Oskar Lenz (1848 – 1925): Karriere eines „Kolonialgeographen“
Laurent Dedryvère
Université de Paris, Diderot
Einleitung
Der Geograph Oskar Lenz (1848–1925) ist heute auch dem breiteren Publikum ein Begriff. Zeit seines Lebens erfreute er sich aber eines weitaus größeren Ruhms, den er drei Forschungsreisen durch Afrika verdankte: Von Juni 1874 bis Februar 1877 erkundete er im Auftrag der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Äquatorial-Afrikas“ das Flussbecken des Ogooué. Seine zweite, im Auftrag der „Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland“ unternommene Reise führte ihn von Tanger nach Saint-Louis in Senegal (November 1879 bis Januar 1881). Schließlich durchquerte er den afrikanischen Kontinent von der Kongo- bis zur Sambesimündung (Juli 1885-Januar 1887). Lenz’ Reisen fallen in die frühe Phase der Erforschung Afrikas durch deutsche Geographen.
Vor allem seine zweite Reise war von Erfolg gekrönt. Nach seiner Rückkehr wurde er als der erste Europäer bejubelt, der die Strecke von Timbuktu nach Saint-Louis zurückgelegt hatte. Unterwegs schrieb er geologische, botanische und ethnographische Beobachtungen auf, die er später für ein Buch (Lenz 1884) und zahlreiche populärwissenschaftliche Artikel verwertete.
Nach seiner letzten Reise wurde Lenz zum ordentlichen Professor der Geographie an der deutschen Universität in Prag ernannt. Diese prestigeträchtige Stelle war die Krönung einer wissenschaftlichen Karriere, die siebzehn Jahre zuvor an der Universität Leipzig mit der Verteidigung einer Dissertation im Bereich der Geologie angefangen hatte. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1909 galt Lenz als internationaler Spezialist der europäischen Kolonisation. Seine Berufung auf die geographische Lehrkanzel in Prag zeugt vom Interesse für „Kolonialgeographie“ in Cisleithanien und verdient insofern unsere Aufmerksamkeit, als Österreich über keinen nennenswerten Kolonialbesitz verfügte.
Der vorliegende Aufsatz versteht sich als Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Geographie im kolonialen Kontext. In den postcolonial studies gilt die Geographie als koloniale Disziplin schlechthin. Nicht nur hätten die europäischen Geographen die territoriale Inbesitznahme ermöglicht, sondern auch die Wahrnehmung der kolonisierten Räume und Landschaften grundlegend beeinflusst. Dieses allgemeine Urteil, so anregend es auch ist, wurde aber durch Detailstudien verfeinert und ergänzt: Neuere Forschungen haben die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der Situationen gelenkt, insbesondere auf die Einbettung der geographischen Forschungen in komplexe – transnationale und transimperiale – Wissensnetzwerke.
Im vorliegenden Artikel soll auf Lenz’ wissenschaftliche Karriere näher eingegangen werden. Wie wurde er zum international anerkannten Spezialisten der Kolonialgeographie? Warum fiel die Wahl für die Stelle des ordentlichen Professors der Geographie an der deutschen Universität Prag auf ihn? Im Folgenden soll insbesondere seine Einfügung in internationale Gelehrtennetzwerke erhellt werden.
Wie Oskar Lenz zum Kolonialgeographen wurde
Nachdem Lenz sich 1872 in Wien niedergelassen hatte, bekam er 1873 eine feste Stelle als Gehilfe an der kaiserlich-königlichen geologischen Reichsanstalt. Ab 1872 steuerte er den Verhandlungen dieser Anstalt zahlreiche Bodenbeschreibungen österreichischer und ungarischer Regionen bei. Die Entwicklung der Themen, die er in seinen Veröffentlichungen behandelte, ist aufschlussreich. Zwischen 1870 und 1895 verfasste er 152 Artikel bzw. Bücher, von denen 47 (31 Prozent) geologischen Themen gewidmet sind (Lenz 1895). Die meisten geologischen Beiträge datieren aber aus den Jahren vor 1879. In dieser Frühphase bildeten sie sogar fast ausschließlich die wissenschaftliche Produktion des Gelehrten. Nach seiner Rückkehr vom Ogooué-Becken verfasste er noch einige Artikel über Geologie. Gleichzeitig erweiterte er das Spektrum seiner Fragestellungen. Lenz wurde so zum Geographen mit allseitigen Kompetenzen und Interessen und befasste sich mit allen Aspekten der europäischen Kolonisation in Afrika: der Ethnologie/Völkerkunde, der Plantagewirtschaft, der Geschichte der Kolonisation, den kolonialen Spannungen zwischen den europäischen Mächten. Nach der Rückkehr von seiner ersten Reise kann eine Dreiteilung seiner schriftstellerischen Produktion festgestellt werden. Die geologischen Berichte erschienen in den Verhandlungen der k. k. geologischen Reichsanstalt; in geographischen Zeitschriften wurden verschiedene Aspekte der Kolonisation behandelt; Reiseberichte wurden in Tageszeitungen wie der Neuen Freien Presse oder in auflagenstarken Zeitungen wie der Leipziger Illustrirten Zeitung abgedruckt. Schon in den späten siebziger Jahren war Lenz dem breiten Publikum als Kolonisationsexperte bekannt.
Die Reise in die französische Kolonie Gabun und den Ogooué flussaufwärts bildete noch keinen Einschnitt in Lenz’ akademischer Karriere. Nach seiner Rückkehr nach Wien trat er wieder seine alte Stelle an der geologischen Reichsanstalt an und widmete sich der geologischen Erkundung Galiziens. Den akademischen Durchbruch brachte die Reise von Tanger nach Saint-Louis: Er wurde zuerst zum Geologen der geologischen Reichsanstalt und Generalsekretär der kaiserlich-königlichen geographischen Gesellschaft (1883), dann zum ordentlichen Professor der Geographie an der Universität Czernowitz (1885) ernannt.
Die dritte Afrikareise trieb Lenz’ Karriere weiter voran. Sie wurde nicht von einer deutschen Gelehrten-Gesellschaft in Auftrag gegeben, sondern von der kaiserlich-königlichen geographischen Gesellschaft. Bei dieser Forschungsreise handelte es sich um ein Prestigeunternehmen des österreichischen Staates, das ein paar Wochen nach dem Ende der Berliner Kongokonferenz (November 1884-Februar 1885) angeregt wurde. Bei dem internationalen Scramble for Africa ging Österreich-Ungarn leer aus; die österreichische Kongo-Expedition war auch ein Mittel für die Donaumonarchie, sich symbolisch an der Kolonisierung des afrikanischen Kontinents zu beteiligen, wie der Aufruf für eine österreichische Kongo-Expedition im April 1885 deutlich machte:
Ein neues Zeitalter der Entdeckungen ist angebrochen und eine mächtige Bewegung durchzieht ganz Europa, welche die Erforschung und Colonisation des uns am längsten verschlossen gebliebenen afrikanischen Continentes anstrebt. […] Soll unsere große Monarchie allein diesen ruhmvollen Bestrebungen fern bleiben? Nunmehr aber gilt es, ein schönes ideales Ziel zu erreichen, und keinem Staate fiele eher diese Aufgabe zu, als Österreich, welches sich bisher an dem Wettbewerbe um Gebiete in fremden Erdtheilen nicht betheiligt hat.
Vor dem Anfang der Berliner Kongo-Konferenz hatte sich Lenz ausdrücklich für eine tatkräftigere österreichische Kolonisation in Afrika ausgesprochen:
Die Theilung Afrikas geht vor unseren Augen vor sich, Jeder sucht sich etwas zu reserviren, und Oesterreich! […] Westafrika ist jetzt so gut wie völlig besetzt, so dass hier österreichische Kaufleute unmöglich die Concurrenz mit den englischen, deutschen, holländischen, portugiesischen und spanischen Firmen aufnehmen könnten. Aber wie wäre es, wenn man einmal die grosse Somali-Halbinsel in’s Auge fassen wollte, mit der gewaltigen Küstenstrecke, welche vom Ausgange des Rothen Meeres bis zum Sultanat von Zanzibar reicht und noch von keiner europäischen Macht beansprucht worden ist!
Als Lenz den gerade zitierten Artikel verfasste, waren die Kräfteverhältnisse zwischen den europäischen Mächten im östlichen Afrika noch offen. Carl Peters und die Gesellschaft für deutsche Kolonisation hatten noch keinen Anspruch auf Ostafrika erhoben und die Reichsleitung keinen Schutzbrief erlassen (27. Februar 1885). Als die Österreichische geographische Gesellschaft im April 1885 erstmals für eine österreichische Expedition in den Kongo mobil machte, hatte sich die internationale Konstellation verändert und eine direkte Kolonisation Ostafrikas durch Österreich erschien nicht mehr realistisch.
Das wissenschaftliche Ziel der Expedition bestand in der „Durchforschung der Länder zwischen Congo und Nil“. Über diese wissenschaftliche Zielsetzung hinaus hatte das Unternehmen aber einen kompensatorischen, symbolischen Charakter.
Obwohl Lenz während der Reise allerlei wertvolle Beobachtungen aufzeichnete, fiel ihr Ergebnis enttäuschend aus (Henze 1993: 216). Dessen ungeachtet wurde er 1887 auf direkte Intervention des österreichischen Unterrichtsministeriums mit der ordentlichen Professur in Prag betraut. Der Minister ließ die ursprüngliche Wahl des Prager Professorenkollegiums, das sich einstimmig für Dr Ferdinand Löwl ausgesprochen hatte, aufheben und erzwang Lenz’ Nominierung, der „sich auch in jüngster Zeit um die Förderung der geographischen Wissenschaft durch die unter seiner Leitung ausgesendeten und vor kurzem zurückgekehrten Expedition in das Innere Afrikas ein der besonderen Anerkennung wertes Verdienst erworben [hatte]“. Der Gedanke liegt nahe, dass Minister Gautsch Lenz für seine füh...