Schopenhauer als Erzieher
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Schopenhauer als Erzieher

UnzeitgemĂ€ĂŸe Betrachtungen III

Friedrich Nietzsche, Nikolaus Rehlinger

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  1. 144 pages
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UnzeitgemĂ€ĂŸe Betrachtungen III

Friedrich Nietzsche, Nikolaus Rehlinger

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Die dritte der UnzeitgemĂ€ĂŸen Betrachtungen Friedrich Nietzsches. Erstmals in einer neuen Ausgabe in moderner Rechtschreibung.

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Informations

Éditeur
Books on Demand
Année
2021
ISBN
9783754391723

Schopenhauer als Erzieher

1.

Jener Reisende, der viele LĂ€nder und Völker und mehrere Erdteile gesehen hatte und gefragt wurde, welche Eigenschaft der Menschen er ĂŒberall wiedergefunden habe, sagte: sie haben einen Hang zur Faulheit. Manchen wird es dĂŒnken, er hĂ€tte richtiger und gĂŒltiger gesagt: sie sind alle furchtsam. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen. Im Grunde weiß jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unikum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Mal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschĂŒtteln wird: er weiß es, aber verbirgt es wie ein böses Gewissen – weshalb? Aus Furcht vor dem Nachbar, welcher die Konvention fordert und sich selbst mit ihr verhĂŒllt. Aber was ist es, was den Einzelnen zwingt, den Nachbar zu fĂŒrchten, herdenmĂ€ĂŸig zu denken und zu handeln und seiner selbst nicht froh zu sein? Schamhaftigkeit vielleicht bei Einigen und Seltenen. Bei den allermeisten ist es Bequemlichkeit, TrĂ€gheit, kurz jener Hang zur Faulheit, von dem der Reisende sprach. Er hat Recht: die Menschen sind noch fauler als furchtsam und fĂŒrchten gerade am meisten die Beschwerden, welche ihnen eine unbedingte Ehrlichkeit und Nacktheit aufbĂŒrden wĂŒrde. Die KĂŒnstler allein hassen dieses lĂ€ssige Einhergehen in erborgten Manieren und ĂŒbergehĂ€ngten Meinungen und enthĂŒllen das Geheimnis, das böse Gewissen von jedermann, den Satz, dass jeder Mensch ein einmaliges Wunder ist, sie wagen es, uns den Menschen zu zeigen, wie er bis in jede Muskelbewegung er selbst, er allein ist, noch mehr, dass er in dieser strengen Konsequenz seiner Einzigkeit schön und betrachtenswert ist, neu und unglaublich wie jedes Werk der Natur und durchaus nicht langweilig. Wenn der große Denker die Menschen verachtet, so verachtet er ihre Faulheit: denn ihrethalben erscheinen sie als Fabrikware, als gleichgĂŒltig, des Verkehrs und der Belehrung unwĂŒrdig. Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: "sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst."
Jede junge Seele hört diesen Zuruf bei Tag und bei Nacht und erzittert dabei; denn sie ahnt ihr seit Ewigkeiten bestimmtes Maß von GlĂŒck, wenn sie an ihre wirkliche Befreiung denkt: zu welchem GlĂŒcke ihr, so lange sie in Ketten der Meinungen und der Furcht gelegt ist, auf keine Weise verholfen werden kann. Und wie trost- und sinnlos kann ohne diese Befreiung das Leben werden! Es gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach rĂŒckwĂ€rts und ĂŒberallhin schielt. Man darf einen solchen Menschen zuletzt gar nicht mehr angreifen, denn er ist ganz Außenseite ohne Kern, ein anbrĂŒchiges, gemaltes, aufgebauschtes Gewand, ein verbrĂ€mtes Gespenst, das nicht einmal Furcht und gewiss auch kein Mitleiden erregen kann. Und wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er töte die Zeit, so muss man von einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heißt auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen, dass eine solche Zeit wirklich einmal getötet wird: ich meine, dass sie aus der Geschichte der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird. Wie groß muss der Widerwille spĂ€terer Geschlechter sein, sich mit der Hinterlassenschaft jener Periode zu befassen, in welcher nicht die lebendigen Menschen, sondern öffentlich meinende Scheinmenschen regierten; weshalb vielleicht unser Zeitalter fĂŒr irgend eine ferne Nachwelt der dunkelste und unbekannteste weil unmenschlichste Abschnitt der Geschichte sein mag. Ich gehe durch die neuen Straßen unserer StĂ€dte und denke wie von allen diesen grĂ€ulichen HĂ€usern, welche das Geschlecht der öffentlich Meinenden sich erbaut hat, in einem Jahrhundert nichts mehr steht und wie dann auch wohl die Meinungen dieser HĂ€userbauer umgefallen sein werden. Wie hoffnungsvoll dĂŒrfen dagegen alle die sein, welche sich nicht als BĂŒrger dieser Zeit fĂŒhlen; denn wĂ€ren sie dies, so wĂŒrden sie mit dazu dienen, ihre Zeit zu töten und samt ihrer Zeit unterzugehen – wĂ€hrend sie die Zeit vielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.
Aber auch wenn uns die Zukunft nichts hoffen ließe – unser wunderliches Dasein gerade in diesem Jetzt ermutigt uns am stĂ€rksten, nach eigenem Maß und Gesetz zu leben: jene UnerklĂ€rlichkeit, dass wir gerade heute leben und doch die unendliche Zeit hatten zu entstehen, dass wir nichts als ein spannenlanges Heute besitzen und in ihm zeigen sollen, warum und wozu wir gerade jetzt entstanden. Wir haben uns ĂŒber unser Dasein vor uns selbst zu verantworten; folglich wollen wir auch die wirklichen SteuermĂ€nner dieses Daseins abgeben und nicht zulassen, dass unsere Existenz einer gedankenlosen ZufĂ€lligkeit gleiche. Man muss es mit ihr etwas kecklich und gefĂ€hrlich nehmen: zumal man sie im schlimmsten wie im besten Falle immer verlieren wird. Warum an dieser Scholle, diesem Gewerbe hĂ€ngen, warum hinhorchen nach dem, was der Nachbar sagt? Es ist so kleinstĂ€dtisch, sich zu Ansichten verpflichten, welche ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient und Okzident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsere Augen hinmalt, um unsre Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge Seele; und da sollte es sie hindern, dass zufĂ€llig zwei Nationen sich hassen und bekriegen, oder dass ein Meer zwischen zwei Erdteilen liegt, oder dass rings um sie eine Religion gelehrt wird, welche doch vor ein paar tausend Jahren nicht bestand. Das bist du alles nicht selbst, sagt sie sich. Niemand kann dir die BrĂŒcke bauen, auf der gerade du ĂŒber den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer dir allein. Zwar gibt es zahllose Pfade und BrĂŒcken und Halbgötter, die dich durch den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst; du wĂŒrdest dich verpfĂ€nden und verlieren. Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, außer dir: wohin er fĂŒhrt? Frage nicht, gehe ihn. Wer war es, der den Satz aussprach: "ein Mann erhebt sich niemals höher, als wenn er nicht weiß, wohin sein Weg ihn noch fĂŒhren kann"?
Aber wie finden wir uns selbst wieder? Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhĂŒllte Sache; und wenn der Hase sieben HĂ€ute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig abziehen und wird doch nicht sagen können: "das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale." Zudem ist es ein quĂ€lerisches, gefĂ€hrliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nĂ€chsten Wege gewaltsam hinabzusteigen. Wie leicht beschĂ€digt er sich dabei so, dass kein Arzt ihn heilen kann. Und ĂŒberdies: wozu wĂ€re es nötig, wenn doch alles Zeugnis von unserem Wesen ablegt, unsere Freund- und Feindschaften, unser Blick und HĂ€ndedruck, unser GedĂ€chtnis und dass, was wir vergessen, unsere BĂŒcher und die ZĂŒge unserer Feder. Um aber das wichtigste Verhör zu veranstalten, gibt es dies Mittel. Die junge Seele sehe auf das Leben zurĂŒck mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglĂŒckt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten GegenstĂ€nde vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir, durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst. Vergleiche diese GegenstĂ€nde, sieh, wie einer den anderen ergĂ€nzt, erweitert, ĂŒberbietet, verklĂ€rt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch ĂŒber dir oder wenigstens ĂŒber dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst. Deine wahren Erzieher und Bildner verraten dir, was der wahre Ursinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares, aber jedenfalls schwer ZugĂ€ngliches, Gebundenes, GelĂ€hmtes: deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier. Und das ist das Geheimnis aller Bildung: sie verleiht nicht kĂŒnstliche Gliedmaßen, wĂ€chserne Nasen, bebrillte Augen, – vielmehr ist das, was diese Gaben zu geben vermöchte, nur das Afterbild der Erziehung. Sondern Befreiung ist sie, WegrĂ€umung alles Unkrauts, Schuttwerks, GewĂŒrms, das die zarten Keime der Pflanzen antasten will, Ausströmung von Licht und WĂ€rme, liebevolles Niederrauschen nĂ€chtlichen Regens, sie ist Nachahmung und Anbetung der Natur, wo diese mĂŒtterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur, wenn sie ihren grausamen und unbarmherzigen AnfĂ€llen vorbeugt und sie zum Guten wendet, wenn sie ĂŒber die Äußerungen ihrer stiefmĂŒtterlichen Gesinnung und ihres traurigen Unverstandes einen Schleier deckt.
Gewiss, es gibt wohl andere Mittel, sich zu finden, aus der BetĂ€ubung, in welcher man gewöhnlich wie in einer trĂŒben Wolke webt, zu sich zu kommen, aber ich weiß kein Besseres, als sich auf seine Erzieher und Bildner zu besinnen. Und so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessen ich mich zu rĂŒhmen habe, eingedenk sein, Arthur Schopenhauer – um spĂ€ter anderer zu gedenken.

2.

Will ich beschreiben, welches Ereignis fĂŒr mich jener erste Blick wurde, den ich in Schopenhauers Schriften warf, so darf ich ein wenig bei einer Vorstellung verweilen, welche in meiner Jugend so hĂ€ufig und so dringend war, wie kaum eine andere. Wenn ich frĂŒher recht nach Herzenslust in WĂŒnschen ausschweifte, dachte ich mir, dass mir die schreckliche BemĂŒhung und Verpflichtung, mich selbst zu erziehen, durch das Schicksal abgenommen wĂŒrde: dadurch dass ich zur rechten Zeit einen Philosophen zum Erzieher fĂ€nde, einen wahren Philosophen, dem man ohne weiteres Besinnen gehorchen könnte, weil man ihm mehr vertrauen wĂŒrde als sich selbst. Dann fragte ich mich wohl: welches wĂ€ren wohl die GrundsĂ€tze, nach denen er dich erzöge? Und ich ĂŒberlegte mir, was er zu den beiden Maximen der Erziehung sagen wĂŒrde, welche in unserer Zeit im Schwange gehen. Die eine fordert, der Erzieher solle die eigentĂŒmliche StĂ€rke seiner Zöglinge bald erkennen und dann alle KrĂ€fte und SĂ€fte und allen Sonnenschein gerade dorthin leiten, um jener einen Tugend zu einer rechten Reife und Fruchtbarkeit zu verhelfen. Die andere Maxime will hingegen, dass der Erzieher alle vorhandenen KrĂ€fte heranziehe, pflege und untereinander in ein harmonisches VerhĂ€ltnis bringe. Aber sollte man den, welcher eine entschiedene Neigung zur Goldschmiedekunst hat, deshalb gewaltsam zur Musik nötigen? Soll man Benvenuto Cellinis Vater Recht geben, der seinen Sohn immer wieder zum "lieblichen Hörnchen," also zu dem zwang, was der Sohn "das verfluchte Pfeifen" nannte? Man wird dies bei so starken und bestimmt sich aussprechenden Begabungen nicht recht nennen; und so wĂ€re vielleicht gar jene Maxime der harmonischen Ausbildung nur bei den schwĂ€cheren Naturen anzuwenden, in denen zwar ein ganzes Nest von BedĂŒrfnissen und Neigungen sitzt, welche aber, insgesamt und einzeln genommen, nicht viel bedeuten wollen? Aber wo finden wir ĂŒberhaupt die harmonische Ganzheit und den vielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur, wo bewundern wir Harmonie mehr, als gerade an solchen Menschen, wie Cellini einer war, in denen alles, Erkennen, Begehren, Lieben, Hassen nach einem Mittelpunkte, einer Wurzelkraft hinstrebt und wo gerade durch die zwingende und herrschende Übergewalt dieses lebendigen Zentrums ein harmonisches System von Bewegungen hin und her, auf und nieder gebildet wird? Und so sind vielleicht beide Maximen gar nicht GegensĂ€tze? Vielleicht sagt die eine nur, der Mensch soll ein Zentrum, die andere, er soll auch eine Peripherie haben? Jener erziehende Philosoph, den ich mir trĂ€umte, wĂŒrde wohl nicht nur die Zentralkraft entdecken, sondern auch zu verhĂŒten wissen, dass sie gegen die anderen KrĂ€fte zerstörend wirke: vielmehr wĂ€re die Aufgabe seiner Erziehung, wie mich dĂŒnkte, den ganzen Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen.
Inzwischen fehlte mir dieser Philosoph und ich versuchte dieses und jenes; ich fand, wie elend wir modernen Menschen uns gegen Griechen und Römer ausnehmen, selbst nur in Hinsicht auf das Ernst- und Streng-Verstehen der Erziehungsaufgaben. Man kann mit einem solchen BedĂŒrfnis im Herzen durch ganz Deutschland laufen, zumal durch alle UniversitĂ€ten, und wird nicht finden, was man sucht; bleiben doch viel niedrigere und einfachere WĂŒnsche hier unerfĂŒllt. Wer zum Beispiel unter den Deutschen sich ernstlich zum Redner ausbilden wollte oder wer in eine Schule des Schriftstellers zu gehen beabsichtigte, er fĂ€nde nirgends Meister und Schule; man scheint hier noch nicht daran gedacht zu haben, dass Reden und Schreiben KĂŒnste sind, die nicht ohne die sorgsamste Anleitung und die mĂŒhevollsten Lehrjahre erworben werden können. Nichts aber zeigt das anmaßliche WohlgefĂŒhl der Zeitgenossen ĂŒber sich selbst deutlicher und beschĂ€mender, als die halb knauserige halb gedankenlose DĂŒrftigkeit ihrer AnsprĂŒche an Erzieher und Lehrer. Was genĂŒgt da nicht alles, selbst bei unseren vornehmsten und bestunterrichteten Leuten, unter dem Namen der Hauslehrer, welches Sammelsurium von verschrobenen Köpfen und veralteten Einrichtungen wird hĂ€ufig als Gymnasium bezeichnet und gut befunden, was genĂŒgt uns allen als höchste Bildungsanstalt, als UniversitĂ€t, welche FĂŒhrer, welche Institutionen, verglichen mit der Schwierigkeit der Aufgabe, einen Menschen zum Menschen zu erziehen! Selbst die vielbewunderte Art, mit der die deutschen Gelehrten auf ihre Wissenschaft losgehen, zeigt vor allem, dass sie dabei mehr an die Wissenschaft als an die Menschlichkeit denken, dass sie wie eine verlorene Schar sich ihr zu opfern angelehrt werden, um wieder neue Geschlechter zu dieser Opferung heranzuziehen. Der Verkehr mit der Wissenschaft, wenn er durch keine höhere Maxime der Erziehung geleitet und eingeschrĂ€nkt, sondern, nach dem Grundsatze "je mehr desto besser" nur immer mehr entfesselt wird, ist gewiss fĂŒr die Gelehrten ebenso schĂ€dlich wie der ökonomische Lehrsatz des Laisser-faire fĂŒr die Sittlichkeit ganzer Völker. Wer weiß es noch, dass die Erziehung des Gelehrten, dessen Menschlichkeit nicht preisgegeben oder ausgedörrt werden soll, ein höchst schwieriges Problem ist – und doch kann man diese Schwierigkeit mit Augen sehen, wenn man auf die zahlreichen Exemplare Acht gibt, welche durch eine gedankenlose und allzu frĂŒhzeitige Hingebung an die Wissenschaft krumm gezogen und mit einem Höcker ausgezeichnet worden sind. Aber es gibt ein noch wichtigeres Zeugnis fĂŒr die Abwesenheit aller höheren Erziehung, wichtiger und gefĂ€hrlicher und vor allem viel allgemeiner. Wenn es auf der Stelle deutlich ist, warum ein Redner, ein Schriftsteller jetzt nicht erzogen werden kann – weil es eben fĂŒr sie keine Erzieher gibt – ; wenn es fast ebenso deutlich ist, warum ein Gelehrter jetzt verzogen und verschroben werden muss – weil die Wissenschaft, also ein unmenschliches Abstraktum, ihn erziehen soll – so frage man ihn endlich: wo sind eigentlich fĂŒr uns alle, Gelehrte und Ungelehrte, Vornehme und Geringe, unsere sittlichen Vorbilder und BerĂŒhmtheiten unter unseren Zeitgenossen, der sichtbare Inbegriff aller schöpferischen Moral in dieser Zeit? Wo ist eigentlich alles Nachdenken ĂŒber sittliche Fragen hingekommen, mit welchen sich doch jede edler entwickelte Geselligkeit zu allen Zeiten beschĂ€ftigt hat? Es gibt keine BerĂŒhmtheiten und kein Nachdenken jener Art mehr; man zehrt tatsĂ€chlich an dem ererbten Kapital von Sittlichkeit, welches unsere Vorfahren aufhĂ€uften und welches wir nicht zu mehren, sondern nur zu verschwenden verstehen; man redet ĂŒber solche Dinge in unserer Gesellschaft entweder gar nicht oder mit einer naturalistischen UngeĂŒbtheit und Unerfahrenheit, welche Widerwillen erregen muss. So ist es gekommen, dass unsere Schulen und Lehrer von einer sittlichen Erziehung einfach absehen oder sich mit Förmlichkeiten abfinden: und Tugend ist ein Wort, bei dem Lehrer und SchĂŒler sich nichts mehr denken können, ein altmodisches Wort, ĂŒber das man lĂ€chelt – und schlimm, wenn man nicht lĂ€chelt, denn dann wird man heucheln.
Die ErklĂ€rung dieser Mattherzigkeit und des niedrigen Flutstandes aller sittlichen KrĂ€fte ist schwer und verwickelt; doch wird Niemand, der den Einfluss des siegenden Christentums auf die Sittlichkeit unserer alten Welt in Betracht nimmt, auch die RĂŒckwirkung des unterliegenden Christentums, also sein immer wahrscheinlicheres Los in unserer Zeit, ĂŒbersehen dĂŒrfen. Das Christentum hat durch die Höhe seines Ideals die antiken Moralsysteme und die in allen gleichmĂ€ĂŸig waltende NatĂŒrlichkeit so ĂŒberboten, dass man gegen diese NatĂŒrlichkeit stumpf und ekel wurde; hinterdrein aber, als man das Bessere und Höhere zwar noch erkannte, aber nicht mehr vermochte, konnte man zum Guten und Hohen, nĂ€mlich zu jener antiken Tugend nicht mehr zurĂŒck, so sehr man es auch wollte. In diesem Hin und Her zwischen Christlich und Antik, zwischen verschĂŒchterter oder lĂŒgnerischer Christlichkeit der Sitte und ebenfalls mutlosem und befangenem Antikisieren lebt der moderne Mensch und befindet sich schlecht dabei; die vererbte Furcht vor dem NatĂŒrlichen und wieder der erneute Anreiz dieses NatĂŒrlichen, die Begierde irgendwo einen Halt zu haben, die Ohnmacht seines Erkennens, das zwischen dem Guten und dem Besseren hin und her taumelt, alles dies erzeugt eine Friedlosigkeit, eine Verworrenheit in der modernen Seele, welche sie verurteilt unfruchtbar und freudelos zu sein. Niemals brauchte man mehr sittliche Erzieher und niemals war es unwahrscheinlicher sie zu finden; in den Zeiten, wo die Ärzte am nötigsten sind, bei großen Seuchen, sind sie zugleich am meisten gefĂ€hrdet. Denn wo sind die Ärzte der modernen Menschheit, die selber so fest und gesund auf ihren FĂŒĂŸen stehen, dass sie einen anderen noch halten und an der Hand fĂŒhren könnten? Es liegt eine gewisse VerdĂŒsterung und Dumpfheit auf den besten Persönlichkeiten unserer Zeit, ein ewiger Verdruss ĂŒber den Kampf zwischen Verstellung und Ehrlichkeit, der in ihrem Busen gekĂ€mpft wird, eine Unruhe im Vertrauen auf sich selbst – wodurch sie ganz unfĂ€hig werden, Wegweiser zugleich und Zuchtmeister fĂŒr Andere zu sein.
Es heißt also wirklich in seinen WĂŒnschen ausschweifen, wenn ich mir vorstellte, ich möchte einen wahren Philosophen als Erzieher finden, welcher einen ĂŒber das UngenĂŒgen, soweit es in der Zeit liegt, hinausheben könnte und wieder lehrte, einfach und ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemĂ€ĂŸ zu sein, das Wort im tiefsten Verstande genommen; denn die Menschen sind jetzt so vielfach und kompliziert geworden, dass sie unehrlich werden mĂŒssen, wenn sie ĂŒberhaupt reden, Behauptungen aufstellen und da...

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