Phantastische Nacht und 5 andere ErzÀhlungen
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Phantastische Nacht und 5 andere ErzÀhlungen

Sommernovellette + Die Gouvernante + Die spÀt bezahlte Schuld + Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau + Die Frau und die Landschaft + Phantastische Nacht

Stefan Zweig

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  1. 250 pages
  2. German
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Phantastische Nacht und 5 andere ErzÀhlungen

Sommernovellette + Die Gouvernante + Die spÀt bezahlte Schuld + Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau + Die Frau und die Landschaft + Phantastische Nacht

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Stefan Zweigs Phantastische Nacht stellt die wohl feinste Sammlung, literarischer Erotik dar. Jede der sechs ErzĂ€hlungen birgt in sich einen Angriff gegen die PrĂŒderie des Österreich um 1900. FeinfĂŒhlig und prĂ€zise wie in allen seinen Novellen amĂŒsiert auch hier Stefan Zweig den Leser durch Erotik in allen Phasen des Menschen. Wie die meisten ErzĂ€hlungen von Stefan Zweig gehört auch dieser ErzĂ€hlband in die Reihe der schönsten und besten der deutschen Literatur.Inhalt: SommernovelletteDie GouvernanteDie spĂ€t bezahlte SchuldVierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer FrauDie Frau und die LandschaftPhantastische Nacht

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Informations

Éditeur
e-artnow
Année
2013
ISBN
9788087664551
Édition
4

Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau

Inhaltsverzeichnis


In der kleinen Pension an der Riviera, wo ich damals, zehn Jahre vor dem Kriege, wohnte, war eine heftige Diskussion an unserem Tische ausgebrochen, die unvermutet zu rabiater Auseinandersetzung, ja sogar zu GehĂ€ssigkeit und Beleidigung auszuarten drohte. Die meisten Menschen sind von stumpfer Phantasie. Was sie nicht unmittelbar anrĂŒhrt, nicht aufdringlich spitzen Keil bis hart an ihre Sinne treibt, vermag sie kaum zu entfachen; geschieht aber einmal knapp vor ihren Augen, in unmittelbarer TastnĂ€he des GefĂŒhls auch nur ein Geringes, sogleich regt es in ihnen ĂŒbermĂ€ĂŸige Leidenschaft. Sie ersetzen dann gewissermaßen die Seltenheit ihrer Anteilnahme durch eine unangebrachte und ĂŒbertriebene Vehemenz.
So auch diesmal in unserer durchaus bĂŒrgerlichen Tischgesellschaft, die sonst friedlich small talk und untiefe, kleine SpĂ€ĂŸchen untereinander ĂŒbte und meist gleich nach aufgehobener Mahlzeit auseinanderbröckelte: das deutsche Ehepaar zu AusflĂŒgen und Amateurphotographieren, der behĂ€bige DĂ€ne zu langweiligem Fischfang, die vornehme englische Dame zu ihren BĂŒchern, das italienische Ehepaar zu Eskapaden nach Monte Carlo und ich zu Faulenzerei im Gartenstuhl oder Arbeit. Diesmal aber blieben wir alle durch die erbitterte Diskussion vollkommen ineinander verhakt; und wenn einer von uns plötzlich aufsprang, so geschah es nicht, wie sonst, zu höflichem Abschied, sondern in hitzköpfiger Erbitterung, die, wie ich bereits vorwegerzĂ€hlte, geradezu rabiate Formen annahm.
Das Begebnis nun, das dermaßen unsere kleine Tafelrunde aufgezĂ€umt hatte, war allerdings sonderbar genug. Die Pension, in der wir sieben wohnten, bot sich nach außen hin zwar als abgesonderte Villa dar – ach, wie wunderbar ging der Blick von den Fenstern auf den felsenzerzackten Strand! –, aber eigentlich war sie nichts als die wohlfeilere Dependance des großen Palace Hotels und ihm durch den Garten unmittelbar verbunden, so daß wir Nebenbewohner doch mit seinen GĂ€sten in stĂ€ndigem Zusammenhang lebten. Dieses Hotel nun hatte am vorhergegangenen Tage einen tadellosen Skandal zu verzeichnen gehabt. Es war nĂ€mlich mit dem Mittagszuge um 12 Uhr 20 Minuten (ich kann nicht umhin, die Zeit so genau wiederzugeben, weil sie ebenso fĂŒr diese Episode wie als Thema jener erregten Unterhaltung wichtig ist) ein junger Franzose angekommen und hatte ein Strandzimmer mit Ausblick nach dem Meer gemietet: das deutete an sich schon auf eine gewisse BehĂ€bigkeit der VerhĂ€ltnisse. Aber nicht nur seine diskrete Eleganz machte ihn angenehm auffĂ€llig, sondern vor allem seine außerordentliche und durchaus sympathische Schönheit: inmitten eines schmalen MĂ€dchengesichtes umschmeichelte ein seidigblonder Schnurrbart sinnlich warme Lippen, ĂŒber die weiße Stirn lockte sich weiches, braungewelltes Haar, weiche Augen liebkosten mit jedem Blick – alles war weich, schmeichlerisch, liebenswĂŒrdig in seinem Wesen, aber doch ohne alle KĂŒnstlichkeit und Geziertheit. Erinnert er auch von fern zuvörderst ein wenig an jene rosafarbenen, eitel hingelehnten Wachsfiguren, wie sie in den Auslagen großer ModegeschĂ€fte mit dem Zierstock in der Hand das Ideal mĂ€nnlicher Schönheit darstellen, so schwand doch bei nĂ€herem Zusehen jeder geckige Eindruck, denn hier war (seltenster Fall!) die LiebenswĂŒrdigkeit eine natĂŒrlich angeborene, gleichsam aus der Haut gewachsene. Er grĂŒĂŸte vorĂŒbergehend jeden einzelnen in einer gleichzeitig bescheidenen und herzlichen Weise, und es war wirklich angenehm, zu beobachten, wie seine immer sprungbereite Grazie sich bei jedem Anlaß ungezwungen offenbarte. Er eilte auf, wenn eine Dame zur Garderobe ging, ihren Mantel zu holen, hatte fĂŒr jedes Kind einen freundlichen Blick oder ein Scherzwort, erwies sich umgĂ€nglich und diskret zugleich – kurz, er schien einer jener gesegneten Menschen, die aus dem erprobten GefĂŒhl heraus, andern Menschen durch ihr helles Gesicht und ihren jugendlichen Charme angenehm zu sein, diese Sicherheit neuerlich in Anmut verwandeln. Unter den meist Ă€lteren und krĂ€nklichen GĂ€sten des Hotels wirkte seine Gegenwart wie eine Wohltat, und mit jenem sieghaften Schritt der Jugend, jenem Sturm von Leichtigkeit und Lebensfrische, wie sie Anmut so herrlich manchem Menschen zuteilt, war er unwiderstehlich in die Sympathie aller vorgedrungen. Zwei Stunden nach seiner Ankunft spielte er bereits Tennis mit den beiden Töchtern des breiten, behĂ€bigen Fabrikanten aus Lyon, der zwölfjĂ€hrigen Annette und der dreizehnjĂ€hrigen Blanche, und ihre Mutter, die feine, zarte und ganz in sich zurĂŒckhaltende Madame Henriette, sah leise lĂ€chelnd zu, wie unbewußt kokett die beiden unflĂŒggen Töchterchen mit dem jungen Fremden flirteten. Am Abend kiebitzte er uns eine Stunde am Schachtisch, erzĂ€hlte zwischendurch in unaufdringlicher Weise ein paar nette Anekdoten, ging neuerdings mit Madame Henriette, wĂ€hrend ihr Gatte wie immer mit einem GeschĂ€ftsfreunde Domino spielte, auf der Terrasse lange auf und ab; spĂ€t abends beobachtete ich ihn dann noch mit der SekretĂ€rin des Hotels im Schatten des Bureaus in verdĂ€chtig vertrautem GesprĂ€ch. Am nĂ€chsten Morgen begleitete er meinen dĂ€nischen Partner zum Fischfang, zeigte dabei erstaunliche Kenntnis, unterhielt sich nachher lange mit dem Fabrikanten aus Lyon ĂŒber Politik, wobei er gleichfalls als guter Unterhalter sich erwies, denn man hörte das breite Lachen des dicken Herrn ĂŒber die Brandung herĂŒbertönen. Nach Tisch – es ist durchaus fĂŒr das VerstĂ€ndnis der Situation nötig, daß ich alle diese Phasen seiner Zeiteinteilung so genau berichte – saß er nochmals mit Madame Henriette beim schwarzen Kaffee eine Stunde allein im Garten, spielte wiederum Tennis mit ihren Töchtern, konversierte mit dem deutschen Ehepaar in der Halle. Um sechs Uhr traf ich ihn dann, als ich einen Brief aufzugeben ging, an der Bahn. Er kam mir eilig entgegen und erzĂ€hlte, als mĂŒsse er sich entschuldigen, man habe ihn plötzlich abberufen, aber er kehre in zwei Tagen zurĂŒck. Abends fehlte er tatsĂ€chlich im Speisesaale, aber nur mit seiner Person, denn an allen Tischen sprach man einzig von ihm und rĂŒhmte seine angenehme, heitere Lebensart.
Nachts, es mochte gegen elf Uhr sein, saß ich in meinem Zimmer, um ein Buch zu Ende zu lesen, als ich plötzlich durch das offene Fenster im Garten unruhiges Schreien und Rufen hörte und sich drĂŒben im Hotel eine sichtliche Bewegung kundgab. Eher beunruhigt als neugierig, eilte ich sofort die fĂŒnfzig Schritte hinĂŒber und fand GĂ€ste und Personal in durcheinanderstĂŒrmender Erregung. Frau Henriette war, wĂ€hrend ihr Mann in gewohnter PĂŒnktlichkeit mit seinem Freunde aus Namur Domino spielte, von ihrem allabendlichen Spaziergang an der Strandterrasse nicht zurĂŒckgekehrt, so daß man einen UnglĂŒcksfall befĂŒrchtete. Wie ein Stier rannte der sonst so behĂ€bige schwerfĂ€llige Mann immer wieder gegen den Strand, und wenn er mit seiner vor Erregung verzerrten Stimme »Henriette! Henriette!« in die Nacht hinausschrie, so hatte dieser Laut etwas von dem Schreckhaften und Urweltlichen eines zu Tode getroffenen riesigen Tieres. Kellner und Boys hetzten aufgeregt treppauf, treppab, man weckte alle GĂ€ste und telephonierte an die Gendarmerie. Mitten hindurch aber stolperte und stapfte immer dieser dicke Mann mit offener Weste, ganz sinnlos den Namen »Henriette! Henriette!« in die Nacht hinaus schluchzend und schreiend. Inzwischen waren oben die Kinder wach geworden und riefen in ihren Nachtkleidern vom Fenster herunter nach der Mutter, der Vater eilte nun wieder zu ihnen hinauf, sie zu beruhigen.
Und dann geschah etwas so Furchtbares, daß es kaum wiederzuerzĂ€hlen ist, weil die gewaltsam aufgespannte Natur in den Augenblicken des Übermaßes der Haltung des Menschen oft einen dermaßen tragischen Ausdruck gibt, daß ihn weder ein Bild noch ein Wort mit der gleichen blitzhaft einschlagenden Macht wiederzugeben vermag. Plötzlich kam der schwere, breite Mann die Ă€chzenden Stufen herab mit einem verĂ€nderten, ganz mĂŒden und doch grimmigen Gesicht. Er hatte einen Brief in der Hand. »Rufen Sie alle zurĂŒck!« sagte er mit gerade noch verstĂ€ndlicher Stimme zu dem Chef des Personals: »Rufen Sie alle Leute zurĂŒck, es ist nicht nötig. Meine Frau hat mich verlassen.«
Es war Haltung in dem Wesen dieses tödlich getroffenen Mannes, eine ĂŒbermenschlich gespannte Haltung vor all diesen Leuten ringsum, die neugierig gedrĂ€ngt auf ihn sahen und jetzt plötzlich, jeder erschreckt, beschĂ€mt, verwirrt, sich von ihm abwandten. Gerade genug Kraft blieb ihm noch, an uns vorbeizuwanken, ohne einen einzigen anzusehen, und im Lesezimmer das Licht abzudrehen; dann hörte man, wie sein schwerer, massiger Körper dumpf in einen Fauteuil fiel, und hörte ein wildes, tierisches Schluchzen, wie nur ein Mann weinen kann, der noch nie geweint hat. Und dieser elementare Schmerz hatte ĂŒber jeden von uns, auch den Geringsten, eine Art betĂ€ubender Gewalt. Keiner der Kellner, keiner der aus Neugierde herbeigeschlichenen GĂ€ste wagte ein LĂ€cheln oder anderseits ein Wort des Bedauerns. Wortlos, einer nach dem andern, wie beschĂ€mt von dieser zerschmetternden Explosion des GefĂŒhls, schlichen wir in unsere Zimmer zurĂŒck, und nur drinnen in dem dunklen Raume zuckte und schluchzte dieses hingeschlagene StĂŒck Mensch mit sich urallein in dem langsam auslöschenden, flĂŒsternden, zischelnden, leise raunenden und wispernden Hause.
Man wird verstehen, daß ein solches blitzschlaghaftes, knapp vor unseren Augen und Sinnen niedergefahrenes Ereignis wohl geeignet war, die sonst nur an Langeweile und sorglosen Zeitvertreib gewöhnten Menschen mĂ€chtig zu erregen. Aber jene Diskussion, die dann so vehement an unserem Tische ausbrach und knapp bis an die Grenze der TĂ€tlichkeiten emporstĂŒrmte, hatte zwar diesen erstaunlichen Zwischenfall zum Ausgangspunkt, war aber im Wesen eher eine grundsĂ€tzliche Erörterung, ein zorniges Gegeneinander feindlicher Lebensauffassungen. Durch die Indiskretion eines DienstmĂ€dchens, die jenen Brief gelesen – der ganz in sich zusammengestĂŒrzte Gatte hatte ihn irgendwohin auf den Boden in ohnmĂ€chtigem Zorn hingeknĂŒllt –, war nĂ€mlich rasch bekannt geworden, daß sich Frau Henriette nicht allein, sondern einverstĂ€ndlich mit dem jungen Franzosen entfernt hatte (fĂŒr den die Sympathie der meisten nun rapid zu schwinden begann). Nun, das wĂ€re auf den ersten Blick hin vollkommen verstĂ€ndlich gewesen, daß diese kleine Madame Bovary ihren behĂ€bigen, provinzlerischen Gatten fĂŒr einen eleganten, jungen HĂŒbschling eintauschte. Aber was alle am Hause dermaßen erregte, war der Umstand, daß weder der Fabrikant noch seine Töchter, noch auch Frau Henriette jemals diesen Lovelace vordem gesehen, daß also jenes zweistĂŒndige abendliche GesprĂ€ch auf der Terrasse und jener einstĂŒndige schwarze Kaffee im Garten genĂŒgt haben sollten, um eine etwa dreiunddreißigjĂ€hrige, untadelige Frau zu bewegen, ihren Mann und ihre zwei Kinder ĂŒber Nacht zu verlassen und einem wildfremden jungen Elegant auf das Geratewohl zu folgen. Diesen scheinbar offenkundigen Tatbestand lehnte nun unsere Tischrunde einhellig als perfide TĂ€uschung und listiges Mannöver des Liebespaares ab: selbstverstĂ€ndlich sei Frau Henriette lĂ€ngst mit dem jungen Mann in heimlichen Beziehungen gestanden und der RattenfĂ€nger nur noch hierhergekommen, um die letzten Einzelheiten der Flucht zu bestimmen, denn – so folgerten sie – es sei vollkommen unmöglich, daß eine anstĂ€ndige Frau, nach bloß zweistĂŒndiger Bekanntschaft, einfach auf den ersten Pfiff davonlaufe. Nun machte es mir Spaß, anderer Ansicht zu sein, und ich verteidigte energisch derartige Möglichkeit, ja sogar Wahrscheinlichkeit bei einer Frau, die durch eine jahrelang enttĂ€uschende, langweilige Ehe jedem energischen Zugriff innerlich zubereitet war. Durch meine unerwartete Opposition wurde die Diskussion rasch allgemein und vor allem dadurch erregt, daß die beiden Ehepaare, das deutsche sowohl als das italienische, die Existenz des coup de foudre als eine Narrheit und abgeschmackte Romanphantasie mit geradezu beleidigender VerĂ€chtlichkeit ablehnten.
Nun, es ist ja hier ohne Belang, den stĂŒrmischen Ablauf eines Streits zwischen Suppe und Pudding in allen Einzelheiten nachzukĂ€uen: nur Professionals der Table d’hĂŽte sind geistreich, und Argumente, zu denen man in der Hitzigkeit eines zufĂ€lligen Tischstreites greift, meist banal, weil bloß eilig mit der linken Hand aufgerafft. Schwer auch zu erklĂ€ren, wieso unsere Diskussion dermaßen rasch beleidigende Formen annahm; die Gereiztheit, glaube ich, begann damit, daß unwillkĂŒrlich beide EhemĂ€nner ihre eigenen Frauen von der Möglichkeit solcher Untiefen und FĂ€hrlichkeiten ausgenommen wissen wollten. Leider fanden sie dafĂŒr keine glĂŒcklichere Form, als mir entgegenzuhalten, so könne nur jemand reden, der die weibliche Psyche nach den zufĂ€lligen und allzubilligen Eroberungen von Junggesellen beurteile: das reizte mich schon einigermaßen, und als dann noch die deutsche Dame diese Lektion mit dem lehrhaften Senf bestrich, es gĂ€be einerseits wirkliche Frauen und andererseits »Dirnennaturen«, deren ihrer Ansicht nach Frau Henriette eine gewesen sein mußte, da riß mir die Geduld vollends, ich wurde meinerseits aggressiv. All dies Abwehren der offenbaren Tatsache, daß eine Frau in manchen Stunden ihres Lebens jenseits ihres Willens und Wissens geheimnisvollen MĂ€chten ausgeliefert sei, verberge nur Furcht vor dem eigenen Instinkt, vor dem DĂ€monischen unserer Natur, und es scheine eben manchen Menschen VergnĂŒgen zu machen, sich stĂ€rker, sittlicher und reinlicher zu empfinden als die »leicht VerfĂŒhrbaren«. Ich persönlich wieder fĂ€nde es ehrlicher, wenn eine Frau ihrem Instinkt frei und leidenschaftlich folge, statt, wie allgemein ĂŒblich, ihren Mann in seinen eigenen Armen mit geschlossenen Augen zu betrĂŒgen. So sagte ich ungefĂ€hr, und je mehr in dem nun aufknisternden GesprĂ€ch die andern die arme Frau Henriette angriffen, um so leidenschaftlicher verteidigte ich sie (in Wahrheit weit ĂŒber mein inneres GefĂŒhl hinaus). Diese Begeisterung war nun – wie man in der Studentensprache sagt – Tusch fĂŒr die beiden Ehepaare, und sie fuhren, ein wenig harmonisches Quartett, derart solidarisch erbittert auf mich los, daß der alte DĂ€ne, der mit jovialem Gesicht und gleichsam, die Stoppuhr in der Hand wie bei einem Fußballmatch, als Schiedsrichter dasaß, ab und zu mit dem Knöchel mahnend auf den Tisch klopfen mußte: »Gentlemen, please.« Aber das half immer nur fĂŒr einen Augenblick. Dreimal bereits war der eine Herr vom Tisch mit rotem Kopf aufgesprungen und nur mĂŒhsam von seiner Frau beschwichtigt worden – kurz, ein Dutzend Minuten noch, und unsere Diskussion hĂ€tte in TĂ€tlichkeiten geendet, wenn nicht plötzlich Mrs. C. wie ein mildes Öl die aufschĂ€umenden Wogen des GesprĂ€chs geglĂ€ttet hĂ€tte.
Mrs. C., die weißhaarige, vornehme, alte englische Dame, war die ungewĂ€hlte EhrenprĂ€sidentin unseres Tisches. Aufrecht sitzend an ihrem Platze, in immer gleichmĂ€ĂŸiger Freundlichkeit jedem zugewandt, schweigsam und dabei von angenehmster Interessiertheit des Zuhörens, bot sie rein physisch schon einen wohltĂ€tigen Anblick: eine wunderbare Zusammengefaßtheit und Ruhe strahlte von ihrem aristokratisch verhaltenen Wesen. Sie hielt sich jedem einzelnen fern bis zu einem gewissen Grade, obwohl sie jedem mit feinem Takt eine besondere Freundlichkeit zu erweisen wußte: meist saß sie mit BĂŒchern im Garten, manchmal spielte sie Klavier, selten nur sah man sie in Gesellschaft oder in intensivem GesprĂ€ch. Man bemerkte sie kaum, und doch hatte sie eine sonderbare Macht ĂŒber uns alle. Denn kaum daß sie jetzt zum erstenmal in unser GesprĂ€ch eingriff, ĂŒberkam uns einhellig das peinliche GefĂŒhl, allzu laut und unbeherrscht gewesen zu sein.
Mrs. C. hatte die Ă€rgerliche Pause benĂŒtzt, die durch das brĂŒske Aufspringen und wieder sachte an den Tisch ZurĂŒckgefĂŒhrtsein des deutschen Herrn entstanden war. Unvermutet hob sie ihr klares, graues Auge, sah mich einen Augenblick unentschlossen an, um dann mit beinahe sachlicher Deutlichkeit das Thema in ihrem Sinne aufzunehmen.
»Sie glauben also, wenn ich Sie recht verstanden habe, daß Frau Henriette, daß eine Frau unschuldig in ein plötzliches Abenteuer geworfen werden kann, daß es Handlungen gibt, die eine solche Frau eine Stunde vorher selbst fĂŒr unmöglich gehalten hĂ€tte und fĂŒr die sie kaum verantwortlich gemacht werden kann?«
»Ich glaube unbedingt daran, gnÀdige Frau.«
»Damit wĂ€re doch jedes moralische Urteil vollkommen sinnlos und jede Überschreitung im Sittlichen gerechtfertigt. Wenn Sie wirklich annehmen, daß das crime passionnel, wie es die Franzosen nennen, kein crime ist, wozu noch eine staatliche Justiz ĂŒberhaupt? Es gehört ja nicht viel guter Wille dazu – und Sie haben erstaunlich viel guten Willen«, fĂŒgte sie leicht lĂ€chelnd hinzu –, »um dann in jedem Verbrechen eine Leidenschaft zu finden und dank dieser Leidenschaft zu entschuldigen.«
Der klare und zugleich fast heitere Ton ihrer Worte berĂŒhrte mich ungemein wohltĂ€tig, und unwillkĂŒrlich ihre sachliche Art nachahmend, antwortete ich gleichfalls halb im Scherz und halb im Ernst: »Die staatliche Justiz entscheidet ĂŒber diese Dinge sicherlich strenger als ich; ihr obliegt die Pflicht, mitleidlos die allgemeine Sitte und Konvention zu schĂŒtzen: das nötigt sie, zu verurteilen, statt zu entschuldigen. Ich als Privatperson aber sehe nicht ein, warum ich freiwillig die Rolle des Staatsanwaltes ĂŒbernehmen sollte: Ich ziehe es vor, Verteidiger von Beruf zu sein. Mir persönlich macht es mehr Freude, Menschen zu verstehen, als sie zu richten.«
Mrs. C. sah mich eine Zeitlang senkrecht mit ihren klaren, grauen Augen an und zögerte. Schon fĂŒrchtete ich, sie hĂ€tte mich nicht recht verstanden, und bereitete mich vor, ihr nun auf englisch das Gesagte zu wiederholen. Aber mit einem merkwĂŒrdigen Ernst, gleichsam wie bei einer PrĂŒfung, stellte sie weiter ihre Fragen.
»Finden Sie es nicht doch verĂ€chtlich oder hĂ€ĂŸlich, daß eine Frau ihren Mann und ihre zwei Kinder verlĂ€ĂŸt, um irgendeinem Menschen zu folgen, von dem sie noch gar nicht wissen kann, ob er ihrer Liebe wert ist? Können Sie wirklich ein so fahrlĂ€ssiges und leichtfertiges Verhalten bei einer Frau entschuldigen, die doch immerhin nicht zu den JĂŒngsten zĂ€hlt und sich zur Selbstachtung schon um ihrer Kinder willen erzogen haben mĂŒĂŸte?«
»Ich wiederhole Ihnen, gnĂ€dige Frau«, beharrte ich, »daß ich mich weigere, in diesem Falle zu urteilen oder zu verurteilen. Vor Ihnen kann ich es ruhig bekennen, daß ich vorhin ein wenig ĂŒbertrieben habe – diese arme Frau Henriette ist gewiß keine Heldin, nicht einmal eine Abenteurernatur und am wenigsten eine grande amoureuse. Sie scheint mir, soweit ich sie kenne, nichts als eine mittelmĂ€ĂŸige, schwache Frau, fĂŒr die ich ein wenig Respekt habe, weil sie mutig ihrem Willen gefolgt ist, aber noch mehr Bedauern, weil sie gewiß morgen, wenn nicht schon heute, tief unglĂŒcklich sein wird. Dumm vielleicht, gewiß ĂŒbereilt mag sie gehandelt haben, aber keineswegs niedrig und gemein, und nach wie vor bestreite ich jedermann das Recht, diese arme, unglĂŒckliche Frau zu verachten.«
»Und Sie selbst, haben Sie noch genau denselben Respekt und dieselbe Achtung fĂŒr sie? Machen Sie gar keinen Unterschied zwischen der Frau, mit der Sie vorgestern als einer ehrbaren Frau beisammen waren, und jener andern, die gestern mit einem wildfremden Menschen davongelaufen ist?«
»Gar keinen. Nicht den geringsten, nicht den allergeringsten.«
»Is that so?« UnwillkĂŒrlich sprach sie englisch: das ganze GesprĂ€ch schien sie merkwĂŒrdig zu beschĂ€ftigen. Und nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens hob sich ihr klarer Blick mir nochmals fragend entgegen.
»Und wenn Sie morgen Madame Henriette, sagen wir in Nizza, begegnen wĂŒrden, am Arme dieses jungen Mannes, wĂŒrden Sie sie noch grĂŒĂŸen?«
»SelbstverstÀndlich.«
»Und mit ihr sprechen?«
»SelbstverstÀndlich.«
»WĂŒrden Sie – wenn Sie 
 wenn Sie verheiratet wĂ€ren, eine solche Frau Ihrer Frau vorstellen, genau so, als ob nichts vorgefallen wĂ€re?«
»SelbstverstÀndlich.«
»Would you really?« sagte sie wiederum englisch, voll unglÀubigen, verwunderten Erstaunens.
»Surely I would«, antwortete ich unbewußt gleichfalls englisch.
Mrs. C. schwieg. Sie schien noch immer angestrengt nachzudenken, und plötzlich sagte sie, wĂ€hrend sie mich, gleichsam ĂŒber ihren eigenen Mut erstaunt, ansah: »I don’t know, if I would. Perhaps I might do it also.« Und mit jener unbeschreiblichen Sicherheit, wie nur EnglĂ€nder ein GesprĂ€ch endgĂŒltig und doch ohne grobe BrĂŒskerie abzuschließen wissen, stand sie auf und bot mir freundlich die Hand. Durch ihre Einwirkung war die Ruhe wieder eingekehrt, und wir dankten ihr innerlich alle, daß wir, eben noch Gegner, nun mit leidlicher Höflichkeit einander grĂŒĂŸten und die schon gefĂ€hrlich gespannte AtmosphĂ€re sich an ein paar leichten Scherzworten wieder auflockerte.

Obwohl unsere Diskussion schließlich in ritterlicher Weise ausgetragen schien, blieb von jener aufgereizten Erbitterung dennoch eine leichte Entfremdung zwischen meinen Widerpartnern und mir zurĂŒck. Das deutsche Ehepaar verhielt sich reserviert, wĂ€hrend sich das italienische darin gefiel, mich in den nĂ€chsten Tagen immer wieder spöttelnd ...

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