf das Verstehen schriftlicher Textsorten und umfasst sowohl sachbezogene (z. B. Gebrauchsanweisung, Zeitungsmeldung oder Zeitungsinterviews) als auch literarische Texte (z. B. MĂ€rchen, Geschichten, Gedichte oder Romane). Das Sprechen betrifft das mĂŒndliche ErzĂ€hlen und Berichten, es beinhaltet aber auch interaktive Formen wie GesprĂ€che und Diskussionen. Die Schreibfertigkeit umfasst das Schreiben von didaktischen Texten (z. B. Zusammenfassung, Erörterung) sowie das Verfassen pragmatischer Texte (z. B. Briefe, E-Mails). Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben werden dabei als gleichberechtigte und aufeinander bezogene Kompetenzbereiche angesehen. Ziel des Sprachunterrichts ist die Entwicklung einer Sprachhandlungskompetenz der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, die diese vier Bereiche umfasst.
Und wo bleiben âWortschatzâ und âGrammatikâ? Wenn das Ziel des Unterrichts auf den Sprachgebrauch ausgerichtet ist, ist die isolierte Arbeit an Wortschatz und Grammatik aufzugeben. In den Fremdsprachendidaktiken hat dies zu einem Methodenwechsel gefĂŒhrt â weg von der sogenannten Grammatik-Ăbersetzungsmethode hin zum kommunikativ-pragmatischen Ansatz (vgl. hierzu Huneke/Steinig 2013, 199-215). Nur diejenige Grammatik wird vermittelt, die notwendig ist, damit SchĂŒlerinnen und SchĂŒler in der jeweiligen Kommunikationssituation rezeptiv oder produktiv mĂŒndlich oder schriftlich sprachhandeln können. Das Konzept eines integrativen Sprachenunterrichts verlangt also eine inhaltliche Vernetzung der Grammatik- und Wortschatzarbeit mit den ĂŒbergeordneten Kompetenzbereichen âHörenâ, âSprechenâ, âLesenâ und âSchreibenâ (vgl. KĂŒhn 2010). Gerade der Erfolg beim Sprechen und Zuhören beruht immer auch auf grammatischen und lexikalischen FĂ€higkeiten (vgl. Steinhoff 2009).
Ein Blick in die Fremdsprachendidaktik (z. B. Huneke/Steinig 2013) kann demnach durchaus Anregungen fĂŒr den Deutschunterricht liefern. Es sollte aber immer bedacht werden, dass der Fremdsprachenunterricht vor allem auf die praktische KommunikationsfĂ€higkeit im Alltag abzielt. Die Bildungsstandards fĂŒr das Fach Deutsch gehen darĂŒber hinaus, wie wir im Folgenden darlegen werden.
1.3Kompetenzbereiche in den Bildungsstandards Deutsch
FĂŒr den Bereich der Grundschulen und weiterfĂŒhrenden Schulen haben die Kultusminister der BundeslĂ€nder im Anschluss an die erste PISA-Studie der OECD 2000 Bildungsstandards fĂŒr das Fach Deutsch erlassen. In diesen Bildungsstandards wird festgelegt, welche Kompetenzen die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler in einer bestimmten Schulform zu einem spezifischen Ausbildungsabschnitt erwerben sollen. Bildungsstandards beschreiben somit schulisch erwĂŒnschte Lernergebnisse. Im Zentrum der Bildungsstandards Deutsch steht ein Kompetenzmodell: Die Zusammenstellung der Kompetenzen erfolgt in Bezug auf bestimmte Kompetenzbereiche, die interdependent miteinander zusammenhĂ€ngen: âSprechen und Zuhörenâ, âSchreibenâ, âLesen â mit Texten und Medien umgehenâ und âSprache und Sprachgebrauch untersuchenâ (vgl. KMK 2005); âMethoden und Arbeitstechnikenâ sind in diese Kompetenzbereiche integriert:
Abb. 2:Kompetenzbereiche in den Bildungsstandards Deutsch
Die Kompetenzbereiche sind im Sinne eines integrativen Deutschunterrichts in unterschiedlicher Weise aufeinander bezogen. ZunĂ€chst einmal wird der Bereich âSprache und Sprachgebrauch untersuchenâ in Beziehung zu jedem der drei anderen Bereiche gebracht. Dies bedeutet grundsĂ€tzlich, dass die Arbeit an der Sprache und dem Sprachgebrauch funktional auf das Sprechen und Zuhören, das Schreiben sowie das Lesen bezogen werden muss. Integriert in die zentralen Kompetenzbereiche sind zudem spezifische Methoden- und Arbeitstechniken. SchlieĂlich können im Sinne eines vernetzten Deutschunterrichtes aber auch die drei zentralen Kompetenzbereiche âSprechen und Zuhörenâ, âSchreibenâ und âLesen â mit Texten und Medien umgehenâ miteinander verknĂŒpft werden. Das Kompetenzmodell zielt folglich auf ein vernetztes Lernen.
Die Bildungsstandards verstehen sich als abschlussbezogene Regelstandards und wollen damit die Vergleichbarkeit schulischer AbschlĂŒsse sowie die DurchlĂ€ssigkeit des Bildungssystems sichern. Das Modell bietet durchaus Gestaltungsmöglichkeiten bei der Festlegung von LehrplĂ€nen und der konkreten unterrichtlichen Arbeit. Inzwischen haben alle BundeslĂ€nder die Bildungsstandards in Rahmen- oder KernlehrplĂ€ne ĂŒberfĂŒhrt. Die Vorstellung von Beispielaufgaben (vgl. z. B. durch das Institut fĂŒr QualitĂ€tsentwicklung im Bildungswesen [IQB]) sowie die Implementierung von LeistungsĂŒberprĂŒfungen (z. B. VERA) haben wesentlich zu einer weitgehenden Durchsetzung und Akzeptanz der Bildungsstandards beigetragen.
An dieser Stelle können Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Konzepte des Gemeinsamen europĂ€ischen Referenzrahmens und der Bildungsstandards Sprachen nur knapp angerissen werden. Es gibt inzwischen eine ausfĂŒhrliche bildungspolitische (Kissling/Klein 2011), bildungswissenschaftliche (z. B. Bildungsstandards 2004) sowie fachdidaktische Diskussion (vgl. z. B. Lehmann o. J.) der Bildungsstandards sowie auch Vergleiche zwischen den beiden Konzeptionen (vgl. z. B. Schneider 2...