TEIL 1
Alte und neue anatomische Fakten: Die Polyvagal-Theorie
Gesundheitsprobleme ĂŒberwinden: KĂ€mpfen Sie gegen die Köpfe der Hydra?
Viele Menschen haben mit gesundheitlichen Problemen zu kĂ€mpfen. Oft erinnern ihre Geschichten an den in der griechischen Mythologie dargestellten Kampf zwischen Herkules, dem stĂ€rksten aller MĂ€nner, und dem Meeresungeheuer, der Hydra. Herkules war halb Gott, halb Mensch; sein Vater war Zeus, der Gott des Himmels und des Donners, der ĂŒber alle anderen Götter auf dem Olymp herrschte. Herkules, der gröĂte aller Helden, wurde mit der Mission betraut, die Hydra zu töten, ein schlangenĂ€hnliches, vielköpfiges Meeresungeheuer. Herkules hatte von Athene ein goldenes Schwert bekommen. In der griechischen Mythologie galt Athene â die Schutzheilige des Stadtstaates Athen â als Göttin der Weisheit, Zivilisation, gerechten KriegfĂŒhrung, Strenge, Strategie, weiblichen KĂŒnste, HandwerkskĂŒnste sowie der Gerechtigkeit und Kunstfertigkeit, die Helden oft bei ihren Schlachten begleitete.
Die Hydra war eine gefĂ€hrliche Gegnerin â selbst ihr Atem war giftig. FĂŒr jeden der vielen Köpfe der Hydra, die Herkules mit seinem Schwert abschlug, wuchsen der scheinbar unsterblichen Hydra zwei neue nach. Als Herkules erkannte, dass er die Hydra nicht besiegen konnte, indem er ihre Köpfe einzeln abschlug, rief er seinen Neffen Iolaos zu Hilfe. Dieser hatte die Idee, den Stumpf jedes abgeschlagenen Kopfes mit einer lodernden Brandfackel zu versengen, damit an derselben Stelle keine neuen Köpfe nachwachsen konnten. Zum GlĂŒck fĂŒr Herkules hatte die Hydra einen wunden Punkt: Einer ihrer Köpfe war sterblich. Als er ihn fand und abschlug, starb sie schlieĂlich.
Die mythologische Hydra ist eine Metapher fĂŒr die Frustration darĂŒber, dass man ein Symptom behandelt, und an seiner Stelle ein neues oder sogar mehrere andere auftauchen. Wie die vielen Köpfe der Hydra plagen viele von uns vielfĂ€ltige gesundheitliche Probleme, und wenn man mit einem entsprechenden Medikament oder einer Operation immer nur hinter einem einzigen Symptom her ist, kommt es vielleicht zu einer vorĂŒbergehenden Linderung, aber man packt damit nicht unbedingt das Ăbel an der Wurzel.
Wir nehmen eventuell eine Tablette fĂŒr das eine Gesundheitsproblem, eine andere fĂŒr ein anderes und eine dritte, um den Nebenwirkungen der beiden vorherigen entgegenzuwirken. Vielleicht nehmen wir sogar jeden Tag viele verschiedene Tabletten. Doch oft helfen sie nur vorĂŒbergehend, wenn ĂŒberhaupt, und manchmal mĂŒssen wir sie fĂŒr den Rest des Lebens nehmen.
Unsere Gesellschaft verlĂ€sst sich hauptsĂ€chlich auf zwei AnsĂ€tze in der Schulmedizin, den biochemischen Ansatz (Medikamente) und den operativen. Diese hochwirksamen Instrumente sind in manchen FĂ€llen von groĂem Wert und haben schon vielen Menschen geholfen, so auch mir. Operationen können lebensrettend sein. Doch selbst die besten Operationen hinterlassen Narbengewebe, das zu einer BewegungseinschrĂ€nkung fĂŒhren kann, weil es dann fĂŒr Muskel- und Bindegewebsschichten schwerer wird, frei ĂŒber benachbarte Schichten zu gleiten.
Es gibt auch viele Symptome, ZustĂ€nde und Gesundheitsprobleme, die nicht ganz so beeintrĂ€chtigend oder lebensbedrohend sind, und oft versuchen wir, mangels brauchbarer Alternativen, sie mit den ĂŒblichen medizinischen Methoden â verschreibungspflichtigen Medikamenten und/oder einer Operation â zu behandeln. Das sind jedoch vielleicht nicht die besten Lösungen. In vielen FĂ€llen sind sie nicht so wirksam wie wir uns das wĂŒnschen, und oft fĂŒhren sie zu unerwĂŒnschten Nebenwirkungen.
Wie beim Kampf mit der Hydra zieht die UnterdrĂŒckung von Symptomen einfach nur noch mehr Symptome nach sich. Zur Erzielung einer dauerhaften Gesundheit ist hingegen ein weitgehend ungenutztes Potenzial vorhanden, das auf dem Verstehen der Funktionsweise des Nervensystems und einer neuartigen Herangehensweise an schwierige Gesundheitsprobleme beruht. Einfach ausgedrĂŒckt: Wenn der vordere, neue Vagus-Ast nicht funktioniert, dann sollten Sie dafĂŒr sorgen, dass er wieder funktioniert. Da das autonome Nervensystem wichtige Körperfunktionen wie Kreislauf, Atmung, Verdauung und Fortpflanzung steuert, kann es zu einer breiten Palette von Konsequenzen kommen, wenn der Vagus und andere Hirnnerven nicht ordnungsgemÀà arbeiten.
Es folgt eine Liste hÀufiger Probleme (ohne GewÀhr auf VollstÀndigkeit), die dem autonomen Nervensystem geschuldet sein können. Von ihnen sind viele Menschen betroffen. Kennen Sie solche Symptome aus eigener Erfahrung oder kennen Sie Menschen, die darunter leiden? Wenn dem so ist, kann die Arbeit mit den Hirnnerven Linderung bringen.
Die vielköpfige Hydra:
HÀufige Probleme durch eine Funktionsstörung von Hirnnerven
Chronische körperliche VerspannungszustÀnde
Verspannte / verhĂ€rtete Muskeln Schmerzende Nacken- und Schultermuskulatur Fest zusammengebissene ZĂ€hne NĂ€chtliches ZĂ€hneknirschen Verspannung von Augen- oder Gesichtsmuskulatur Grundloses Schwitzen (Hyperhidrose) Muskelverspannung nach Kraftanstrengung SchwindelgefĂŒhl/Benommenheit KloĂ im Hals (GlobusgefĂŒhl) Psychische Probleme
Seelisch âangeschlagenâ GefĂŒhl von Hoffnungslosigkeit Tendenz zu Weinerlichkeit Allgemeine Ăngstlichkeit Ausgedehnte depressive Phasen Schlafschwierigkeiten/Schlafstörungen Konzentrationsschwierigkeiten ĂbermĂ€Ăiges TagtrĂ€umen und Fantasieren Herz- und Lungenprobleme
Funktionsstörungen innerer Organe
ĂbersĂ€uerung, GeschwĂŒre, Sodbrennen Probleme mit dem Immunsystem
Verhaltensprobleme
HĂ€ufige UnfĂ€lle oder Verletzungen Vermehrtes Trinken oder Rauchen ĂbermĂ€Ăige Einnahme von verschreibungspflichtigen oder frei verkĂ€uflichen Medikamenten Autismus, ADHS, Asperger-Syndrom Zwischenmenschliche Beziehungen
ĂbermĂ€Ăiges oder unangebrachtes Misstrauen Mangelnde Kompromissbereitschaft Verlust des Interesses an Sex Mentale Probleme
Konzentrationsschwierigkeiten EntscheidungsunfÀhigkeit Andere Probleme
ĂbermĂ€Ăige Menstruationsschmerzen Angesichts der Herausforderungen und Belastungen, mit denen wir es in unserem Leben zu tun haben, ist jeder Mensch von Zeit zu Zeit von einem oder mehreren Symptomen betroffen. Auf den ersten Blick scheint diese Liste auch Probleme zu umfassen, die nichts miteinander zu tun haben â manche von ihnen könnten wir als âkörperlicheâ, manche als âgeistigeâ, andere als âseelischeâ und wieder andere als âverhaltensbedingteâ einstufen. In diesem Zusammenhang ist es jedoch nicht hilfreich, Symptome durch Gruppierungen zu unterscheiden und es lenkt von der Beobachtung ab, dass die zugrunde liegende physiologische Ursache im Wesentlichen dieselbe ist.
Meist haben Menschen mehr als eines dieser Symptome gleichzeitig. Der wissenschaftliche Terminus dafĂŒr ist KomorbiditĂ€t. Die Symptome können in unregelmĂ€Ăigen AbstĂ€nden verschwinden und wiederkehren. Treten sie selten auf und sind sie nicht beeintrĂ€chtigend, ist das weniger tragisch. Kommen sie jedoch hĂ€ufig oder die meiste Zeit vor, ist es ratsam, sich darum zu kĂŒmmern.
Anstatt einzelne Symptome als gesonderte Probleme zu behandeln, die jeweils ein eigenes Medikament erfordern, wĂ€re es vorzuziehen, nach dem roten Faden zu suchen, der sie miteinander verbindet. Vielleicht können wir hierfĂŒr eine einfache, wirksame Behandlung finden, die diese vielen scheinbar unterschiedlichen Probleme entschĂ€rft oder löst â vielleicht können wir den sterblichen Kopf der Hydra finden.
Der rote Faden ist vielleicht ganz einfach zu erkennen: Alle aufgelisteten Probleme treten zumindest teilweise aufgrund der AktivitĂ€t des hinteren, dorsalen Vagus-Astes oder der Aktivierung des Grenzstrangs auf, und sie können durch Wiederherstellung des vorderen Vagus-Astes und anderer fĂŒr Kontakt und Kommunikation erforderlicher Nerven, die auch als soziales Nervensystem bezeichnet werden, in Angriff genommen werden.
Der Gedanke, dass Hirnnerven bei einem dieser Gesundheitsprobleme eine Rolle spielen können, wird von der modernen Medizin nahezu durchgĂ€ngig ĂŒbersehen. Die meisten Menschen wissen nicht viel ĂŒber den Hirnstamm, wo diese Nerven entspringen, und auch nicht ĂŒber die Hirnnerven selbst.
Ich glaube, ich habe mehrfach zeigen können, das gute Chancen bestehen, viele der aufgelisteten Symptome zu lindern oder zu beseitigen, wenn es uns gelingt, die fĂŒnf Hirnnerven, die die soziale Zugewandtheit fördern, wieder funktionstĂŒchtig zu machen. Diese Ăberzeugung beruht auf meiner eigenen jahrzehntelangen praktischen Erfahrung sowie der Erfahrung von Hunderten von Therapeuten, die ich am Stanley-Rosenberg-Institut ausgebildet habe.
KAPITEL 1
Lernen Sie Ihr autonomes Nervensystem kennen
Das Nervensystem des Menschen hat eine primĂ€re Aufgabe: Es soll das Ăberleben des physischen Körpers sicherstellen. Das autonome Nervensystem besteht aus dem Gehirn, dem Hirnstamm, den Hirnnerven, dem RĂŒckenmark, den von dort ausgehenden Nerven, den sogenannten Spinalnerven, und dem enterischen oder enteralen Nervensystem (das Nervensystem im Darm oder auch âBauchgehirnâ; Anm. d. Ăbers.). Wir richten hier unser Hauptaugenmerk auf das autonome Nervensystem, das aus Elementen des Hirnstamms, einigen der Hirnnerven und Teilen einiger Spinalnerven besteht.
Die zwölf Hirnnerven
Die Funktion der zwölf Hirnnerven fĂŒr eine unterschiedliche Leserschaft zu beschreiben â sie reicht von den Menschen, die, eventuell berufsbedingt oder aufgrund ihres Interesses, bereits ein umfangreiches Wissen darĂŒber besitzen, bis zu den Menschen, fĂŒr die dieses Thema ganz neu ist â hat sich als Herausforderung erwiesen. Wie kann ich einerseits interessierte, nicht âvorbelasteteâ Leser an dieses Gebiet heranfĂŒhren und gleichzeitig sachkundigen Menschen helfen, die Funktion der Hirnnerven auf neue und nutzbringende Weise zu verstehen?
FĂŒr die âNeulingeâ unter den Lesern gebe ich eine einfache Funktionsbeschreibung eines jeden der zwölf Hirnnerven. Und all jenen, die bereits damit vertraut sind, hoffe ich damit eine neue Sichtweise und neue Informationen ĂŒber ihre Funktion prĂ€sentieren zu können.
Die Hirnnerven unterscheiden sich von den RĂŒckenmarksnerven (Spinalnerven). Manche von ihnen verbinden den Hirnstamm mit den Organen und Muskeln des Kopfes wie den Augen, den Ohren und der Zunge. Der Hirnstamm erstreckt sich unterhalb des Gehirns; hier beginnt das RĂŒckenmark (vgl. âGehirnâ, âHirnnervenâ und âRĂŒckenmarkâ im Anhang). Andere Hirnnerven ziehen durch kleine SchĂ€delöffnungen und gelangen so zum Hals, zum Gesicht, zum Nacken, in den Brustraum und zum Abdomen, dem Bauchraum. Alle zwölf Hirnnerven sind paarig angelegt und haben Leitungsbahnen, es gibt sie also auf der linken und auf der rechten Körperseite.
Einer der Hirnnerven âwandertâ durch den Körper, er zieht vom Hirnstamm zur Brust und zum Abdomen und steuert viele der inneren Organe. Er innerviert â d. h. er durchzieht â die Halsmuskeln (Rachen und Kehlkopf) und die Organe fĂŒr die Atmung (Lunge) sowie fĂŒr den Kreislauf (Herz), fĂŒr die Verdauung (Magen, Leber, BauchspeicheldrĂŒse, Zwölffingerdarm, DĂŒnndarm und den aufsteigenden und transversen, also querverlaufenden Abschnitt des Dickdarms) und die Organe fĂŒr die Ausscheidung (Nieren). Da dieser Nerv so lang ist und so viele Ăste hat, wurde er âVagusâ, der âUmherschweifendeâ genannt, nach dem lateinischen Wort fĂŒr âvagabundierend, umherziehendâ.
Der Vagus-Nerv unterstĂŒtzt die Steuerung sehr vieler Körperfunktionen, die fĂŒr die Erhaltung der Homöostase erforderlich sind, also fĂŒr den Gleichgewichtszustand eines offenen dynamischen Systems. WĂ€hrend der Grenzstrang des Sympathikus sich von den RĂŒckenmarksnerven aus fortsetzt und den Spannungs- und Mobilisierungszustand fĂŒr unser...