1 Grundlagen
1.1 Menschen mit Demenz â (Er)leben im »Anderland«
Bernd Reuschenbach
In diesem Kapitel soll das Leben und Erleben der Menschen mit Demenz beschrieben werden, mit Hinweisen auf Ursachen, Symptome und wie die Begegnung von Mensch und Musik gelingen kann.
Das Kapitel ist an Musikschaffende und Veranstalterinnen und Veranstalter von Konzertangeboten adressiert, die im Rahmen von musikalischen Angeboten möglicherweise erstmalig Menschen mit Demenz begegnen. Dabei interessieren folgende Fragen:
âą Wie verhalten sich Menschen mit Demenz?
âą Was geht in ihnen gedanklich vor?
⹠Welchen Zugang ermöglicht Musik zu deren Kognition und Emotion?
1.1.1 Demenzkranke, Dementierende, Menschen mit Demenz
Demenz = Nachlassende kognitive Funktionen, Alltagskompetenzen, Leistungsvermögen und Sprache
»Demenzerkrankungen sind definiert durch den Abbau und Verlust kognitiver Funktionen und Alltagskompetenzen« (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) 2016, S. 10). Hauptkennzeichen sind Verschlechterungen in der MerkfÀhigkeit, im Denken oder in der Sprache. Weiterhin ist die Demenz durch ein Nachlassen des allgemeinen Leistungsniveaus sowie emotionale und motivationale VerÀnderungen gekennzeichnet.
Der Begriff »Menschen mit Demenz« ist zu bevorzugen.
Wir verwenden in diesem Buch stets den Begriff »Menschen mit Demenz« um deutlich zu machen, dass in der Begegnung zunĂ€chst der Mensch im Mittelpunkt steht, mit seiner erlebten Biografie, seinen Eigenarten und besonderen Verhaltensweisen. Erst in zweiter Linie ist der Blick dann auf die dementiellen Symptome zu richten, also auf das »UnvernĂŒnftige« (lat. »demens«). Menschen mit Demenz können trotz kognitiver EinschrĂ€nkungen im Alltag gut zurechtkommen und phasenweise bei klarem Verstand sein. Es sind also nicht immer die krankhaften Aspekte bemerkbar. Die Begriffe »Demenzkranke« oder »Demente« stigmatisiert die Betroffenen und wertet die vielfĂ€ltigen und variablen Verhaltensmuster primĂ€r als Ausdruck einer Erkrankung, die es zu therapieren gilt, anstatt hierin auch ein Produkt von Erfahrungen und Persönlichkeit zu sehen.
Die Gleichsetzung »Demenz = Krankheit« trĂ€gt zur Medikalisierung des Alters bei (vgl. Birkholz 2020), d. h. Altsein wird mit Kranksein gleichgesetzt, anstatt in den vielen Erscheinungsformen auch einen natĂŒrlichen Alterungsprozess zu sehen, den es kreativ zu gestalten gilt.
Ein personenzentrierter Umgang mit Betroffenen, wie er in diesem Buch favorisiert wird, stellt zunĂ€chst die Frage nach den BeweggrĂŒndungen fĂŒr Worte und Taten und versucht diese aus der Situation und der Lebensgeschichte heraus zu verstehen und die Ressourcen statt der Defizite zu sehen.
Der personenzentrierte Ansatz fokussiert Ressourcen statt Defizite.
Die nachfolgenden Kapitel sind voll mit Schilderungen in denen deutlich wird, dass gerade mit Musik Aspekte des Menschseins erreicht und berĂŒhrt werden, von denen selbst Angehörige oder Pflegende manchmal ĂŒberrascht sind: Da singt die Person mit Demenz nach jahrlangem Schweigen plötzlich wieder Lieder mit, da bewegt sich eine Person nach Phasen der völligen ImmobilitĂ€t plötzlich im Rhythmus der Musik. Dies alles verdeutlicht, dass ein Blick auf die Ressourcen der Betroffenen und ein Versuch, die Innenwelt der Betroffenen zu verstehen, lohnt. Versinnbildlicht wird diese Sichtweise mit der Metapher einer Reise ins »Anderland«1, »ein Land, in dem Wege oft sehr verworren sind« (SchĂŒtzendorf & Datum 2019, S. 10), aber auch ein Land, in dem MusikgenieĂen möglich ist.
1.1.2 Formen und Ursachen
1,6 Millionen Betroffene mit steigender Tendenz
Laut Deutscher Alzheimer Gesellschaft e. V. (2016) leben in Deutschland circa 1,6 Millionen Menschen mit Demenz. JÀhrlich treten mehr als 300.000 Neuerkrankungen auf. Weltweit sind knapp 46 Millionen Menschen von Demenz betroffen. Weil die Lebenserwartung steigt und die Demenzwahrscheinlichkeit mit steigendem Lebensalter zunimmt, kommt es zu weitaus mehr Neuerkrankungen als zu SterbefÀllen, sodass die Anzahl und der Anteil an Menschen mit Demenz kontinuierlich steigen. Meist verlÀuft die Demenz irreversibel bis zum Tod. Allerdings gelten 9 % der Demenzen als behandelbar (Klein & Klein 2021). Die mittlere Krankheitsdauer liegt bei 3 bis 6 Jahren, je nach Ursache der Demenz (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2016).
Mit steigendem Lebensalter steigt der Anteil der Menschen mit Demenz.
Es gibt vielfĂ€ltige Ursachen der Demenz. Dominierend sind die degenerativen Erkrankungen (55â75 %), zu der auch die Alzheimer-Demenz (40â60 %) zĂ€hlt. WĂ€hrend bei den degenerativen Demenzen Nervengewebe abgebaut oder zerstört wird, sind bei der vaskulĂ€ren Demenz (15â25 %) Durchblutungsstörungen fĂŒr die Symptome verantwortlich. Daneben gibt es auch Mischformen der vaskulĂ€ren und der degenerativen Demenzen (10â20 %). Auch wenn die Demenz ein PhĂ€nomen des Alters ist, gibt es in 5â10 % der FĂ€lle auch prĂ€senile Demenzformen von denen Menschen unter 60 Jahren betroffen sind. Hierzu zĂ€hlen seltene Demenzerkrankungen wie die Frontotemporale Demenz, bei der zu Beginn PersönlichkeitsverĂ€nderungen und VerhaltensauffĂ€lligkeiten im Mittelpunkt stehen, was fĂŒr Angehörige eine groĂe Herausforderung darstellt.
1.1.3 Dementielle Symptome und deren Bedeutung fĂŒr musikalische Angebote
Die Symptome der Demenz sind so vielfĂ€ltig wie die zugrundeliegenden Auslöser. Meist werden als Erstes nachlassende MerkfĂ€higkeiten (Kurz- und LangzeitgedĂ€chtnis) von den Betroffenen selbst wahrgenommen, die sich in unbekannten und reizĂŒberflutenden Situationen verstĂ€rken können, was fĂŒr die Gestaltung von Musikprogrammen zu beachten ist. So sollte z. B. ein zu langes Musikprogramm vermieden werden. Vertraute Begleitpersonen sind hilfreich, um Orientierung zu geben und die kognitive Belastung zu reduzieren. Menschen mit Demenz haben »feine Antennen« um Stress der sozialen Umgebung wahrzunehmen, daher ist eine ruhige und ungezwungene AtmosphĂ€re, in der man jederzeit Aufstehen kann oder sich laut Ă€uĂern darf, wichtig. Hilfreich sind auch ein gut geplanter Ablauf und eine umfassende Information aller Beteiligten (Musikerinnen/Musiker/Angehörige), damit die Menschen mit Demenz SouverĂ€nitĂ€t und entspannte Menschen um sich herum erleben können.
Der Schweregrad der Demenz bestimmt die Anforderungen an musikalische Angebote.
Durch die nachlassenden kognitiven FĂ€higkeiten wird die Welt, wie sie AuĂenstehende erleben und interpretieren, fĂŒr die Betroffenen zunehmend unerklĂ€rlich und befremdlich. Hierbei kann es zu Lauftendenzen kommen. Es ist mĂŒĂig, darĂŒber zu diskutieren, ob das Verlassen der RĂ€ume wĂ€hrend eines Konzertes als ein Weglaufen von der unangenehmen Situation oder ein Hinlaufen zu einem sichern Ort zu interpretieren ist, entscheidend ist, dass es aus Sicht der Betroffenen ein Motiv gibt, warum es jetzt besser ist aufzustehen und zu gehen. Auf keinen Fall sollte dies allein als Ausdruck einer Unzufriedenheit mit der Musik gedeutet werden. Die Wege zum Konzert wurden möglicherweise vergessen und es gelingt der Person nicht mehr zu verstehen, warum nun in fremder Umgebung Musik zu hören ist. We...