1.1 Norm und Abweichung â Modell einer gattungsgeschichtlichen Untersuchung
In seiner âPhilosophie der Literaturâ, Norm und Abweichung1, greift Harald Fricke einen strukturfunktionalen, ehemals formalistischen Ansatz auf, der von Jurij Tynjanov in den 1930er Jahren entwickelt wurde. FĂŒr eine Gattungsgeschichte nach dieser Abweichungspoetik mĂŒssen der zu betrachtenden Gattung âsystematische Merkmaleâ2 zugrunde gelegt werden, wie sie ein âtranshistorischer Ordnungsbegriffâ3 bereitstellt und eine Gattungsbestimmung als âliterarische Textsorteâ erfĂŒllt. Deren Merkmale, âQuasi-Normenâ benannt, âberuhen ausschlieĂlich auf faktischer Gewöhnung an hĂ€ufig wiederkehrende Strukturenâ4. Literarische oder poetische Abweichungen von diesen Quasi-Normen bilden das Norm-Abweichungs-Korrelat gleichsam auf zweiter Stufe ab, sodass âVerstöĂe gegen literarhistorische Quasi-Normen [als] sekundĂ€re Abweichungenâ zu betrachten sind.5 Diese sekundĂ€ren Abweichungen finden ihren Ausdruck im âGenreâ, das Fricke, rekursiv zur literarischen Textsorte, als âhistorische Institutionâ erlĂ€utert, âals eine historisch verfestigte Form âinstitutionalisierter Textgruppen und -reihenââ â wie Fricke im Jahr 2010 noch einmal und mit ausdrĂŒcklichem Bezug auf Wilhelm VoĂkamp bestĂ€tigt â, ââdie vom Lesepublikum als solche wiedererkannt werden können und ein eigenes Beharrungsvermögen aufweisen, aber zeitlich begrenzte Dauer und Funktion habenââ.6
Nach Fricke können âpoetische Abweichungenâ in den Bereichen âGraphik und Phonetikâ, âInterpunktionâ, âPhonologieâ, âMorphologieâ, âLexikâ, âSyntaxâ, âTextematikâ, âSemantikâ und âPragmatikâ auftreten. FĂŒr FiktionalitĂ€t werden Abweichungen von der âempirische[n] Wirklichkeitâ â so in der realistischen Fiktion â und von der âempirische[n] Möglichkeitâ â so in der phantastischen Fiktion â angefĂŒhrt, wĂ€hrend Abweichungen von âlogische[r] Möglichkeitâ den stilistischen Elementen wie Oxymoron oder Paradoxon ebenso wie einigen FĂ€llen der âPotenzierungâ7 zugrunde liegen, darunter Metalepsen und anderen selbstreflexiven Verfahren.8
Um jeweils als poetische Abweichung zu gelten, ist sie an Funktionen gebunden, die auf Wirkung abzielen. Der Funktionsbegriff wird von Fricke ausdrĂŒcklich als âDispositionsbegriffâ beschrieben, denn wie die Funktion einer Normabweichung selbst nur âintersubjektivâ ermittelbar ist, lĂ€sst sich auch ihre Wirkung nur in der Weise bestimmen, ob eine âsprachliche Normverletzungâ âeine bestimmte Wirkung hĂ€tte ausĂŒben könnenâ9. Dabei kann sich die Funktion auf âTatsachen innerhalb des Textesâ berufen, wie beispielsweise die in versifizierten Texten normabweichende Segmentierung; diese wird von Fricke als âinterne Funktionâ bezeichnet. Bezieht sich die Funktion hingegen auf eine âTatsache auĂerhalb des Textesâ, wie sie gesellschaftliche oder politische Kontexte vorgeben, handelt es sich um eine âexterne Funktionâ10. âEine Abweichung von sprachlichen Normenâ erfĂŒllt eine Funktion immer dann, âwenn sie eine Beziehung herstellt, die ohne diese Normabweichung so nicht bestĂŒnde.â11
Ăber das der Gattungsgeschichtsschreibung als âQuasi-Normenâ angediente âInstrumentariumâ lassen sich ZĂ€suren innerhalb der literarischen Entwicklung als Abweichungen bestimmen, die â bei Ăbereinstimmung in mehreren Gattungen â zur Epochenbestimmung der Literaturgeschichtsschreibung beitragen können.
1.2 Die literarische Textsorte âBalladeâ
Christian Wagenknecht bestimmt in seinem Artikel âBalladeâ12 die Gattung Ballade zunĂ€chst als eine â[g]edicht-, meist liedförmige ErzĂ€hlung einer merkwĂŒrdigen Begebenheitâ und erlĂ€utert dies mit folgender Explikation: â(1) Fiktionaler Text (2) geringen Umfangs (3) in Versen, worin (4) ein konflikthaftes Ereignis (5) erzĂ€hlt wird.â13 Diese eher allgemein gehaltene und sowohl formale als auch strukturelle Charakteristika umfassende Beschreibung prĂ€zisiert er in einem zweiten Schritt, indem er die Ballade nach MaĂgabe eines systematischen, transhistorischen Ordnungsbegriffs und folglich als literarische Textsorte definiert. Die Bestimmungen (1) bis (5) sind daher als Quasi-Normen zu betrachten, an die die Forderung nach âTrennschĂ€rfeâ14 gegenĂŒber anderen Gattungen gestellt wird. Zugleich soll der Begriff aufgeschlossen und flexibel gegenĂŒber historisch abweichenden Erscheinungen sein, wofĂŒr Fricke den notwendigen Merkmalen auch alternative Merkmale zur Seite stellt.15 Indem Wagenknecht optionale Erscheinungsweisen der Gattung benennt, erhĂ€lt seine âklassifizierende Explikation die gewĂŒnschte Geschmeidigkeit oder Geschichtsförmigkeit des Gattungsbegriffsâ16.
Die Merkmale âfiktionaler Textâ und âErzĂ€hlenâ fĂŒhrt Wagenknecht als eigenstĂ€ndige, jedoch in Korrelation stehende Bedingungen fĂŒr die Ballade an. Fiktionen sind zunĂ€chst textgebunden bestimmt, setzen somit zumindest â[a]ls eine Art kleinsten gemeinsamen Nennersâ17 thematische und semantische KohĂ€renz sowie KohĂ€sion innerhalb eines ErzĂ€hltextes voraus; zugleich ist der fiktionale Text an das ErzĂ€hlen und, nach klassischer Definition, an eine Vermittlungsfunktion, ein âErzĂ€hlsubjektâ18, gebunden, das die fiktionale ErzĂ€hlung prĂ€sentiert. Histoire, rĂ©cit und narration in der Terminologie GĂ©rard Genettes scheinen Wagenknecht als Merkmalsbestimmung von Fiktion in der Ballade zu dienen, das heiĂt, Fiktion wird vor dem Hintergrund narratologischer Elemente bestimmt.
Ăhnlich verfĂ€hrt Frank Zipfel in seiner Fiktionstheorie,19 die davon ausgeht, dass âin jede ErzĂ€hltheorie fiktionstheoretische Annahmen eingehen und jede Fiktionstheorie mit erzĂ€hltheoretischen Unterscheidungen operiert.â20 Daher werden in dieser gattungsgeschichtlichen Untersuchung die Quasi-Normen âfiktionaler Textâ und âErzĂ€hlenâ unter dem Oberbegriff âfiktionales ErzĂ€hlenâ erfasst und betrachtet.
Der Schwerpunkt der gattungsgeschichtlichen Untersuchung liegt auf dem narratologischen Aspekt der fiktionalen ErzĂ€hlung. Doch statt auf GĂ©rard Genette wie Zipfel beruft sich die vorliegende Untersuchung auf Wolf Schmids Elemente der Narratologie21. Dabei ist Schmids âDoppelstruktur der Kommunikation im literarischen ErzĂ€hlwerkâ22 kompatibel mit Zipfels Fiktionsmodell, ermöglicht aber aufgrund semiotisch und strukturalistisch fundierter narratologischer Grundlagen eine differenziertere, produktions- wie rezeptionstheoretische Aspekte umfassende Analyse der narrativen Verfahren.
Wagenknechts auf TrennschĂ€rfe ausgerichtete weitere Explikation zum Merkmal â[f]iktionaler Textâ wird als Aspekt der FiktivitĂ€t oder, in der Terminologie Wolf Schmids, der âerzĂ€hlte[n] Weltâ23 deutlich, wenn er die mögliche âhistorische VerbĂŒrgtheit des Geschehensâ24 anfĂŒhrt und darĂŒber die Frage der Referenz berĂŒhrt â in der Geschichtsballade als das âGeschehenâ25 Grundlage der erzĂ€hlten Geschichte.26
Wagenknechts ErlĂ€uterung der Quasi-Norm ErzĂ€hlen verweisen nicht nur hinsichtlich der ErzĂ€hlweise in âszenische[n] Formenâ auf einen âweitenâ ErzĂ€hlbegriff, ĂŒber den der Ballade die ganze âMannigfaltigkeit der erzĂ€hlerischen Darstellungsmittelâ27 zur VerfĂŒgung steht. Der weite Begriff hat auch Konsequenzen fĂŒr das âErzĂ€hlgedichtâ, das er in einem âVerweis-Stichwortâ28 und auf âAugenhöheâ mit der Romanze anfĂŒhrt. Die Bezeichnung âErzĂ€hlgedichtâ wĂ€hlte Heinz Piontek fĂŒr die neuere Balladenliteratur, die er mit der Gattungsbezeichnung âBalladeâ nicht mehr erfasst sah.29 Seine recht vage Argumentation wurde von literaturwissenschaftlicher Seite von Heinz Graefe prĂ€zisiert.30 In dessen Untersuchung wird das âErzĂ€hlgedichtâ auf der Grundlage linguistischer und sprechakttheoretischer Kriterien nach Typen der PrĂ€sentationsweisen einer Geschichte klassifiziert,31 die RĂŒdiger Zymner als Differenzierung nach lyrischen oder epischen âAttraktorenâ und dementsprechender Alternation von âepischer Lyrikâ oder âlyrischer Epikâ auf...