SchlÀfst du, Mutter?
I
Peter Vogelsang
Geht auf den Grillenfang,
Hat eine lange Nase
Und Ohren wie ein Hase ...
Ich lasse sie schreien, die Knirpse, dachte Peter und schritt wĂŒrdevoll seine StraĂe fĂŒrbaĂ. Das Spottgedicht stammte vom Herrn Lehrer selbst, aber Peter war fest ĂŒberzeugt davon, daĂ ihn diese »Kinderei« gleichgĂŒltig lasse. Wenn er in den Zwischenpausen trĂ€umerisch, fast tiefsinnig im Schulhof stand, hinten am Zaun, wo man auf den FluĂ hinabsehen konnte, der so ruhig und so klar vorbeiströmte, oder wenn er abseits von dem KnĂ€uel der Aufgeregten mit nachdenklich verschrĂ€nkten Armen dastand, muĂte ihn oft die spöttische Mahnung des Lehrers aus seinem Sinnen wecken. Aber Peter lĂ€chelte nur, und dieses LĂ€cheln war nicht ohne eine gewisse GeringschĂ€tzung; denn er war bei seinen neun Jahren schon ein beachtenswerter Philosoph, der ĂŒber den lieben Gott bereits sein ganz bestimmtes Urteil hatte.
Es war ein Mittwochnachmittag, und er ging spazieren. Er trug einen dĂŒnnen Spazierstock aus Weichselrohr â die Mutter hatte ihn gestern erst gekauft â, und damit hieb er fortwĂ€hrend auf die Einfassung des Trottoirs los, gerade als könne er sich damit von einer Summe innerer Zweifel befreien. Am Lilienplatz ertönten die SchmiedehĂ€mmer, und das war ein heller, fast klagender Laut. Peter blieb stehen, denn diese Töne fesselten ihn sehr. Klang es nicht, wie wenn die alten und berĂŒhmten Recken mit ihren Schwertern aufeinander loshieben? Wahrlich, wenn man die Augen schloĂ, so konnte man glauben, Laurin kĂ€mpfe in vollem Gewaffen mit Dietrich von Bern. Dann sah er noch zu, wie einem Pferd die Hufeisen erneuert wurden, und so beklommen war sein Herz bei diesem Schauspiel, daĂ ihn selbst der arge Gestank des angesengten Hufs nicht vertreiben konnte. Er staunte nur, daĂ ein Pferd so schön stille halten konnte, wĂ€hrend man ihm NĂ€gel in die FĂŒĂe schlug. Er ging weiter, aber das Staunen ĂŒber diesen sonderbaren Umstand wollte ihn gar nicht mehr verlassen. Er dachte: Man sollte das einmal bei mir probieren! Man sollte mir einmal NĂ€gel in die FĂŒĂe schlagen! Erstens wĂŒrde ich schreien, und dann ... dann wĂŒrde schon Papa kommen...
Als er sich der Fischergasse mit ihrem schlechten Pflaster und ihren kleinen, baufĂ€lligen HĂ€usern nĂ€herte, dachte er: Dies FĂŒrth ist doch eine hĂ€Ăliche Stadt. Warum hat mich der liebe Gott nicht in einer Stadt mit schöneren HĂ€usern geboren werden lassen? Schon der Name ist hĂ€Ălich. Es gibt doch so schöne StĂ€dte: Babylon oder Bagdad oder Palmyra...
Seine kindische Sehnsucht machte seine Schritte gröĂer und hurtiger. Bald lagen die Wiesen vor ihm.
II
Lange Zeit verfolgte er die LandstraĂe, die kahl und schattenlos dalag, wĂ€hrend der weiĂe Staub sie gleich einer Mehlschicht bedeckte. Am wolkenlosen Himmel stand die Sonne, und alles Land lag da: leblos, gleichsam schlaftrunken. Bienen und Hummeln summten vorbei, und der KohlweiĂling und das Pfauenauge flatterten umher. Hinter den HĂŒgeln drĂŒben erhob sich ein Dorfkirchturm einsam in die Luft, lang und schmal wie eine Lanze. Ein leichter Schleier verhĂŒllte die Fernen, und je weiter sich der Knabe von der Stadt entfernte, desto stiller, desto feiertĂ€glicher wurde es in der Runde um ihn. Er hĂ€tte immer zuwandern mögen in diese groĂe Ebene hinaus, die so trĂŒgerisch den Schein eines UnermeĂlichen erweckte. Nichts fesselte das Auge hier, und stets sah man die schwere, gleichförmige Linie des Horizonts; aber dies Flachland birgt Schönheiten, die denen der Nacht verwandt sind.
Peter Vogelsangs Ziel war der Wald. Und wĂ€hrend er weitertrippelte, ĂŒberlieĂ er sich völlig seinen TrĂ€umereien. Wie herrlich wĂ€re es, wenn er jetzt als AnfĂŒhrer einer Armee die StraĂe zöge! NatĂŒrlich muĂte er dazu schon groĂ sein und stark â stĂ€rker als Haushammers Fritz, ja sogar stĂ€rker als der Vater selbst. Er blieb stehen ... nein, am Ende war es doch viel hĂŒbscher, KapitĂ€n zu werden, SeerĂ€uber zu werden. Er legte den Finger an die Nase und sann emsig darĂŒber nach, was wohl ersprieĂlicher sein möchte: Feldmarschall zu werden oder SeerĂ€uber? Wenn er aber bedachte, daĂ man es vom Feldmarschall gar leicht zum Kaiser bringen kann? Es war schwer, darĂŒber ins Klare zu kommen. Er wollte die BĂ€ume an der linken Seite der StraĂe zĂ€hlen, bis hinauf zur HĂŒgelspitze, und wenn eine gerade Zahl herauskam, wollte er Kaiser werden, und wenn eine ungerade herauskam, wollte er SeerĂ€uber werden. Wenn das Tante Lina wĂŒĂte, wĂŒrde sie natĂŒrlich wieder lachen, aber wovon verstand sie denn eigentlich etwas? Ăberhaupt, die MĂ€dchen verstehen ja gar nichts, sagte er finster vor sich hin. Er haĂte die MĂ€dchen, und obwohl Tante Lina schon verheiratet war, rechnete sie Peter doch zu den MĂ€dchen. Sie redete immer bloĂ von ihrem Alfredchen und von ihren neuen TĂŒllgardinen oder so, und vom lieben Gott zum Beispiel verstand sie gar nichts. Auch hatte sie nicht einmal gewuĂt, daĂ die Sonne gröĂer ist als die Erde. Das empörendste war aber, daĂ sie immer vom Storch sprach, der die kleinen Kinder bringe. Als ob er das geglaubt hĂ€tte, solche KindermĂ€rchen!
Und er versank in tiefes GrĂŒbeln. Eigentlich war er doch noch nicht fertig mit diesem Storch. Wer sollte einen denn sonst bringen, wenn es nicht der Storch war? Aber andrerseits, welches Interesse konnte der Storch daran haben, daĂ die Menschen Kinder bekĂ€men? Ja â und dies war der Hauptpunkt: im Herbst ziehen doch die Störche fort, können also keine Kinder bringen; er wuĂte aber ganz genau, daĂ die Kinder auch dann auf die Welt kommen, wenn gar keine Störche mehr da sind. Und was ist dies fĂŒr ein geheimnisvoller Ort, wo die vielen winzigen Kinderchen hegen? Ein groĂer See, von dunklen Wildnissen umspannt; rosenfarbene Vögel schwimmen darauf umher, und am Rand steht himmelhohes Schilf. Und es gibt keinen Tag und es gibt keine Nacht dort, sondern immer nur ein seltsames DĂ€mmern, und eine Prinzessin liegt im W...