Abbildung 1: »Vitruvianischer Mensch« von Leonardo da Vinci, ca. 1490
Diese Zeichnung von Leonardo da Vinci zeigt die einen Menschen mit idealisierten Proportionen. Die Abbildung wird als vitruvianischer Mensch bezeichnet, da die vorgenommene Idealisierung von Formen und Proportionen sich an Vorstellungen des antiken Architekten Vitruvius orientiert. Die Autorinnen und Autoren assoziieren mit dem Bild, dass durch Menschen sowohl eine biologische, als auch eine technische Dimension sichtbar wird. So sind Menschen einerseits biologische Wesen, andererseits aber auch die schöpferische Quelle fĂŒr Technik.
»I think the biggest innovations of the twenty-first century will be the intersection of biology and technology. A new era is beginning, just like the digital oneâŠÂ«2, Steve Jobs (Isaacson 2011).
»Kommen technische Innovationen zukĂŒnftig hauptsĂ€chlich aus der Biologie?« Glaubt man dem Unternehmer Steve Jobs, der als GrĂŒnder des Unternehmens »Apple« einer der bekanntesten Pioniere der digitalen Entwicklung war und den Ruf eines VisionĂ€rs innehatte, sind aus der Biologie zukĂŒnftig technische Entwicklungen zu erwarten, die von groĂer Bedeutung fĂŒr unser Leben sein werden. Aber hat Steve Jobs mit seiner Prognose recht, dass biologische Innovationen sogar mit der digitalen Revolution vergleichbar sind und eine neue Ăra prĂ€gen werden? Auf den ersten Blick verwundert seine Prognose doch sehr. Waren es in der Vergangenheit nicht ĂŒberwiegend Erkenntnisse aus der Physik oder Chemie, die die naturwissenschaftlichen Grundlagen fĂŒr technische Entwicklungen lieferten, wĂ€hrend Innovationen aus dem Bereich der Biologie seltener waren und viel spĂ€ter einsetzten? Handelte es sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als physikalische und chemische Forschungen bereits technische Entwicklungen wie die Dampfmaschine oder elektrische Anlagen ermöglichten, bei der »Lebenswissenschaft Biologie« nicht noch um eine eher beschreibend und naturphilosophisch arbeitende Wissenschaft ohne erkennbares technisches Entwicklungspotenzial? Die InnovationsfĂ€higkeit, die Steve Jobs der Biologie heute zuspricht, muss deshalb mit einer Entwicklung zusammenhĂ€ngen, durch die die Biologie zu einer experimentell arbeitenden Naturwissenschaft mit vielen Teildisziplinen (Ingensiep 1997) wurde, was auch das Entstehen angewandter Richtungen3 ermöglichte.
Doch auch wenn sich mithilfe einer angewandten biologischen Forschung neue Technologien entwickeln lassen â fĂŒhren diese wirklich zu Innovationen, die mit der digitalen Revolution vergleichbar sind? Bei der Beantwortung dieser Frage lohnt sich erneut ein Blick auf das Zitat von Steve Jobs, der die von ihm erwarteten Innovationen nicht der Biologie als Einzelwissenschaft zuschreibt, sondern eine Verbindung (»intersection«) von Biologie und Technik als treibende Kraft fĂŒr Innovationen annimmt. Erst die Verbindung aus Biologie und Technik, so lĂ€sst sich aus dem Zitat schlieĂen, fĂŒhrt zu Entwicklungen, die mit den Innovationen im digitalen Bereich vergleichbar sind. Worum es sich bei einem solchen Zusammenwachsen von Biologie und Technik handeln kann, lĂ€sst sich anhand eines Beispiels erahnen, das in einem Sammelwerk der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft (Spektrum der Wissenschaft 2015), das den gar nicht biologisch klingenden Titel »Roboter« trĂ€gt, aufgefĂŒhrt ist. Dort wird u. a. die Entwicklung eines Mikroroboters beschrieben, der aus biologischen und anorganischen Bestandteilen besteht (Dönges 2015). Bei den biologischen Komponenten handelt es sich um Muskelzellen, durch die der Roboter bewegt werden kann.
Konzepte, die auf einer Interaktion zwischen Biologie und Technik aufbauen, sind jedoch nicht vollkommen neu. Neben bionischen Konzepten, die u. a. Material- und Formeigenschaften aus der Natur auf technische Anwendungen ĂŒbertragen, ist in diesem Zusammenhang auch eine von den Vereinigten Staaten ausgehende Debatte um konvergierende Technologien (»Converging Technologies«) zu nennen, die auf eine als »NBIC-Konvergenz«4 bezeichnete Wechselwirkung zwischen den Themengebieten Nano-, Bio- und Informationstechnik und Kognitionswissenschaft abzielt. Die Debatte zur NBIC-Konvergenz (Roco 2003; Coenen 2008) wird etwa seit Beginn des 21. Jahrhunderts kontrovers gefĂŒhrt, da vor allem die formulierten gesellschaftlichen und humanen Visionen, die sich auf technologische VerĂ€nderungen von Menschen beziehen, zu Recht erheblichen Widerspruch hervorrufen (siehe Exkurs 1). Auch ein im Auftrag der EuropĂ€ischen Union erstellter Expertenbericht nimmt Bezug auf eine mögliche NBIC-Konvergenz (Nordmann 2004), ohne sich dabei aber die umstrittenen gesellschaftlichen und humanen Visionen zu eigen zu machen.
In der deutschen Wissenschaftsszene und Forschungspolitik hat das Interesse an einer biologischen Technik unter Anwendung der Begriffe »Biologisierung« oder »Biologische Transformation« in den letzten Jahren zugenommen. So erwartet der PrĂ€sident der Fraunhofer-Gesellschaft, Reimund Neugebauer, eine »Biologisierung der Industrie«, die dadurch gekennzeichnet sein wird, dass sich Biologie und Technik immer mehr »verzahnen« (Neugebauer 2017). Eine solche Biologisierung sprach auch die ehemalige Bundesforschungsministerin Johanna Wanka auf einem Innovationsdialog5 zum Thema Biotechnologie an, auf dem sie eine »Agenda Biologisierung« in Aussicht stellte, die die Forschungsprogramme der Bundesregierung zukĂŒnftig wesentlich bestimmen soll (bioökonomie.de 2017). SpĂ€testens seit dieser AnkĂŒndigung haben die Begriffe »biologische Transformation« und »Biologisierung« einen forschungspolitischen Charakter, sodass es nicht verwunderlich ist, dass das Thema auch in den aktuellen Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD aufgenommen wurde. Im Koalitionsvertrag heiĂt es: »Wir werden die Nutzung von Prinzipien der Natur vorantreiben und eine ressortĂŒbergreifende Agenda âČVon der Biologie zur InnovationâČ gemeinsam mit Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft erarbeiten« ((CDU, CSU, SPD 2018), S. 35). Zur Vorbereitung dieser Agenda, die den Titel »Von der Biologie zur Innovation« tragen soll, erfolgte inzwischen auch eine durch die Fraunhofer-Gesellschaft im Auftrag des Ministeriums fĂŒr Bildung und Forschung durchgefĂŒhrte Voruntersuchung, die die industrielle Wertschöpfung potenzieller biologischer Transformationen bewerten sollte. Die Ergebnisse der Voruntersuchung wurden auf zwei Konferenzen im Juni 2018 der Ăffentlichkeit vorgestellt (Fraunhofer-Gesellschaft 2018b, 2018a).
Auch wenn auf den genannten Konferenzen erste AnsĂ€tze zur Definition biologischer Transformationen erfolgten, sind die zu erwartenden Auswirkungen dieser Transformationen immer noch eine offene Frage. Ohne einer notwendigen Diskussion zu diesem Thema vorgreifen zu wollen, geht jedoch aus den BeitrĂ€gen der o. g. Konferenzen hervor, dass die Teilnehmer einer Ăbertragung von biologischen Prinzipien auf technische, wirtschaftliche und soziale Bereiche das Potenzial zusprechen, umfassende VerĂ€nderungen anzustoĂen, deren Wesen und Auswirkungen heute noch nicht zu ĂŒberblicken sind. Zur Untersuchung dieser Aspekte werden deshalb, obwohl es sich bei der Biologie um eine Naturwissenschaft handelt, nicht nur die Ingenieur- oder Naturwissenschaften benötigt, sondern eine Reihe sehr unterschiedlicher Disziplinen, zu denen auch die Kultur- und Formalwissenschaften zĂ€hlen.6 Vor allem mit Blick auf gesellschaftliche und wirtschaftliche ZusammenhĂ€nge lassen sich so weitere Erkenntnisse zu biologischen Transformationen gewinnen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es ein wesentliches Merkmal der Wissenschaften ist, dass sie thematisch fokussiert sind und jeweils eine spezifische Methodik anwenden. Auch wenn sie, wie Carl Friedrich von WeizsĂ€cker schreibt (Zitat 1), dieser Fokussierung ihren Erfolg verdanken, schrĂ€nkt sie sie zugleich aber auch in ihren Erkenntnismöglichkeiten ein, da etwas, das auĂerhalb der thematischen und methodischen Grenzen liegt, nicht in Betracht gezogen werden kann.7 Diese BeschrĂ€nkung hat zur Folge, dass eine Transformation als »Ganzes« sowie das, was die Transformation eigentlich ausmacht, von keiner Einzelwissenschaft abgebildet werden kann. Zwar lassen sich Erkenntnisteile aus einzelnen Wissenschaften durch interdisziplinĂ€re Herangehensweisen möglicherweise zu einem gröĂeren Bild zusammensetzen, der Blick auf das Ganze erschlieĂt sich so jedoch nicht. Die von den einzelnen Wissenschaften erschlossenen Teile können nur zu einem sinnvollen Ganzen zusammengesetzt werden, wenn zumindest eine Vorstellung darĂŒber existiert, was das eigentliche Wesen dieses Ganzen denn ausmacht. So schwierig es ist, dieses Ganze in den Blick zu nehmen, so wichtig ist es fĂŒr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, kontinuierlich den Versuch hierzu zu unternehmen, wie schon Erwin Schrödinger, einer der BegrĂŒnder der Quantentheorie, im Vorwort seines Buches »Was ist Leben?« bemerkt ((Schrödinger 1989), S. 29 f., Zitat 2). Schrödinger versucht seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden, in dem er sich als Physiker zu dem eigentlich anderen Wissenschaftsdisziplinen vorbehaltenen »PhĂ€nomen Leben« Ă€uĂert. Er scheut sich dabei nicht, auch philosophische Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Textes sprechen sich deshalb dafĂŒr aus, neben einzelwissenschaftlichen Aspekten auch philosophisches Denken in die Entwicklung und Bewertung biologisch-technischer Transformationen einzubeziehen. Sie sind davon ĂŒberzeugt, dass das, was wir ĂŒber Welt, Lebewesen, Technik, Menschen und uns selbst denken, z. B. Beispiel unsere jeweilige Vorstellung von Natur, auch unseren Umgang mit biologischen Transformationen prĂ€gen wird. Umgekehrt wird auch die Art, wie wir mit einer biologischen Transformation umgehen, unser Denken nicht unbeeinflusst lassen.
Der vorliegende Text ist als Versuch zu verstehen, verschiedene Aspekte in die aktuellen Diskussionen um biologische Transformationen einzubeziehen. Hierzu erfolgt zunĂ€chst eine Spezifizierung der Begriffe »Biologische Transformation« und »Biologisierung« in Kapitel 1.2, eine Strukturierung der damit verbundenen Technikfelder in Kapitel 1.4 und eine erste Bewertung verschiedener Transformationen in Kapitel 1.5. AnschlieĂend werden in Kapitel 3 spezifische Wesensmerkmale von Lebewesen und in Kapitel 4 von technischen Artefakten und Verfahren herausgearbeitet. Beide werden in Kapitel 2 und 5 miteinander in Beziehung gesetzt. In Kapitel 5 werden dabei auch unterschiedliche biologische Transformationen betrachtet. In Kapitel 6 sprechen sich die Autorinnen und Autoren fĂŒr die BerĂŒcksichtigung ethischer Aspekte aus.
Die Autorinnen und Autoren und dieses Textes sind in einem ingenieurwissenschaftlichen Umfeld tĂ€tig. Ihnen ist bewusst, dass sie den Themenkomplex »Biologische Transformationen« nicht in allen seinen fachlichen Aspekten umfassend darstellen können. Trotzdem orientieren sie sich an der Aufforderung Erwin Schrödingers, ĂŒber die eigenen Fachdisz...