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Seuchen verÀndern die Welt
Die Krise 2020 im Spiegel der Geschichte
Anja-Nadine Mayer, Wolfgang Mayer
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Seuchen verÀndern die Welt
Die Krise 2020 im Spiegel der Geschichte
Anja-Nadine Mayer, Wolfgang Mayer
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Im FrĂŒhjahr 2020 wurde das Leben in unserer Gesellschaft einschneidend beeinflusst. Es scheint klar zu sein: Nach der Krise wird die Welt nicht mehr so sein wie vor der Krise. Oder doch?Die Frage ist nicht neu. FrĂŒher haben Pest, Cholera, Lepra, die Spanische Grippe und andere Seuchen den Menschen das Leben erschwert. Dieses Buch spĂŒrt die langfristigen VerĂ€nderungen auf, die sich daraus ergaben. Es zeigt: Solche Krisensituationen haben ein groĂes Potenzial fĂŒr einen Wandel ganz unterschiedlicher Art.Aber wie viel VerĂ€nderung wird diesmal bleiben? Auch wenn die Welt heute eine andere ist, sind Parallelen zwischen den Auswirkungen der Seuchen in der Geschichte und aktuellen Zukunftsfragen durchaus spannend.
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Informations
1) Eine Bilanz des Schreckens
Der KĂ€ufer des Sklaven muss sich geĂ€rgert haben, als der Sklave schon kurz nach dem Kauf schwer erkrankte. Im antiken Mesopotamien war immerhin festgelegt, was der Vorfall nach sich ziehen sollte: Nach Paragraf 278 des Kodex des Königs Hammurabi von Babylon (1728â1686 vor Christus) bekam der KĂ€ufer das Silber zurĂŒck, das er bezahlt hatte, wenn der Sklave oder die Sklavin binnen eines Monats von der Bennu-Krankheit befallen wurde. Forscher gehen davon aus, dass es sich bei der Bennu-Krankheit um Lepra handelte. Ob das so war, wissen wir nicht wirklich.
Es dauerte lange, bis man auch zwischen Pocken und Masern oder zwischen einfachem Durchfall und der Ruhr unterscheiden konnte. Lange Zeit sprach man allgemein von einer âPestilenzâ. Jedenfalls ist der genannte Kodex der Ă€lteste Beleg fĂŒr eine Auseinandersetzung mit einer Erkrankung.
Beim Blick auf die Seuchen in der Geschichte wie in der Gegenwart erscheint das Problem, das vor rund 3.700 Jahren geregelt wurde, eher als trivial. Krankheiten, vor allem wenn sie zu Epidemien ausarteten, verbreiteten in der Bevölkerung anhaltenden Schrecken. WĂ€hrend der ersten Pest-Pandemie in den Jahren 1347/51 reduzierte sich die Bevölkerung in den meisten LĂ€ndern um etwa ein Viertel. Doch damit nicht genug: Es folgten in der zweiten HĂ€lfte des 14. Jahrhunderts weitere Pestwellen, die Ă€hnlich groĂe Opfer forderten.
Gut dokumentiert sind FĂ€lle wie die groĂe Pest in London im 17. Jahrhundert und davor der DreiĂigjĂ€hrige Krieg, der von Seuchen begleitet wurde. Immer wieder wurden ganze Landstriche entvölkert. Das hatte nicht nur Folgen fĂŒr die Bevölkerungsstatistik, sondern auch auf die Versorgung der zurĂŒckgebliebenen Menschen. Oft waren Recht und Gesetz vorĂŒbergehend auĂer Kraft gesetzt. So war fĂŒr viele Menschen der Durchzug einer Seuche nicht nur wegen der Gefahr einer Erkrankung ein Alptraum, sondern auch wegen der Begleiterscheinungen â so wie das heute fĂŒr nicht wenige Menschen der Fall ist.
Die Pest in London
Was wĂ€hrend der GroĂen Pest geschah, die 1665 in London wĂŒtete, lĂ€sst sich im Tagebuch von Samuel Pepys (1633â1703) nachlesen. Pepys war StaatssekretĂ€r der britischen AdmiralitĂ€t, PrĂ€sident der Royal Society und Abgeordneter im britischen Unterhaus. Mit einer halben Million Einwohner war London zu jener Zeit die zweitgröĂte Stadt Europas. SchĂ€tzungsweise 200.000 Menschen flohen im Laufe des Julis aus London. Es war die gröĂte Massenflucht in der Geschichte der Stadt. Die Reichen hatten ihre Landsitze, auf die sie sich zurĂŒckziehen konnten. Das âeinfacheâ Volk trieb es ebenfalls auf das Land, doch dort war es nicht willkommen. Mit KnĂŒppeln und Mistgabeln verjagten die Bauern die StĂ€dter, wie in einer Beschreibung zu lesen ist. Der Gedanke von SolidaritĂ€t war nicht in den Köpfen verankert.
WĂ€hrend der aktuellen Krise denken wir bei dieser Szene sofort an die Nord- und Ostseeinseln, die sich wegen Ăberlastung der Infrastruktur zu Beginn der AusgangsbeschrĂ€nkungen in Deutschland vor dem plötzlichen Touristenansturm abschotten mussten. Oder an Mittelmeerinseln, die eine ĂberfĂŒllung beklagten, weil Menschen mit Zweitwohnsitz auf den Inseln aus den StĂ€dten geflohen waren.
Am 29. Juni 1665 notierte Pepys: âDieses Ende der Stadt wird tĂ€glich mehr von der Pest heimgesucht. Die wöchentliche Sterbeliste ist auf 267 gestiegen.â Pepys ging trotzdem weiter seinen AmtsgeschĂ€ften nach. Er hörte, wie immer mehr HĂ€user geschlossen wurden. Ănderungen im Alltagsablauf waren fĂŒr ihn nicht erkennbar. Am 20. Juli schrieb Pepys: âHeute Nachmittag wartete ich dem Herzog von Albemarle auf, und dann zu Mrs. Croft, bei der ich Mrs. Burrows traf und kĂŒsste; sie ist fĂŒr eine Mutter mit so vielen Kindern eine sehr hĂŒbsche Frau. Aber mein Gott, wie sich die Pest ausbreitet. Sie ist jetzt ĂŒberall in der King Street, am Axe Yard und in der Nachbarschaft und an anderen Stellen.â
Was Pepys nicht wusste: Die Pest ist eine Infektionskrankheit, die durch Bakterien ausgelöst wird: Gelangen diese Bakterien in den Blutkreislauf, verbreiten sie sich dort und fĂŒhren bei ihrem Absterben zu einer Vergiftung des Organismus. Ăbertragen wird die Pest zu einem groĂen Teil durch Insektenbisse, aber auch durch Tröpfcheninfektion direkt von Mensch zu Mensch. Das unbekĂŒmmerte Verhalten von Samuel Pepys zeigt, dass Ansteckungswege, Hygieneregeln und PrĂ€ventionsmaĂnahmen damals kein Thema waren: Fröhlich besuchte er alle möglichen Leute und kĂŒsste er sogar fremde Frauen, wĂ€hrend ĂŒberall um ihn herum die Pest ihre Toten einforderte.
Ende August waren im Verlauf nur einer Woche allein in der GroĂstadt 6.102 Personen an der Pest gestorben â aber, so Pepys, âman befĂŒrchtet, dass die wirkliche Sterbequote diese Woche bei 10.000 liegt, teilweise wegen der Armen, die nicht registriert werden können wegen ihrer groĂen Anzahl, und teilweise wegen der QuĂ€ker und anderer, die keine Totenglocke lĂ€uten lassen.â Pepysâ Amt zog nach Greenwich um. Nachrichten von der britischen Flotte fĂŒhrten ihn imam am 10. September zu einer Dienstfahrt nach London. â⊠Und nachdem ich eine Abschrift von Mylords Brief gemacht hatte, wieder fort zum BĂ€ren unter der BrĂŒcke, voller BlĂ€hungen und unwohl, und bestellte dort Zwieback und ein StĂŒck KĂ€se und ein Glas spanischen Wein, da ich ĂŒber die BrĂŒcke zur Börse gehen musste, und dort ĂŒberall die Pest. Hier war meine Nachricht höchst willkommen, und ich staunte, die Börse so voll zu sehen, wohl zweihundert Leute, aber kein Mann von Stand oder Kaufmann, sondern alles gewöhnliche Leute. Und mein Gott, wie ich mich bemĂŒhte, mit so wenigen wie möglich zu sprechen, denn auf das VerschlieĂen verseuchter HĂ€user wird jetzt nicht mehr geachtet, so dass man bestimmt mit Leuten redet und zusammenkommt, die die Pest haben.â
Aus dieser Beschreibung wird klar: Die Regierung hatte zwar die Absicht, war aber nicht in der Lage, eine QuarantĂ€ne fĂŒr Erkrankte durchzusetzen. MaĂnahmen wie heute gab es nicht: Die StraĂen waren noch voller Menschen, die Börse war geöffnet, das Leben nahm seinen ĂŒblichen, alltĂ€glichen Lauf. Die Situation war entglitten, die Pest verbreitete sich ungebremst. Dem Volk fehlte jegliches Wissen und Bewusstsein, um die Ausbreitung der Epidemie auszubremsen. Die Menschen lebten weiter, als ginge sie das Sterben um sie herum nichts an. Was sonst hĂ€tten sie tun sollen? Sie wussten es nicht besser. Denn fĂŒr die Mediziner jener Zeit galt die Pest als unheilbar. Man akzeptierte sie als Todesurteil und begrub seine Toten.
Am 7. Oktober ist von Pepys zu lesen: âArbeitete im Amt, allerdings nicht viel, wegen der schrecklichen Ansammlung und dem erbĂ€rmlichen Stöhnen der armen Seeleute, die aus Mangel an Geld hungernd auf den StraĂen liegen.â Am 16. Oktober war âin Westminster kein einziger Arzt und nur ein Apotheker ĂŒbrigâ, die anderen waren âalle gestorbenâ. Langsam ebbte die Krankheit aber ab. An Silvester 1665 lautete der Eintrag im Tagebuch: âJetzt ist die Pest fast auf Null heruntergegangen.â Die Folge: â ⊠zu unserer groĂen Freude fĂŒllt die Stadt sich schnell, und die LĂ€den öffnen allmĂ€hlich wieder. Walte Gott, dass die Pest weiter zurĂŒckgeht, denn sie hĂ€lt den Hof fern vom Zentrum der GeschĂ€fte, und so geht es mit den öffentlichen Angelegenheiten ganz bergab, aus diesem Abstand denken sie nicht daran.â Es war der potenzielle Zusammenbruch der âöffentlichen Angelegenheitenâ, der Pepys und sicherlich auch andere Zeitgenossen umtrieb.
Die Pest brachte London â so wie vielen anderen StĂ€dten â in der zweiten HĂ€lfte des 17. Jahrhunderts Krankheit, Leid und Tote. Sie brachte denen Obdachlosigkeit und Hunger, die nicht fĂŒr sich selbst sorgen konnten und niemanden mehr hatten, der sie ernĂ€hrte. Mehr brachte die Pest nicht. Sie machte nicht auch Hoffnung auf positive VerĂ€nderung, so wie heute viele Menschen, die in rĂ€umlicher Isolation zuhause sitzen, sich auf ihre Werte und Hoffnungen besinnen und beginnen, in Gedanken eine bessere Welt zu formen. Es gab keine Reaktionen auf die Verbreitung der Krankheit und kaum politische Möglichkeiten, die Epidemie zu verlangsamen.
Heute kennen wir die Ursachen fĂŒr die Krankheiten und die ZusammenhĂ€nge ihrer Verbreitung. Wir haben auch neue technische Möglichkeiten. Wirtschaftsbetriebe können quasi ĂŒber Nacht auf Homeoffice und Videokonferenzen umsteigen. Doch die Wirtschaft und die âöffentlichen Angelegenheitenâ von damals sind mit denen von heute nicht vergleichbar. Es bleibt nur die Feststellung, dass solche Bereiche nicht ĂŒbersehen werden dĂŒrfen, und dass es stets Folgen gab, die man heute KollateralschĂ€den nennt.
Der DreiĂigjĂ€hrige Krieg
Die Welt ist manchmal komplizierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ereignisse sind in der Regel nicht monokausal â also nicht auf einen Faktor allein reduzierbar. So traten Epidemien in der Geschichte oft zusammen mit Hunger auf. Historiker sprechen bisweilen von einem Zwillingspaar: Hunger und Seuchen verstĂ€rkten sich gegenseitig, fĂŒhrten zu Elend und Tod. Mancherorts kam erst der Hunger, anderenorts zuerst die Seuche. Dazu kamen Kriege. Ein Sprichwort, das im 17. Jahrhundert verbreitet war, besagte: âKrieg, Hunger und Pest sind drei Ruten, durch die Gott die Menschen suchen lĂ€sst.â Welche Auswirkungen welchem Faktor zuzuordnen waren, lĂ€sst sich nicht exakt nachvollziehen.
Der britische Ăkonom John Maynard Keynes (1883â1946) gehörte zu denen, die nicht weiter zwischen Seuchen, Hungersnöten und Kriegen unterschieden. Das alles waren fĂŒr ihn gleichermaĂen Heimsuchungen. Es habe einfach ein Auf und Ab gegeben, dabei auch âgoldene Zwischenzeitenâ zwischen Zeiten der Heimsuchung. Aber es habe dabei keine fortschreitenden heftigen VerĂ€nderungen gegeben.
Ein Beispiel fĂŒr eine solche AbwĂ€rtsspirale war der DreiĂigjĂ€hrige Krieg (1618â1648). Die Pest hielt in den dreiĂiger Jahren des 16. Jahrhunderts ihre âreichste Beuteâ, schrieb ein Chronist. Bekannt ist das Tagebuch des Abts Maurus Friesenegger vom Benediktinerkloster Andechs. 1635 schrieb er beispielsweise: âDen ganzen Herbst grassierte wiederum die leidige Pest, sowohl in Baiern, als vorzĂŒglich in Schwaben, das doch schon bisher mehr als viele andere Provinz sowohl an Contagion (= Ansteckung) als Krieg gelitten hatte. Besonders nahm dieses Ăbel die ReichsstĂ€dte her.â
Die Konsequenzen waren dramatisch. Wo die Seuchen ihre Opfer gefunden hatten, konnten Ăcker nicht mehr bestellt, Ernten nicht mehr eingefahren und Vieh nicht mehr versorgt werden. Durch die AusfĂ€lle in der Landwirtschaft konnten die Menschen auch in den StĂ€dten nicht mehr ernĂ€hrt werden.
Andernorts bereitete der Hunger das Feld fĂŒr die Pest: Dort nĂ€mlich, wo der Krieg gewĂŒtet hatte, wo Bauern ermordet oder geflohen waren. Wo noch Getreide wuchs, wurde es von den Soldaten an die Pferde verfĂŒttert, bevor es reifen konnte. Getreide und Brot erreichten ebenso wie Fleisch Preise, die das einfache Volk nicht mehr bezahlen konnte. Das geschah je nach Region in unterschiedlicher Weise. Jedenfalls war eine allgemeine Teuerung festzustellen. Bei den Bodenpreisen war es umgekehrt. Ein Chronist schrieb: âHĂ€user wurden um einen Laib Brot verkauft, Ăcker um einen Butterwecken, ganze Bauernhöfe um 20, 30 oder 40 Gulden.â
Die Erfahrung sowohl von Missernten als auch von Seuchen förderte vielerorts eine kommunale Krisenvorsorge â wie beispielsweise die Errichtung von stĂ€dtischen Kornspeichern. Durch diese Einrichtungen sollte die Versorgung der Bevölkerung in Kriegs- und Notzeiten sichergestellt werden, wenn auf dem freien Markt das Getreide kaum mehr, oder nur zu allzu hohen Preisen verfĂŒgbar war. NĂŒrnberg war dabei ein Vorreiter. Um 1500 entstand hier die sogenannte Mauthalle, die dank des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg noch heute zu den markanten stĂ€dtischen GebĂ€uden zĂ€hlt.
Auch wenn der bevölkerungsmĂ€Ăige Aderlass durch den Krieg und die Seuchen hoch war, so konnte er doch mittelfristig die allgemeine Bevölkerungsvermehrung nicht wesentlich hemmen. Der Wirtschaftstheoretiker Thomas Robert Malthus (1766â1834) ging darauf ein, dass die arme Bevölkerung immer wieder von Seuchen und Hungersnöten dahingerafft werde, sich danach wieder vermehre, und irgendwann von der nĂ€chsten Welle dezimiert werde. Er leitete davon die Feststellung ab, dass die Nahrungsmittelproduktion mit der Bevölkerungsentwicklung nicht Schritt halten könne und deshalb ein Wohlstand aller nicht möglich sei. Der Hinweis auf die Seuchen könnte damit zur ErklĂ€rung mit beitragen, warum sich die Schere zwischen arm und reich in der Vergangenheit nicht schlieĂen konnte.
Landstriche entvölkert
Seuchen hatten seit den frĂŒhen Tagen der Menschheit Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung. Forscher glauben, dass nicht weiter identifizierbare Viren oder Bakterien das Aussterben der Neandertaler verursacht haben könnten. Mangelnde AbwehrkrĂ€fte seien daran schuld gewesen, dass sich stattdessen der Homo sapiens durchsetzen konnte. Belege fĂŒr diese Theorie gibt es allerdings nicht. Fest steht, dass in der Geschichte ganze Völker ausgelöscht wurden, weil sie mit Krankheiten konfrontiert wurden, die Fremde bei ihnen einschleppten.
Der amerikanische Historiker William H. McNeill vertrat in seinem Buch Seuchen machen Geschichte (es erschien 1978 auf Deutsch) die These, dass das römische Weltreich vorwiegend an Kinderkrankheiten und anderen Epidemien zugrunde gegangen sei. Andere Forscher behaupten, dass die sogenannte Justinianische Pest das Ende des Römischen Imperiums besiegelt habe. Sie ging von Ăgypten aus, erreichte um 540 Konstantinopel und am Ende so gut wie alle ...