Forensische Psychiatrie interdisziplinÀr
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Forensische Psychiatrie interdisziplinÀr

Manuela Dudeck, Matthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus JĂ€ger

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  1. 143 pages
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Forensische Psychiatrie interdisziplinÀr

Manuela Dudeck, Matthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus JĂ€ger

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Die Forensische Psychiatrie befindet sich sowohl als klinisches Fach wie auch als Wissenschaft in der Schnittmenge zahlreicher Disziplinen. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen zudem Emotionen bis hin zur "Faszination fĂŒr das Böse" eine zentrale Rolle - eine Perspektive, die nicht selten in der Öffentlichkeit auch von Experten des Faches vertreten wird. FĂŒr ein umfassendes VerstĂ€ndnis sind aber neben fundiertem psychologischem und psychiatrischem Wissen auch Kenntnisse aus Soziologie, Kriminologie und Philosophie sowie deren Einordung in den jeweiligen historischen Kontext erforderlich. Die Begutachtung und die Behandlung von StraftĂ€tern mit zum Teil schweren psychiatrisch relevanten Erkrankungen erfordern einen klugen und sensiblen Umgang mit dem Thema - das Buch hilft dabei, diesen zu ermöglichen.

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Informations

Année
2021
ISBN
9783170337343
Édition
1

1          Einleitung

»Menschsein ist Menschwerden.« (Karl Jaspers, 1953)
»Mit der Erkenntnis wÀchst der Schmerz.« (Einar Schleef, 1997)
Forensische Psychiatrie befindet sich sowohl als klinisches Fach wie auch als Wissenschaft in der Schnittmenge zahlreicher Disziplinen. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen zudem Emotionen bis hin zur »Faszination fĂŒr das Böse« eine zentrale Rolle – eine Perspektive, die nicht selten in der Öffentlichkeit auch von Experten des Faches vertreten wird. Wie keine andere Wissenschaft wird die Forensische Psychiatrie mit dem Bösen als Objekt der offenen Anziehung in Verbindung gebracht und bringt so die Lust des Einzelnen an der Überschreitung zutage. WĂ€hrend das Gute aufgrund seiner UnauffĂ€lligkeit und NatĂŒrlichkeit fast den Eindruck des Belanglosen erweckt, vermag das Böse sofort jegliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn das Gute nun bestimmt und Vorbildfunktion hat, obwohl es nicht anzieht, ist die Frage, woher das Böse seine Attraktion und Anziehungskraft bezieht. Das können Gefahr, Wagemut und ganz banal MachtbedĂŒrfnisse sein, die in ihren Extremen in einer Zivilgesellschaft nicht vorkommen dĂŒrfen. Anscheinend entsteht das Böse in Kombination mit einigen TodsĂŒnden wie z. B. einem maßlosen Wollen, welches im Wollen des Guten keine Befriedigung findet, nicht weil das Tun des Guten unspektakulĂ€r ist, sondern weil es sich Regeln verpflichtet muss, die gemeinschaftsbildend sind und fĂŒr jeden Einzelnen ungesehen seiner individuellen Besonderheit gelten. Wer nach dem Bösen strebt, möchte etwas Aufsehenerregendes leisten und selbst unverwechselbar sein und bleiben. Konkret kann es ein Querdenker und Individualist sein, der seine Umwelt und seine Mitmenschen als Experimentierfeld fĂŒr seine besonderen Interessen und Neigungen benutzt, ohne sich um die Folgen fĂŒr die Mitmenschen Gedanken zu machen. Diese sind nur das Agens, um ein außergewöhnliches Ziel durchzusetzen (Pieper 2019). Die antiken Philosophen waren bereits mit diesem Thema beschĂ€ftigt, fĂŒr sie kam nur der Mensch als Ursache des Bösen infrage, der irgendwie aus der kosmischen Ordnung herausgefallen war und dabei die Orientierung verloren hatte (ebd.). Wenngleich nun alle wissenschaftlichen Studien versuchen, bei psychisch kranken StraftĂ€tern morphologische Besonderheiten des Gehirns oder Gendefekte nachzuweisen, sind diese aus philosophischer Sicht ein Ausdruck von einer gewissen Hilflosigkeit, mit welcher die Gesellschaft und im Speziellen die forensischen Wissenschaften reagieren, die kollektiven Normen und Werte, aufrechtzuerhalten und das Böse selbst als etwas Besonderes zu charakterisieren. Denn am Ende ist und bleibt das Böse ein Willensakt des Menschen.
Um aber ein umfassendes VerstĂ€ndnis dafĂŒr und fĂŒr das Fach und seine Grenzen zu entwickeln, sind neben fundiertem psychologischen und psychiatrischen Wissen auch Kenntnisse aus Soziologie, Biologie, Kriminologie, Philosophie, Ethik und nicht zuletzt auch eine Einordung in den jeweiligen historischen Kontext erforderlich. Wie auch in allen anderen Fachrichtungen lassen sich die großen Fragen nur mit einem Blick in die Vergangenheit beantworten. Wer sich mit dem Gebiet der Forensischen Psychiatrie fachlich auseinandersetzen möchte, muss bereit sein, sich mit der KomplexitĂ€t aber auch der Perversion der menschlichen Existenz beschĂ€ftigen zu wollen, ohne seiner eigenen Neugier zu erliegen. Die Forensische Psychiatrie unterliegt wie alle anderen Wissenschaften einer stĂ€ndigen VerĂ€nderung durch zunehmende ForschungsbemĂŒhungen, aber auch durch einen sich stetig Ă€ndernden politischen und juristischen Bezugsrahmen in einer Demokratie. In den vergangenen zehn Jahren haben vielfache Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes dazu gefĂŒhrt, dass aus der Neufassung des Gesetzes ĂŒber die Hilfen psychisch Kranker ein eigenstĂ€ndiges Maßregelvollzugsgesetz auf LĂ€nderebene hervorgegangen ist. Auf verschiedenen Rechtsebenen bekam die Zwangsbehandlung eine juristische Grundlage und die Rechte von Maßregelpatienten wurden gerade hinsichtlich AufklĂ€rung und insbesondere Rehabilitation gestĂ€rkt. DarĂŒber hinaus haben die ReformbemĂŒhungen zur VerĂ€nderung des § 63 StGB gefĂŒhrt und eine Reform des § 64 StGB darf erwartet werden. Die InterdisziplinĂ€re Task-Force der DGPPN hat 2017 erstmals Standards fĂŒr die Behandlung im Maßregelvollzug nach §§ 63 und 64 StGB formuliert und zeigen können, dass Forensische Psychiatrie viel mehr ist als nur Begutachtung, sondern die gesamte Behandlungsstrecke von der Begutachtung ĂŒber die Therapie bis hin zur Rehabilitation psychisch kranker StraftĂ€ter abbilden kann. Durch den Resozialisierungsanspruch der Maßregelpatienten gibt es ein deutliches Umdenken auf psychotherapeutischer Ebene und es werden Behandlungsmodule aus etablierten Psychotherapieverfahren in die Maßregelvollzugsbehandlung integriert, sodass sich das Fach zu Recht um den Begriff der Psychotherapie erweitert hat. Durch die geschilderte rasante Entwicklung lohnt sich der historische Blick in die Menschheitsgeschichte umso mehr, da es zu allen Zeiten die Idee gab, psychisch kranke StraftĂ€ter zu entschulden und zu behandeln. Die Begutachtung und die Behandlung von StraftĂ€tern mit zum Teil schweren psychiatrisch relevanten Erkrankungen erfordern einen klugen und sensiblen Umgang mit dem Thema und das Buch mag helfen, das zu ermöglichen. Wenngleich das Inhaltsverzeichnis eine detaillierte BeschĂ€ftigung mit allen die forensische Psychiatrie betreffenden Fragen verspricht, können es nur DenkanstĂ¶ĂŸe und AnnĂ€herungen sein, die zur Vertiefung des Themas einladen.

2 Kann menschliches Verhalten unmenschlich sein?

2.1 Das Menschenbild

Das grĂ¶ĂŸte Geheimnis ist wohl das, wer wir Menschen sind. Dieses zu entschlĂŒsseln, war zu jeder Zeit Ziel der Philosophen. Schon in der Antike war ĂŒber dem Orakelheiligtum in Delphi, dem ehemaligen Tempel Apollos, der prĂ€gnante Aufruf »Erkenne Dich selbst!« fĂŒr alle sichtbar zu lesen.
Menschen haben die FĂ€higkeit, sich in der Zeit und dem sie umgebenden Raum zu betrachten, ĂŒber sich nachzudenken und ihre Überlegungen in Worte zu fassen. So entstehen die Fragen nach dem Sinn des Lebens und ob es ein ubiquitĂ€r geltendes Menschenbild geben kann. Aussagen ĂŒber den Menschen finden sich in allen sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen FĂ€chern. Auch die Humanmedizin ist nach der EntschlĂŒsselung der DNA bestrebt, den »glĂ€sernen Menschen«, d. h. ein physisch exaktes Abbild eines jeden Einzelnen, darzustellen. Ob das aber den subjektiv geprĂ€gten Begriff des Menschen objektivieren kann, mag dahingestellt sein. Bis heute gibt es kein tiefergehendes gemeinsames VerstĂ€ndnis darĂŒber, was genau nun das Menschenbild ist. Die Diskussionen darĂŒber werden immer dann forciert, wenn aggressive Auseinandersetzungen wie Genozide, Kriege, TerroranschlĂ€ge und/oder besonders als grausam bewertete Einzeltaten von Menschen die Menschen erschrecken. Darauf folgt in der Regel die Klassifizierung der/des TĂ€ters in menschlich oder unmenschlich. Primo Levi stellte 1947 in der Beschreibung seiner Erlebnisse im Holocaust die Frage: »Ist das ein Mensch?«. FĂŒr den forensischen Psychiater Hans-Ludwig Kröber ist das Töten in der menschlichen Natur verankert. Die Akzeptanz dieses Faktes wĂŒrde aus seiner Sicht Gewalt verhindern können (Kröber 2012).
Die Konzepte zur menschlichen Natur sind so vielfĂ€ltig wie die Menschen selbst. Wer aber versucht, alle Bestimmungen, die ihn ausmachen, zusammenzutragen, geht an vielem, was ihn ausmacht, vorbei. Allerdings scheint eine historisch-kulturelle Begriffsbestimmung unumgĂ€nglich, da Menschen zum einen in einer natĂŒrlichen, aber auch von ihnen geschaffenen kulturellen Umwelt leben. So sind sie durch sich selbst mit der Aufforderung konfrontiert, sich zu bestimmen. Die Antworten erfolgen in der Regel aus einer immer spezifischer werdenden Perspektive und sind z. B. von religiösen Überzeugungen und Vorstellungen, die sich in Kunstwerken widerspiegeln, beeinflusst. Karl Jaspers (1965, S. 57) merkt Folgendes dazu an: »Wir tragen Bilder vom Menschen in uns und wissen von Bildern, die in der Geschichte gegolten und gefĂŒhrt haben. Der Kampf der Menschenbilder geht in uns um uns selbst. Wir haben Abneigung gegen und Neigung zu Bildern, die uns in einem Menschen begegnen. An ihnen orientieren wir uns wie an Vorbildern und Gegenbildern.« Daneben orientieren sich die Antworten auch an Grundregeln des Zusammenlebens, die wiederum den Alltag des Menschen bestimmen und diesem erst Gestalt verleihen. Deshalb greift eine alleinige Definition des Menschenbildes zu kurz und muss um die Beantwortung der Frage »Wie ist menschliches Leben richtig zu gestalten?« erweitert werden. Denn die Ausrichtung am Richtigen im Sinne des Wahren, Guten und Schönen darf nicht vernachlĂ€ssigt werden, wenngleich das allein ebenfalls nicht ausreichend scheint. GrundsĂ€tzlich bringt uns die Frage »Was ist der Mensch?« in eine Distanz zu uns, die es uns ermöglicht, Selbstkritik im Sinne von Vernunft zu ĂŒben und so dem Menschenbild nahe zu kommen, da sich Menschen in der Zeit immer wieder in anderer Weise zu verstehen vermögen. Eine starre Begriffsbestimmung scheint der Dynamik des Menschseins nicht wirklich gerecht zu werden. Menschen stehen immer aufs Neue vor der Aufgabe, wie sie sich verstehen und wer sie dadurch sind. Sie bestimmen in unterschiedlicher, aber praktischer Weise, was ihnen wichtig ist und etablieren so VerstĂ€ndnisse von sich selbst, an die sie sich binden. Damit ist der Mensch ein Wesen, das vor der Aufgabe steht, sich selbstkritisch zu gestalten und sich so immer wieder von Bestimmtheiten zu lösen, aber in Beziehung zu sich selbst zu gehen und zu bleiben. Wichtig ist jedoch, dass der Mensch sich zu seinem Tiersein verhalten muss und sich entsprechend sowohl als Tier als auch als Nicht-Tier begreifen kann. Hinzu muss die Vernunft als Praxis der Öffnung gedacht werden, die Fixierungen und Stillstand vermeidet. Nur so können Menschen ihre Freiheit gestalten, indem sie sich Regeln setzen, in denen grĂ¶ĂŸtmögliche Freiheitsgrade gelebt werden können (Bertram 2018). Genau das also, was bereits in der Zeit der AufklĂ€rung propagiert wurde und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) im Gesellschaftsvertrag sagen ließ: »Der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit« (Rousseau 1977, S. 23).

2.2 Die Bedeutung von sozialen Gruppen

Die Frage, wie Menschen mit Menschen, die soziale Normen verletzen, umgehen, bestand bereits bei Bildung von sozialen Gruppen und reicht weit ĂŒber die Entstehung der Zivilgesellschaft zur Zeit der klassischen Antike hinaus. Das Eingehen von Beziehungen und die Bindung an andere Menschen erfĂŒllen so grundlegende menschliche BedĂŒrfnisse, dass davon auszugehen ist, dass es sich evolutionsbiologisch um einen fĂŒr das Überleben notwendigen Vorteil handeln muss (Aronson et al. 2004, Baumeister & Leary 1995). DefinitionsgemĂ€ĂŸ wird eine soziale Gruppe von mehr als zwei Menschen, die miteinander agieren, gebildet, sodass eine wechselseitige AbhĂ€ngigkeit entsteht (Lewin 1948). Soziologisch gibt es darĂŒber hinaus weitere Definitionselemente, die eine soziale Gruppe ausmachen. Diese hat z. B. ein gemeinsames Gruppenziel und ein Verhaltensmotiv fĂŒr die Gruppe insgesamt wie fĂŒr jedes einzelne Mitglied, und daraus entwickelt sich ein »Wir-GefĂŒhl«, welches zur KohĂ€sion beitrĂ€gt. Es stellt ein System gemeinsamer Normen und Werte als Grundlage der Kommunikations- und Interaktionsprozesse dar, indem ein Geflecht aufeinander bezogener sozialer Rollen entsteht. Die sozialen Rollen sind auf das jeweilige Gruppenziel ausgerichtet und gewĂ€hrleisten die Zielerreichung als auch die Lösung von dabei auftretenden Konflikten (SchĂ€fers 2016). Die Interaktionen in einer Gruppe hĂ€ngen nicht nur von der GruppengrĂ¶ĂŸe, sondern auch von inneren Gruppenprozessen ab, die u. a. von der Familie als Steuerungselement geregelt werden. Außerdem werden diese von den Außenweltbedingungen der jeweiligen Gruppe und von dem abhĂ€ngen, was die einzelnen Gruppenmitglieder in das Gruppenleben einbringen. Das können Wissen und Bildung sowie Interessen und Engagement sein. Sozial wird das Verhalten der Gruppenmitglieder solange sein, bis es fĂŒr sie Alternativen gibt, um gleiche soziale, emotionale und sonstige QualitĂ€ten des Gruppenlebens zu erreichen (Neidhardt 1999, SchĂ€fers 2016).
Die Evolution der sozialen Lebensform hat gegenĂŒber einer weitgehend solitĂ€ren Lebensweise entscheidende Vorteile. Es kommt aus soziobiologischer Sicht zur Verringerung des Raubdrucks, zu einem verbesserten Schutz gegen infantizidale MĂ€nnchen, zu einem deutlich effizienteren Nahrungserwerb und zu entscheidenden Kooperationsgewinnen bei der Fortpflanzung. Wenn sich aber Gruppen finden, ist das ebenso mit ökologischen und/oder sozial vermittelten Nachteilen verbunden. Neben einem erhöhten Infektionsrisiko kommt es auch zu einer vermehrten Konkurrenz um Ressourcen, vor allem um Nahrung. Es beginnt eine erhöhte reproduktive Konkurrenz, die sozialstressabhĂ€ngig Frauen weniger leicht schwanger werden und diese Infantizide begehen lĂ€sst. Das infantizidale Verhalten hat dabei den weiteren funktionalen Hintergrund des Territorialgewinns. Vor diesem Hintergrund hat soziales Leben einen relativ hohen Preis, wobei eine reine Kosten-Nutzen-Analyse zu kurz greift. Denn die Selektion, die bei Bildung von immer grĂ¶ĂŸer werdenden Gruppen entsteht, ist evolutionsbiologisch ein sich selbst optimierender Prozess, der durch soziale Normen der jeweiligen Zeit strukturiert werden kann. Die dabei zu schließenden Kompromisse sind verĂ€nderlich und ermöglichen Zusammenleben trotz sich widersprechender Einzelinteressen (Voland 2013).
Im Laufe der raschen evolutionĂ€ren Entwicklung sozialer FĂ€higkeiten der Spezies Homo sapiens in den letzten 20.000 bis 30.000 Jahren wurden die geltenden inner- und außergemeinschaftlichen Regeln immer differenzierter. Juristische Konstrukte wie das der Schuld, der Wahrheit und der LĂŒge und theologische Auffassungen zum VerhĂ€ltnis von Menschlichem und Göttlichem wurden erwogen und in den Diskurs integriert. Hinzu kamen die jeweiligen philosophischen Anschauungen zum freien Willen und damit zur Verantwortung eines jeden Einzelnen. In AbhĂ€ngigkeit vom jeweiligen GrundverstĂ€ndnis der Weltordnung und des Menschenbildes wurde das Denken und Handeln gegenĂŒber TĂ€tern definiert (Vasic et al. 2015). So wurde abweichendes Verhalten als eine Verhaltensweise bezeichnet, die gegen die in der Gesellschaft oder einer ihrer Teilstrukturen geltenden sozialen Normen verstĂ¶ĂŸt und im Falle der Entdeckung soziale Reaktionen hervorruft, die darauf abzielen, die betreffende Person, die dieses Verhalten zeigt, zu bestrafen, zu isolieren, zu behandeln oder zu bessern. Damit das nicht passiert, d. h. um zu gewĂ€hrleisten, dass sich Menschen konform verhalten, bedarf es der sozialen Kontrolle, worunter man alle Strukturen, Prozesse und Mechanismen versteht, mit deren Hilfe eine Gesellschaft oder soziale Gruppe versucht, ihre Mitglieder dazu zu bringen, ihren Normen Folge zu leisten. Soziale Kontrolle ist somit ein zentraler Bestandteil aller Prozesse der sozialen Integration (Peuckert 2016).

2.3 Die Funktion von Ritualen, Religion und ReligiositÀt

2.3.1 Rituale

Der religiöse Glaube und die dazugehörigen Rituale scheinen Anpassungen zu sein, deren Nutzen in der augenblicklichen Integration des Individuums in der Gruppe besteht, die ihm Bestrafungen erspart, die diejenigen widerfahren, die von den BrĂ€uchen abweichen. Das sind in der Regel Menschen mit antisozialen Verhaltensweisen, die im Interesse der Gruppe kontrolliert werden mĂŒssen.
Das Wort Ritual wird etymologisch auf Lateinisch ritualis zurĂŒckgefĂŒhrt (DĂŒcker 2007). Der Terminus des Rituals ist in der abendlĂ€ndischen Kultur ein verbindlich festgelegter Begriff, der in lateinischer Form im religiösen Bereich fĂŒr symbolisches Handeln steht. Besonders bekannt war er in allen katholischen LĂ€ndern durch seinen Einsatz als Überschrift einer kirchenrechtlich verbindlichen Regelsammlung Rituale romanum von 1614 (Flores Arcas & Sodi 2004). Rituale werden von Ritualwissenschaftlern erforscht, die die deskriptiven und funktionalen Merkmale zusammenstellen. Dazu gehört zuerst die Sequenzierung, d. h. der gesamte rituelle Prozess wird in Makro- und Mikrorituale aufgeschlĂŒsselt. Durch ein starres Ablaufschema, das an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden kann, entsteht eine Stereotypie. Sprechhandlungen in feststehenden Wendungen, z. B. Gebete, geben dem Ritual die gewollte FormalitĂ€t. Durch die Reduktion von KomplexitĂ€t und die Verdichtung insbesondere auch durch Redundanz wird das Ritual auf eine einzige Wertekategorie festgelegt und der Einzelne darauf eingeschworen. Das rituelle Bewusstsein wird durch die Feierlichkeit unterstĂŒtzt, die wiederum durch die Wahl des Ortes und der Kleidung bedient wird. Indem die rituellen Handlungen immer wieder aus den gleichen AnlĂ€ssen wiederholt werden, werden die Rituale repetitiv eingeschliffen und jedes Individuum lernt diese so kennen und auch sich daran zu halten. Rituale mĂŒssen, wenn sie wirksam sein sollen, öffentlich und jedem zugĂ€nglich sein. Die dramatische Struktur eines Rituals und die Teilnahme aller in einer Gruppe mit den dazugehörigen Rollen bedingt eine Zugehörigkeit zur Gruppe. Rituale sind grundsĂ€tzlich selbstreferentiell, denn sie werden von Teilnehmern fĂŒr die Teilnehmer inszeniert und gelten sowohl fĂŒr die, die Rituale vollziehen und fĂŒr die, die diese inszenieren. Zusammengefasst haben Rituale auch eine Ă€sthetische Dimension und stellen die Schnittstelle zwischen Kollektiv und dem Individuum dar. So dienen sie zur Herstellung von Gemeinschaft, zur Vermittlung von Dispositionen zu Anschlusshandlungen in der Zukunft im nichtrituellen Bereich (Tambiah 1979, Braungart 1992, Humphrey & Laidlaw 1994).
Ritualtheoretisch kann man intentionales von nichtintentionalem Handeln unterscheiden (Humphrey & Laidlaw 1994). Als intentional gilt der Entschluss eines Individuums, ein Ritual auszufĂŒhren oder daran teilzunehmen; nicht intentional sind Handlungen, die allein durch die Teilnahme erforderlich sind, weil diese schon immer ...

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