GlĂŒck und Lebenszufriedenheit fĂŒr Menschen mit Autismus
Lange Zeit hat man ausschlieĂlich Anpassung und »FunktionsfĂ€higkeit« in Schule oder Beruf als Ziele bei der Arbeit mit autistischen Menschen angesehen, und auch die diagnostischen Kriterien sind angelegt auf das Funktionieren (oder eben Nicht-Funktionieren) in definierten Bereichen. Wie man auf bestimmten Gebieten zurechtkommt, sagt aber noch nichts darĂŒber aus, ob einem selbst diese Bereiche auch wichtig sind und notwendig dafĂŒr, dass man sich gut fĂŒhlt. LebensqualitĂ€t ist nicht FunktionalitĂ€t, und das mehr oder weniger gute Funktionieren in bestimmten Bereichen kann, muss aber nicht die eigene Lebenszufriedenheit einschrĂ€nken (vgl. Osterrieder 2010, 134).
Menschen mit Autismus zeigen sich oft unzufrieden mit ihrer Lebenswirklichkeit (Rickert-Bolg 2014, Gomolla 2002). WĂ€hrend Betroffene mit Asperger-Syndrom hĂ€ufig direkt benennen können, was ihnen guttut, sind Menschen mit frĂŒhkindlichem Autismus dazu oft nicht in der Lage. Aber auch sie möchten glĂŒcklich sein und ihr Leben genieĂen können, und zahlreiche Beispiele von Betroffenen, denen es gelingt, sich gröĂtenteils mit dem Leben zu arrangieren, zeigen inzwischen, dass mit der richtigen UnterstĂŒtzung das Leben auch fĂŒr autistische Menschen gelingen kann.
DafĂŒr ist es notwendig, jeden einzelnen Menschen selbst zu befragen nach seinen ganz eigenen WĂŒnschen, TrĂ€umen und Zielen, die sich manchmal deutlich von denen anderer Leute unterscheiden und die von der Umgebung nicht immer richtig eingeschĂ€tzt werden können.
Bislang gibt es nur wenige Publikationen, die sich in einer ersten Auseinandersetzung mit dem Themenbereich GlĂŒck, Lebenszufriedenheit bzw. LebensqualitĂ€t bei Autismus beschĂ€ftigen. Gomolla (2002) befragte nur eine sehr kleine Stichprobe von zehn Personen in Deutschland und ermittelte nur geringe Zufriedenheitswerte der Betroffenen. Weitere Veröffentlichungen sind sicher notwendig, um einerseits fĂŒr das Thema GlĂŒck im Zusammenhang mit Autismus zu sensibilisieren, andererseits aber auch Anregungen zu geben, wie dieses GlĂŒck und diese Lebenszufriedenheit ganz konkret fĂŒr Menschen mit Autismus aussehen können.
Sehr wichtig ist dabei vor allem die Feststellung, dass sich das eigene GlĂŒck und Wohlbefinden positiv beeinflussen lassen. Diese FĂ€higkeit kann man erlernen, und dies sollte auch ein Ansatz fĂŒr autistische Menschen sein.
Was ist den betroffenen Menschen selbst wichtig?
Allgemeine Faktoren, die fĂŒr das GlĂŒck förderlich sind, wurden bereits im Kapitel »EinfĂŒhrung« beschrieben. Sie gelten natĂŒrlich fĂŒr alle Menschen und fĂŒr alle Bevölkerungsschichten.
Allerdings sind alle Menschen verschieden, und auch bei Menschen mit Autismus gibt es neben vielen Gemeinsamkeiten noch viel mehr Unterschiede. Deshalb ist es wichtig, auch die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen und sie nach ihren WĂŒnschen und Vorstellungen zu befragen.
Wenn man sich ansieht, was sich autistische Menschen fĂŒr ihr Leben erhoffen, so bemerkt man noch weitere Dimensionen, die in der allgemeinen GlĂŒcksforschung nicht oder nur am Rande auftauchen und die sich aus den ganz spezifischen AuffĂ€lligkeiten der Betroffenen ergeben (Gawronski et al. 2012, PreiĂmann 2007). So hat man ermittelt, dass die meisten erwachsenen Menschen mit Autismus
sich Hilfe erhoffen beim Umgang mit Stress (dieser Punkt war ihnen besonders wichtig und wurde mit groĂem Abstand am hĂ€ufigsten genannt)
den Bereich der sozialen Interaktion sehr wichtig finden, v. a. im Hinblick auf Freundschaft oder Partnerschaft, und sich hier UnterstĂŒtzung erhoffen
Hilfe beim Umgang mit Emotionen nötig finden, das betrifft die eigenen GefĂŒhle ebenso wie die anderer Menschen
es besonders wichtig finden, die psychischen Begleiterkrankungen in den Griff zu bekommen, hier spielen vor allem Depressionen und Ăngste eine groĂe Rolle
die ganz praktische Hilfe bei den Anforderungen des Alltags wichtig finden
sich eine Arbeits- und Wohnsituation erhoffen, die ihnen eine gröĂtmögliche SelbststĂ€ndigkeit, Struktur und Freiheit gleichermaĂen bietet
sich UnterstĂŒtzung wĂŒnschen im Hinblick auf die eigene IdentitĂ€t.
Diese Aspekte sollen nachfolgend nĂ€her erlĂ€utert und jeweils ergĂ€nzt werden durch hilfreiche MaĂnahmen.
Stress und Entspannung
Menschen mit Autismus fĂŒhlen sich in allen Lebensbereichen ganz erheblichem Stress ausgesetzt. Lange Zeit wurde das nicht als Problem erkannt, und erst allmĂ€hlich beginnt man, sich im Zusammenhang mit Autismus auch mit den Themen Stress und Entspannung zu beschĂ€ftigen.
Was ein Mensch als stressig empfindet, ist individuell unterschiedlich: Arbeiten unter Zeitdruck, hoher Leistungsdruck, Fremdbestimmung, ExistenzÀngste, Familien- oder Partnerschaftskonflikte, Schmerzen oder Traumata gehören dazu.
Bei autistischen Menschen aber kommen neben diesen allgemeinen Stressauslösern noch andere hinzu, die fĂŒr die meisten anderen Menschen keine so groĂe Rolle spielen. Die Betroffenen sind ja nahezu pausenlos gezwungen, menschliches Verhalten und soziale Situationen zu analysieren und die notwendigen »richtigen« Verhaltensweisen auszuwĂ€hlen. Vor allem der Kontakt zu anderen Menschen bedeutet daher immer wieder eine groĂe Anstrengung, wenngleich die Betroffenen sich ein Zusammensein oft sehr wĂŒnschen.
Weitere hÀufige Stressauslöser bei Menschen mit Autismus sind z. B.:
UnverstÀndnis und HÀnseleien seitens der Umgebung
eine ungĂŒnstige Arbeitssituation mit oft nicht angemessenen Arbeitsinhalten und fehlender UnterstĂŒtzung
nach wie vor unzureichende psychosoziale Hilfen insbesondere fĂŒr erwachsene Betroffene
ungĂŒnstige gesellschaftliche VerĂ€nderungen und Erwartungen
die zunehmende Verdichtung von Sinnesreizen auch in der Freizeit
die speziellen Persönlichkeitsmerkmale autistischer Menschen
VerÀnderungen jeder Art, alles Unerwartete und Unvorhergesehene
fehlende Struktur oder fehlende Informationen in Schule, Beruf und Alltag.
Stress durch Unerwartetes, VerÀnderungen und fehlende Selbstbestimmung
Die schlimmsten und folgenreichsten Stressauslöser sind in der Regel die Situationen, auf die man (tatsĂ€chlich oder vermeintlich) keinen Einfluss hat. Menschen werden immer dann mutlos, wenn sie das GefĂŒhl haben, dass ihre eigenen Entscheidungen irrelevant fĂŒr den Lauf ihres Schicksals sind. Wem es an Selbstbestimmung fehlt, der gerĂ€t in gesundheitlichen Stress.
Es ist also wichtig, selbst aktiv zu werden, das eigene Leben im Rahmen der persönlichen Voraussetzungen selbst in die Hand zu nehmen und Verantwortung dafĂŒr zu ĂŒbernehmen. Auch Menschen mit Autismus sollten die Möglichkeit haben, aktiv an der Gestaltung ihres Lebens mitzuwirken. Man muss sie nach ihren WĂŒnschen und BedĂŒrfnissen befragen und ihnen dann helfen, ihre Ziele zu verwirklichen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, Klarheit zu gewinnen ĂŒber die eigenen Begabungen â einschlieĂlich ihrer Grenzen â und das eigene Leben auf der Grundlage einer realistischen SelbsteinschĂ€tzung zu gestalten.
Ein solch aktives Vorgehen bietet auĂerdem Schutz und Sicherheit, denn es verringert die HĂ€ufigkeit der Situationen, in denen die Betroffenen mit Unerwartetem konfrontiert werden. Alles, was man selbst bestimmen und selbst kontrollieren kann, wirkt deutlich weniger bedrohlich und viel weniger anstrengend. Man tut autistischen Menschen also keinen Gefallen, wenn man alles ohne ihr Zutun fĂŒr sie regelt â ganz im Gegenteil, man verschafft ihnen zusĂ€tzlichen Stress. Das heiĂt aber natĂŒrlich nicht, dass man sie vollkommen sich selbst ĂŒberlassen darf. Es ist wichtig, sie ihre Entscheidungen fĂ€llen und eigene Erfahrungen machen zu lassen, auch dann, wenn der Weg vielleicht zunĂ€chst nicht richtig zu sein scheint. Auch autistische Menschen können sehr viel aus Fehlern lernen. Aber es ist genauso notwendig, sie dabei zu begleiten und ihnen notfalls auch zu helfen, die Entscheidungen, die sich als ungĂŒnstig herausgestellt haben, zu korrigieren.
Freiheit und Selbstbestimmung beschreiben auch zahlreiche Autoren in diesem Buch als sehr wesentlich fĂŒr ihr Wohlbefinden. Sie wĂŒnschen sich, die Dinge tun zu können, die sie auch wirklich tun möchten. Die Arbeit mit autistischen Menschen muss sich daher noch stĂ€rker als bisher am Einzelnen ausrichten. Sie muss den Betroffenen die Möglichkeit bieten, aktiv mitzubestimmen, was fĂŒr sie wichtig ist, welche Ziele sie haben, welche Lebenswege sie verfolgen möchten. DafĂŒr ist es oft nötig, ihnen die Möglichkeiten aufzuzeigen und zu helfen, eine realistische Auswahl zu treffen. Eine solche individualisierte UnterstĂŒtzung auch abseits vorgefertigter Strukturen ist eine Herausforderung fĂŒr alle, die mit autistischen Menschen leben oder arbeiten, aber auch eine sehr befriedigende Aufgabe. Denn nur auf diese Weise sind GlĂŒck und Lebensfreude in jedem Einzelfall möglich.
AuĂerdem sind aber auch Sicherheit und StabilitĂ€t in allen Lebensbereichen wichtige Voraussetzungen fĂŒr menschliches Wohlbefinden, und fĂŒr Menschen mit Autismus gilt das ganz besonders. Auch aus diesem Grund tragen eine gute Ausbildung und eine sichere Arbeitsstelle, eine glĂŒckliche Partnerschaft, eine angemessene Wohnsituation mit einem sicheren Lebensumfeld, finanzielle StabilitĂ€t, gute Gesundheit, aber auch ein spirituelles oder religiöses Leben zum ganz persönlichen GlĂŒck bei (u. a. Bormans 2012). Die schnelllebige moderne Welt macht dieses Empfinden von GlĂŒck und Lebenszufriedenheit fĂŒr autistische Menschen nicht einfach, da es natĂŒrlich immer wieder auch in ihrem Leben VerĂ€nderungen und unvorhersehbare Ereignisse gibt.
Rödler beschreibt die VerĂ€nderungsangst von Menschen mit Autismus und die resultierende Notwendigkeit zur Gleicherhaltung der Umwelt als das zentrale Merkmal autistischen Verhaltens (Rödler 2014, 379). Es ist also wichtig, die Betroffenen in VerĂ€nderungs- und Umbruchzeiten ganz besonders eng zu begleiten, denn diese stellen oft Krisenzeiten dar. Wann immer das möglich ist, sollte man die gewohnte Routine nicht unnötig oft durchbrechen oder zumindest geplante VerĂ€nderungen rechtzeitig ankĂŒndigen. Auch autistische Menschen sind (manchmal mit UnterstĂŒtzung) oft dann in der Lage, sich auf Variationen einzustellen, wenn sie die Möglichkeit haben, die VerĂ€nderungen in ihrem ganz eigenen Tempo zu bewĂ€ltigen, wenn sie deren Sinn verstehen und im Vorfeld möglichst viele Kenntnisse darĂŒber haben. Unwissenheit macht Stress, Wissen und Informationen dagegen mindern den Stress. Meetje Margret Witte, eine der Autorinnen dieses Bu...