Auf der Suche nach Freiheit
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Auf der Suche nach Freiheit

Von Nigeria nach Ostholstein

Sandra Willendorf

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  1. 634 pages
  2. German
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Auf der Suche nach Freiheit

Von Nigeria nach Ostholstein

Sandra Willendorf

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Ein ehemaliger Sklave François gerĂ€t 1794 in das Auge des Hurrikans der Französischen Revolution auf Guadeloupe, kĂ€mpft in Seekriegen und wird zum englischen Kriegsgefangenen. Nach dem Austausch gelangt er nach Guadeloupe zurĂŒck, wo das Bataillon des Antilles im Mai 1802 an der Rebellion gegen die WiedereinfĂŒhrung der Sklaverei, durch Napoleon befohlen, teilnimmt. Die Einheit wird von der Insel vertrieben. François wird in Mantua eingesetzt, von wo er desertiert und sich im Oktober 1806 mit neuer IdentitĂ€t in Ostholstein niederlĂ€sst - ein direkter Vorfahre der Autorin. Neben dem biographischen Aspekt werden die Bedingungen im Ursprungsland Nigeria, der Dreieckshandel, die Gesellschaft und Kultur auf Guadeloupe analysiert. Welche Faktoren tragen zum Aufstand von 1802 bei und wie geht die Insel damit um? Die Vertreibung der Soldaten ist eine internationale StaatsaffĂ€re. Welche Politik betreibt Napoleon, insbesondere bezogen auf farbige Menschen? Was passiert bei den Pionniers Noirs in Mantua? François ist auf der Suche nach Freiheit, einem einfachen, menschenwĂŒrdigen Leben, frei von Sklaverei - und findet seine Ruhe im dĂ€nischen Holstein. Ein StĂŒck Microgeschichte in der Makrogeschichte wird dargestellt.

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Informations

Éditeur
Books on Demand
Année
2020
ISBN
9783752635720

1. Prolog

Die vorliegende Arbeit setzt sich mit einem Thema auseinander, das den Menschen in Migration, auf der Suche nach einem besseren Leben, schon millionenfach widerfahren ist und das Mitmenschen auch in der Gegenwart erleben.
Äußere gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Bedingungen wirken auf Regionen, einzelne Gruppen und Menschen ein. Diese mĂŒssen lernen, damit umzugehen. Sie haben dazu verschiedene Möglichkeiten: sich anzupassen, zu revoltieren, ihren eigenen Weg zu suchen oder zuerst einmal nur zu ĂŒberleben.
Ich versuche vorliegend, die Bedingungen nachzuzeichnen, die auf meinen Vorfahren vor etwa 200 Jahren - in Nigeria fĂŒr seine Eltern -, auf Guadeloupe, in Frankreich, Italien und Deutschland gewirkt haben, und welchen Weg er auf sich genommen hat, um fĂŒr seine Freiheit, oder ein einfaches Mensch-Sein, zu kĂ€mpfen.
Reduziert man das Erlebte und das Kommende auf die Perspektive des Gehirns, so geht es immer darum, aus allen möglichen Inputs der Umgebung Vorhersagen fĂŒr das Überleben zu treffen, Probleme zu lösen und sein Verhalten danach auszurichten. Dieses betrifft körperliche und seelische Grenzerfahrungen genauso wie Alltagssituationen.
Ein Problem kann beispielsweise sein, sich in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften zurecht zu finden, so der afrikanischen Stammeskultur der Igbo, den Bedingungen auf dem Sklavenschiff, der Plantagengesellschaft auf Guadeloupe, im MilitĂ€r des Bataillon des Antilles in Krieg und Frieden, der Deportation nach Brest, dem Einsatz bei den Pionniers Noirs, der Desertion ĂŒber die Alpen, dem Orientieren und den Weg fĂŒr das Überleben suchen als Deserteur mitten durch das Treiben im österreichischen und deutschsprachigen Raum Richtung Ostsee.
Bezogen auf die umgebenden Mitmenschen musste mein Vorfahr mit verschiedenen Erwartungen oder geforderten Verhaltensweisen der ihn umgebenden Mitmenschen interagieren und sich angemessen anpassen.
Seine Eltern waren wahrscheinlich noch in einem Igbo-Clan gewesen. Mit der Versklavung und der Verschleppung an die KĂŒste kamen der schmerzhafte Verlust ihrer Eltern und Geschwister, ihres Clans, der Heimat, der Traditionen und Kultur hinzu. Ab dem Zeitpunkt war fremdbestimmter Gehorsam unter Zwang gefordert, so auf dem Weg an die KĂŒste, wĂ€hrend der transatlantischen Passage und in der kolonialen Gesellschaft auf Guadeloupe, fĂŒr ihn auch spĂ€ter im MilitĂ€r.
Neben dem grundsĂ€tzlichen Überlebensproblem, genug FlĂŒssigkeit und Nahrung zu haben, auf irgendeine Weise gesund und psychisch stark zu bleiben, nicht aufzugeben oder Krankheiten und Verletzungen gut wegzustecken, nicht irgendwelchen Schlachten und KĂ€mpfen ausgeliefert zu sein, ein sicheres Dach ĂŒber dem Kopf zu haben, waren auch Sprachbarrieren zu ĂŒberwinden. Neben einem der Igbo-Dialekte – den mein Vorfahr möglicherweise noch auf der Plantage sprechen konnte, wenn er unentdeckt war, und es weitere Igbo-Sklaven auf der Plantage gab, die seinen Dialekt verstanden – waren dies CrĂ©ole, Französisch, etwas Englisch, vielleicht auch ein bisschen Italienisch, und spĂ€ter mit Sicherheit PlattdĂŒtsch. Inwieweit mein Vorfahr Hochdeutsch lernen konnte, konnte ich nicht erschließen.
Diese Überlebens- und Anpassungstaktiken und Erfahrungen waren kolossal und fundamental, sie sollten meinen Vorfahren tiefgreifend geprĂ€gt haben. FĂŒr diese als Gefahr empfundene Situationen, in denen sich mein Vorfahr einige tausend Mal befunden haben wird, kann gesagt werden, dass das Gehirn um zu ĂŒberleben – oder der Mensch – bewusst oder unbewusst fortwĂ€hrend die Frage stellt: Bin ich sicher? Ist die Person mir gegenĂŒber sicher? Ist die Umgebung sicher? Wie schĂ€tze ich diese ein?
Die FĂ€higkeit in solchen Momenten zu bestehen, Lösungen zu entwickeln und zu ĂŒberleben, bedeutet eine gewaltige Portion Empowerment, dieses auf individueller Ebene wie auch auf Gruppenebene. Kann ich an Grenzerfahrungen und Extremsituationen wachsen oder breche ich darunter zusammen?
Die Eltern meines Vorfahren waren damals – gegen ihren Willen – FlĂŒchtling, als sie sich vom Igbo Hinterland in Richtung nigerianische KĂŒste begaben. Die Sklaven haben sich in den Kolonien in die Sklaverei und ihr Schicksal gefĂŒgt, wenn sie nicht dagegen aufbegehrt haben. Gegen seinen Willen wurde mein Vorfahr, Soldat im Bataillon des Antilles, auf Guadeloupe entwaffnet und von der Insel vertrieben. Auf Befehl Napoleons wurden die farbigen Soldaten nach Mantua verlegt um dort Erd- und Befestigungsarbeiten zu verrichten, nicht aber um zu kĂ€mpfen. Diese DemĂŒtigung wird auch nicht seinem freien Willen entsprochen haben, wo er doch eigentlich schon im Bataillon des Antilles den Diensteid geleistet hatte, fĂŒr das Vaterland Frankreich zu kĂ€mpfen. Auf dem ĂŒber 1000 km langen Marsch von Mantua in die Ostseeregion war mein Vorfahr Deserteur und wiederum FlĂŒchtling – eigentlich nur auf der Suche nach einem sicheren einfachen Leben, frei von Sklaverei, frei von Kriegshandlungen und den zerstörerischen KrĂ€ften, einfach Mensch sein.
In einer gewissen Weise hat seit der Entdeckung der Übersee durch die Seefahrer eine erste Globalisierung stattgefunden. Es gab und gibt Gesellschaften, die ĂŒber andere herrsch(t)en, unterschiedliche Kulturen und unterschiedliches Prestige.
Auf dem Festland wie zur See und in den Kolonien in Übersee sind in Krieg und Frieden die Lebenswege von vielen Millionen Menschen in grob geschĂ€tzt 15-20 Generationen durcheinandergewirbelt worden. Von daher hat es Migration immer gegeben, die sich auch in der DNA der Mehrzahl der Mitmenschen spiegeln sollte, meistens zu ihrer Überraschung.
Interessant ist im vorliegenden Fall, wie Weltgeschichte das Einzelschicksal beeinflusst und wie mit viel GlĂŒck, Kombinatorik und Grassroots-Methoden auch der einfache Mann nachgewiesen werden konnte.
Ich hatte das unglaubliche GlĂŒck, dass die Heiratsurkunde in Ostholstein, ein Tagebucheintrag eines jungen Adeligen von Witzleben in Plön und die Berichte einer Pflanzer- und HĂ€ndlerfamilie aus Guadeloupe zusammenpassten.
Es ist nun Zeit fĂŒr die UnterstĂŒtzung, Anregung, Ermutigung, Diskussion einzelner Aspekte zu danken:
Zuallererst meiner Familie, ohne die die vorliegende Arbeit nicht zustande gekommen wÀre, die
Kirchenkreise in Bad Segeberg, Hamburg, Hamburg-Harburg, Pinneberg, Kiel, NeumĂŒnster, Reinbek; dem Team des Landesarchivs Schleswig und Julia Liedtke; Kay Nico Horn Kreisarchiv Plön, dem Team des Stadtarchivs Hansestadt LĂŒbeck, dem Team der Stadt- und UniversitĂ€tsbibliothek Hamburg; dem Team des Staatsarchivs Hamburg, dem Rahlstedter Kulturverein Carmen Hansch, Werner Jansen, Detlef Kraack von der Schleswig-Holsteinischen Gesellschaft fĂŒr lokale Geschichte, Peter Dörling, Manfred Bruhn vom AKVZ, Sylvina Zander Stadtarchiv Bad Oldesloe, Dirk Jachomowski aus dem Landesarchiv Schleswig-Holstein, Familie BauernprĂ€sident Werner Schwarz, Gut Frauenholz in Rethwisch, den BĂŒrgermeistern Eick und Jens Poppinga in Rethwischdorf, der Pastorin der Kirche in Rethwischdorf, dem Gemeinderat Dorf Willendorf, Peter Hennings, der Bayerischen Staatsbibliothek Verena Pres, Martin Krieger UniversitĂ€t Kiel, GĂ­sli PĂĄlsson, Island, fĂŒr weitere sehr gute Quellen;
dem Team des Archives nationales CARAN in Paris und Pierrefitte-sur-Seine, BibliothĂšque nationale François Mitterand, Paris, Service historique de la DĂ©fense et des ArmĂ©es de Terre, Vincennes Paris, ANOM Aix-en-Provence, GHC GĂ©nĂ©alogie et Histoire de la CaraĂŻbe und Philippe Rossignol (+), SociĂ©tĂ© d’Histoire de la Guadeloupe GĂ©rard Lafleur, ADG Guadeloupe Gourbeyre Laure Tressens und Claude Garnier, Entraide bĂ©nĂ©vole gĂ©nĂ©alogique Colette Douroux und Annick François-Haugrin, das Team des Rigsarkivet Danish National Archives und Asbjorn Thomsen; Sue Giles Senior Curator British Empire and Commonwealth Collection Bristol Museums; Lorna Hyland Assistant Curator International Slavery Museum Liverpool, Tanja Fittkau Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven, dem Team des Auswanderermuseums Ballinstadt;
den Historikern und Historikerinnen Sylviane A. Diouf, Bernard Gainot, FrĂ©dĂ©ric RĂ©gent, Sainte-Croix Lacour, David Eltis und Nick Radburn von slavevoyages.org, Erick NoĂ«l und Flavio Eichmann, der Archivarin der Stadt Ahrensburg Angela Behrens fĂŒr den Austausch und die Anregungen;
den Freunden und Familie BĂ©nĂ©dicte Elting-Delabarre, Heinz-Hermann Elting, Luxemburg, Baaba Yankah-Odeuah und ihrem Ehemann, der Gruppe „Mama Afrika“, Köln, Tim Ford, Eric Cobb, Dr. Förster und Dr. Gehrke, Hildegard Krauß, Sven Sauter, Angela Joost und meinen Geschwistern Amara, Yasmina und Ramon Willendorf fĂŒr ihre UnterstĂŒtzung.
Tief bewegt hat mich die Vernissage des palĂ€stinensisch-amerikanischen KĂŒnstlers Nida Sinnokrot. In St. Peter, Köln, zeigte er Anfang Dezember 2019 ein Objet trouvĂ©, einen ehemaligen Schiffscontainer, der in Bethlehem als BĂŒro diente. Entsprechend den Dimensionen eines arabischen Wohnzimmers waren an zwei WĂ€nden des Containers Fenster ausgesĂ€gt und die typischen schmiedeeisernen Gitter vorgesetzt worden. Nida hat den Container in etwa zwölf Teile zersĂ€gt, so wie er ihn gefunden hatte. Auf dem Boden befand sich - zersĂ€gt - einer dieser ĂŒberdimensionalen Plastikteppiche als Imitat eines orientalischen Teppichs in Brauntönen. Der Container hatte noch die Eisenstange und das Schloss, um ihn zu verschließen. Er stand im Mittelschiff der Kirche und Jesus wachte mit ausgebreiteten Armen ĂŒber ihm, welch ein GegenstĂŒck zum Thema Migration, Freiheit, Flucht und Vertreibung! In der Rede zur Vernissage hieß es, schon immer seien Waren aus allen fĂŒnf Kontinenten in Container verpackt und irgendwo hin geschickt worden und so und sei es auch Menschen ergangen und ergeht es auch, die sich ĂŒberall auf der Flucht befinden. Da ich zu der Zeit stark mit dieser Arbeit befasst war, zog es mich direkt 200 bis 250 Jahre zurĂŒck und ich dachte mit Schmerz an meine Vorfahren. Als dann die Intonation begann wie mit dem Signal eines Dampfers, das in den Hafen einfĂ€hrt oder auslĂ€uft - konnte der Komponist wissen, dass er solche ZusammenhĂ€nge weckt -, fĂŒhlte ich mich am Strand in Calabar oder Bonny, ging nĂ€her zum Container, fast hinein (er war wegen der Verletzungsgefahr nicht begehbar) und dachte, wenn sich die TĂŒren schließen, verliere ich meinen Verstand auf diesem Sklavenschiff! Ich konnte auch die Emotionen und den Irrsinn, den Equiano in seinem Tagebuch wĂ€hrend der Mittelpassage beschreibt, in der Komposition nachempfinden. Nida hat unser GesprĂ€ch sehr bewegt und mich seine Ausstellung auch. Ich bin ihm dankbar dafĂŒr.

2. Was eine Legende mit einem DNA Test zu tun hat

In unserer Familie vĂ€terlicherseits wurde von Generation zu Generation die Anekdote ĂŒberliefert, Anfang des 19. Jahrhunderts habe es mit einem Soldaten aus der französischen Armee Napoleons ein Stelldichein mit einem jungen deutschen MĂ€dchen in der LĂŒbecker Bucht gegeben. Daraus sei ein Kind sĂŒdeuropĂ€ischen Temperaments und Aussehen entstanden.
Ich habe als Erstgeborene drei jĂŒngere Geschwister und hatte von diesem sĂŒdeuropĂ€ischen Temperament und Aussehen viel mitbekommen, genauso wie mein Vater und seine Schwester und deren Vorfahren - und in Abstufungen auch meine Geschwister.
Anfang der 1970er Jahre - mitten in der Biafra-Krise - hÀtten meine Eltern fast ein Kind aus Biafra adoptiert. Ich war noch im Kindergartenalter und konnte mich daran erinnern mit ihnen auf einem Filmabend oder Diavortrag gewesen zu sein. Der administrative Aufwand ist ihnen zu hoch gewesen. Unbewusst hatte mein Vater also quasi Claims im Gebiet seiner Vorfahren gegraben!
Ab Mitte der 80er Jahre, meiner PubertĂ€t, faszinierte mich alles, was mit afroamerikanischer und afrikanischer Musik zusammenhing. Mein Vater hatte als Kind und Jugendlicher Klavierunterricht. Sehr zum Verdruss seiner damaligen Musiklehrerin ließ er sich fĂŒr Klassik nicht begeistern. Stattdessen wollte er in Richtung Jazz, Swing, Samba, Bossa-Nova, Cuba. In den Sechziger bis Achtziger Jahren machte er so manche Musikhandlung verrĂŒckt, weil sie erst einmal nach seinen Noten und SĂ€ngern bibliografieren musste und er die Noten einige Wochen spĂ€ter abholen konnte. Auch die TĂ€nze und die Bongos faszinierten ihn. Meine Tante war ebenso von Musik begeistert und spielte Klavier und Akkordeon. Mein Onkel und seine Frau unternahmen, wann immer es möglich war, Kreuzfahrten in die Karibik, nach Skandinavien, auf die Malediven und was man sich so vorstellen kann. Meine Tante hatte an der Ostsee - wie so viele Leute dort - eine sehr starke Bindung zum Meer und zu Schiffen. In ihrer Freizeit trug sie gern bunte tropische Stoffe und als Ohrringe Kreolen, was sie mit einem Grinsen besonders betonte, zu erwĂ€hnen. Wir waren zu Besuch bei ihr Ende der Neunziger Jahre, als sie mich in das Schlafzimmer rief um dann fĂŒr einen kurzen Augenblick ihre braune PerĂŒcke mit großen Locken vom Kopf zu nehmen. Darunter erschien pechschwarzes kurzes krauses Haar afrikanischer Struktur. Ich war zutiefst erschrocken und verließ das Schlafzimmer, ohne weiter nachzufragen. Sie hatte immer vorgegeben, wegen einer Hormontherapie in den Siebziger Jahren seien ihre Haare ausgefallen, nicht nachgewachsen und sie mĂŒsse fortan eine PerĂŒcke tragen. Vielmehr hat sie versucht, ihre afrikanischen Anteile zu kaschieren, die sie sehr belastet hatten. Mein Vater erwĂ€hnte einmal, dass sie beide als Kinder und Jugendliche „Neger“ und „Zigeuner“ gerufen wurden, was sie sehr belastet hat. Damit war fĂŒr ihn angesichts der erlebten Hitler- und Nachkriegszeit das Thema beendet. Meine Freunde von den Antillen meinten in den Achtziger Jahren zu mir, „tu n’es pas tellement blanche“ - und Dein Vater auch nicht, auch, was Witz und Charme anbelangte. Das war schon immer so gewesen. Die Ă€ltere Verwandtschaft raunte, wenn wir zu Besuch waren: „Sandra, du bist eine echte Willendorf.“ Ich verstand die ZusammenhĂ€nge einfach nicht, und das ĂŒber 50 Jahre.
Immer, wenn uns jemand auf unser Aussehen und Temperament ansprach, wiederholten wir das Mantra der LĂŒbecker Bucht. Diese Sache ließ mir seit dreißig Jahren keine Ruhe, ich befasste mich mit Literatur, Musik und afroamerikanischer Kultur - mein Leben lang.1 Die erste Clique, mit der ich
durch die Gegend zog, kam aus Guadeloupe, nicht sehr hĂ€ufig in Deutschland. Ich hatte sie auf einer Vernissage in Speyer kennen gelernt, auf der eine Band aus Ghana westafrikanische Rhythmen spielte. Einer der Bandmitglieder war mit mir zusammen in der Fahrschule, und ich half ihm dabei, die Theoriebögen ins Englische zu ĂŒbersetzen und dem Unterricht zu folgen. So kam ich an den Termin fĂŒr den Auftritt mit der Vernissage. An die ausgestellte Kunst kann ich mich kaum erinnern, an die Musik sehr wohl.
Ich erinnere mich an einen lauen Sommerabend Anfang der Neunziger Jahre. Ich war aus dem Studentendorf zu meinen Eltern gefahren und hatte eine neue Kassette mitgebracht, wie es so damals ĂŒblich war, von einer LP mitgeschnitten. Ich wusste, ich wĂŒrde genau den Geschmack meines Vaters treffen, und spielte ihm die Aufnahmen von Machito - 1982 and his Salsa Big Band - vor. Wir lauschten beide tief ergriffen der Musik, weinten fast und wollten noch mehr davon. Wir beide hatten eine tiefe Verbundenheit in den Moment ĂŒber die Musik fĂŒreinander, mit dem KĂŒnstler, dem, was er ausdrĂŒckte und seiner Region.
Meine Reisen, die ich noch vor dem Studium unternahm, fĂŒhrten mich nach Neapel (wo die Pionniers Noirs spĂ€ter im Einsatz waren), nach Korsika (wo ich geboren wurde) und nach Guadeloupe und Martinique. Ich erinnere mich an einen Abend, der an Kitsch kaum zu ĂŒberbieten war. Ich stand auf dem Place de la Victoire in Pointe-Ă -Pitre, Guadeloupe. Es war ein warmer Abend, der Mond im Zenit. Meine Knie schlotterten - eigentlich sogar mein ganzer Körper. Ich fĂŒhlte, dass ich eine ganz starke innere Reaktion auf diesen Ort und diesen Moment hatte, und wusste nicht warum. Meine innere Stimme sagte mir, dass sie am liebsten diesen Ort nie verlassen wĂŒrde. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass etwa 180 Jahre vorher mein Vorfahr ĂŒber diesen Platz lief oder im Fort war und am 06. Mai 1802 an dieser Stelle entwaffnet worden war.
Kaum angekommen im Studentendorf, lernte ich den Mann meines Lebens kennen, der aus Marokko stammt. Wir sind glĂŒcklich verheiratet und haben zwei heranwachsende Töchter. Es zog mich also durchgehend „Richtung SĂŒden“.
WĂ€hrend des Studiums am Romanischen Seminar musste ich einen Professor fĂŒr Sprachwissenschaft beinahe ĂŒberzeugen, eine Hausarbeit ĂŒber Kreolsprachen schreiben zu dĂŒrfen. Noch nie war ein Student freiwillig mit dieser Idee an ihn herangetreten. WĂ€hrend der knappen und durchgeplanten Zeit ließ ich es mir nicht nehmen, mich Hals ĂŒber Kopf in Maryse CondĂ© „SĂ©gou“ zu stĂŒrzen, ohne bewusst zu wissen, dass ich mich hierĂŒber mit meinen Vorfahren auseinander setzen wĂŒrde.
WĂ€hrend einer Radfernfahrt Flensburg-Garmisch-Partenkirchen 2010 war ich etwa ab dem Gebiet Kiel Richtung LĂŒbeck und Hamburg emotional völlig außer Rand und Band, auch im Gebiet Ostholstein. Ich wusste damals nur, dass ich vĂ€terlicherseits Vorfahren in Rahlstedt und LĂŒbeck hatte und mĂŒtterlicherseits in Hamburg Vierlande. Wir kamen ĂŒber Wilhelmsburg nach Hoopte mit dem Blick auf das FĂ€hrhaus Zollenspieker, wo meine Eltern 1966 geheiratet hatten. Sehr wahrscheinlich hat mein Vorfahre im August 1805 hier ĂŒbergesetzt.
Ende 2017 bekam ich ĂŒber eine Werbung mit, dass es die Möglichkeit gab, DNA-Analysen machen...

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