Physikalische Belustigungen, Metamorphosen im Musenalmanach: Naturkunde und Poesie in Zeitschriften der Aufklärung
Es scheint eine Selbstverständlichkeit, die man vielleicht trotzdem noch einmal aussprechen darf: Nicht jeder Text entfaltet in jedem Umfeld dieselbe Wirkung. Anders gesagt: Weil die Lektßre eines Textes wesentlich von seinem Kontext beeinflusst wird, kann ein veränderter Kontext eine neue Lesart ermÜglichen.
Johann Wolfgang von Goethe reflektiert diesen Sachverhalt in der Auseinandersetzung mit seiner Elegie Die Metamorphose der Pflanzen (1798). Das Gedicht verdankt sich bekanntlich seiner auf der âItalienischen Reiseâ entwickelten Idee der Urpflanze und gehĂśrt in seine Ăberlegungen zur Pflanzenmorphologie. Seine diesbezĂźglichen naturwissenschaftlichen Thesen formuliert er 1790 unter dem Titel Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären. Es handelt sich um eine knapp 90seitige â bei Ettinger in Gotha erschienene â Monographie. Nach diesem ersten Fachprosa-Text zum Thema publiziert Goethe acht Jahre später seine Elegie. Die Metamorphose der Pflanzen ist ein poetischer Text, ein Lehrgedicht (neuen Typus), und erscheint in Schillers Musen-Almanach fĂźr das Jahr 1799. 1817 schlieĂlich modelliert Goethe die Texte insofern neu, als er sie beide in seine Abhandlung Zur Morphologie integriert. Die Verpflanzung der Elegie in einen wissenschaftlichen Kontext begrĂźndet er damit, dass âsie, im Zusammenhang wissenschaftlicher Darstellung, verständlicher werden dĂźrfte, als eingeschaltet in eine Folge zärtlicher und leidenschaftlicher Poesienâ (Goethe 1977, 90).
Goethe korrigiert also nachträglich den Publikationsort seiner Elegie, den Musen-Almanach. Gleichwohl gilt sie ihm jetzt nicht etwa schlicht als ein fachwissenschaftlicher Beitrag. Vielmehr positioniert er das Gedicht explizit als ein Beispiel der gelungenen Verbindung von Wissenschaft und Poesie auf, wie er es nennt, âhĂśherer Stelleâ (Goethe 1977, 90).
Im Folgenden soll es nicht ästhetikgeschichtlich um dieses klassische Programm Goethes gehen, sondern medienhistorisch um den ursprĂźnglichen Publikationszusammenhang der Elegie in einem Periodikum. Die Aufklärung ist bekanntlich das Zeitalter einer explodierenden Zeitschriftenproduktion (Raabe 1974). Die Wochen- und Monatsschriften sind dabei keineswegs generell ein Raum der intensiven Interaktion von Naturkunde und Poesie (van Hoorn 2014). Einzelne prominente Beispiele jedoch besetzen diese Funktionsstelle ganz bewusst. Sie nutzen das Medium der Zeitschrift als einen neuen, offenen Kommunikationsraum, der gerade nicht die âZwei Kulturenâ Charles P. Snows festschreibt (Snow 1959), sondern in dem ein geselliges Gespräch, u. a. mit literarischen Techniken der Darstellung, auch Ăźber Gegenstände der Naturkunde mĂśglich ist.
In seiner längst kanonischen geschichtswissenschaftlichen Darstellung zum Phänomen der Popularisierung hat Andreas Daum die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als die Epoche der Wissenschaftspopularisierung charakterisiert (Daum 2002). FĂźr das achtzehnte Jahrhundert hingegen muss man umgekehrt festhalten: Die Verwissenschaftlichung folgt der Popularisierung (Gierl 2014, 67â68). Denn die fachwissenschaftlichen Journale des späten achtzehnten Jahrhunderts, wie etwa die bei Bertuch erscheinenden Allgemeinen Geographischen Ephemeriden (1798â1816), entstehen weniger aus der Tradition der gelehrten Akademieorgane, die als internes Archiv die Arbeit der Mitglieder einer wissenschaftlichen Gesellschaft dokumentieren (Christoph 2014). Sie sind eher dem wichtigsten neuen Zeitschriftentyp des achtzehnten Jahrhunderts verpflichtet, den so genannten Allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften.
Diese Allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften â der Begriff stammt von dem Wissenschaftshistoriker Rudolf Stichweh (1984) â richten sich ausdrĂźcklich zumindest auch an Laien. Die Zeitschriften dieses Typus haben den Anspruch, Wissen â gerade Neues, Interessantes, Noch-Nicht-Gesichertes â allgemeinverständlich zu präsentieren und zu diskutieren. Nicht zuletzt aus finanziellen GrĂźnden sind sie hinsichtlich der Inhalte einer gewissen Breite, hinsichtlich der Darstellung dem prodesse et delectare verpflichtet. Zeitschriftentitel wie Belustigungen des Verstandes und des Witzes (1741â1745) kĂźnden von diesem Programm. Weil die Allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften also nicht wie die Akademieschriften auf Dokumentation, sondern auf Kommunikation setzen, operieren viele von ihnen ausdrĂźcklich und programmatisch auch mit literarischen Verfahren und Texten: Poesie ist von Beginn an ein wesentlicher Bestandteil ihres Inhalts.
Am Ende des Jahrhunderts laufen im Zuge der Ausdifferenzierung fachwissenschaftliche und literarische Diskurse dann häufig räumlich getrennt â Schillers Musen-Almanach ist ein rein literarisches Periodikum, in dem wissenschaftliche Abhandlungen keinen Platz finden. Die Metamorphose der Pflanze bildet mit ihrem Wissenschaftsbezug eine isolierte Ausnahme. Ganz anders sieht das um die Jahrhundertmitte in Christlob Myliusâ Zeitschrift Der Naturforscher (1747/1748) aus. Eine thematisch dezidiert naturkundliche Ausrichtung geht hier einher mit einem allgemeinwissenschaftlichen Anspruch, d. h. einem populären, zur Literatur hin offenen Konzept.
1
Das vielleicht bedeutendste Zentrum der hochaufklärerischen Zeitschriftenproduktion ist Leipzig. Hier, im Gottsched-Kreis, florieren Periodika unterschiedlichster Façon. MaĂgeblich beteiligt ist daran Christlob Mylius, ein entfernter Vetter Gotthold Ephraim Lessings, der nicht nur an Johann Christoph Gottscheds Blättern mitwirkt, sondern auch und vor allem äuĂerst umtriebig eigene Zeitschriften grĂźndet. An seine religionskritischen Philosophischen Untersuchungen und Nachrichten (1744â1746) schlieĂt er mit der bereits im Titel noch deutlicher einem aufklärerischen Konzept verpflichteten Zeitschrift Der Freygeist (1745) an. Dann entwirft er das Journal, um das es im Folgenden gehen soll, den Naturforscher. Kurz darauf, nun wohnhaft in Berlin und Mitarbeiter u. a. der Berlinischen Privilegierten Zeitung (seit 1721), bringt Mylius zunächst die ebenfalls naturkundlich ausgerichteten, erfolgreichen Physikalischen Belustigungen (1751â1757) heraus (KoĹĄenina 2014), um dann mit dem Wahrsager (1749) wohl eines der ersten Klatsch- und Tratschmagazine der deutschen Zeitschriftenlandschaft aus der Taufe zu heben (Hildebrandt 1981, 33; Krätzer 1995, 514).84 All diese Zeitschriften erscheinen, wie damals Ăźblich, nur wenige Jahre. Ihr wichtigster Beiträger ist stets der Herausgeber selbst â auch dies ist keineswegs etwas Besonderes.
Unter dem Gesichtspunkt einer Interaktion von Naturkunde und Poesie ist Der Naturforscher einschlägig (Noreik 2014).85 In der programmatischen ersten Ausgabe vom 1. Juli 1747 skizziert Mylius sein Vorhaben. Selbstbewusst formuliert er den Anspruch, eine neuartige Zeitschrift zu begrĂźnden. Vorbild seien diejenigen âWehrleute, die ihre Gedanken nach und nach in einzelnen Blättern bekannt machenâ (Mylius 1747, 3); Mylius bezieht sich also auf kämpferische Publizisten (âWehrleuteâ), denen es inhaltlich nicht um Banalitäten (sondern um âGedankenâ) zu tun ist und die sich ganz bewusst (aus erst später erläuterten âhinlängliche[n] Ursachenâ [Mylius 1747, 3]) des periodischen Mediums bedienen (und ihre Gegenstände also ânach und nach in einzelnen Blätternâ präsentierten). Konkret gemeint und ausdrĂźcklich genannt sind die BegrĂźnder der Moralischen Wochenschriften Joseph Addison und Richard Steele, deren The Spectator (1711/1712 und 1714), The Tatler (1709/1711) etc. in Deutschland eifrige Nachahmer gefunden hätten (was natĂźrlich auf Gottscheds VernĂźnftige Tadlerinnen [1725â 1726] u. ä. zielt). Das Profil derartiger Wochenschriften charakterisiert Mylius gewissermaĂen medientheoretisch in Abgrenzung zu monographischen Darstellungen. Gegen die âtrockne[n] und weitläuftige[n]â (Mylius 1747, 4) systematischen Abhandlungen setzten die Moralischen Wochenschriften auf Rezipientenfreundlichkeit, gegen Allgemeinheitsanspruch bĂśten sie Ausschnitthaftigkeit. Deshalb seien sie dem Ideal der KĂźrze und einer Vortragsweise mit âlachendem Mundeâ (Mylius 1747, 4) verpflichtet. Häppchenweise, im Ton launig und kurzweilig, undogmatisch, die Gegenstände mal dies, mal das: Darin erblickt Mylius â zu Recht â Charakteristika der Moralischen Wochenschriften (Martens 1968).
Dieser Darstellungsform will er folgen, aber doch mit einem wichtigen inhaltlichen Innovationsanspruch: Die meisten Wochenschriften seien bislang auf moralische Fragen bzw. auf Aspekte des tugendhaften Verhaltens ausgerichtetet gewesen. Da jedoch â[n]icht nur der Wille, sondern auch der Verstand [âŚ] gebessert werdenâ (Mylius 1747, 4), ja, letzterer eigentlich sogar als Voraussetzung des ersteren angesehen werden mĂźsse, ergebe sich natĂźrlicher Weise die Forderung nach einem philosophischen Periodikum: âMan muĂ fĂźr den Verstand auch Wochenblätter schreiben.â (Mylius 1747, 5) FĂźr sein diesbezĂźgliches Vorhaben erscheint ihm aus dem groĂen Feld der Philosophie allerdings nicht die abstraktdeduktive Logik oder Metaphysik, sondern die sinnlich-konkrete Physik bzw. Naturlehre (im damaligen System der Fakultäten bekanntlich Teil der Philosophie) ein geeigneter Gegenstand. Den etablierten Tugendschulungs-Periodika will Mylius folglich eine neue, ausdrĂźcklich âphysikalische Wochenschriftâ zur Seite stellen (Mylius 1747, 6). Gedachte Rezipienten sind Laien, die, angeregt durch die kurztaktig mitgeteilten aktuellen eigenen Beobachtungen des Verfassers, zur Betrachtung der Natur ermuntert und so nach und nach selbst zu (im seinerzeitigen positiven Sinne) naturkundlichen Dilettanten ausgebildet werden sollen. Um die, wie es heiĂt, âFremdlinge im Reiche der Naturâ (Mylius 1747, 7), nicht unnĂśtig zu strapazieren, tue Abwechslung Not. Diese Funktion sollen âauchâ (Mylius 1747, 7) eingestreute Werke der Dichtkunst erfĂźllen. Sie werden damit eingangs betont vorsichtig lanciert und dem naturkundlichen Gehalt explizit unter- bzw. als Dienstleister zugeordnet. In der Umsetzung geht die Zeitschrift dann entscheidend weiter.
2
Der Naturforscher erscheint, wie die Selbstcharakterisierung als Wochenschrift ja auch ankĂźndigt, wĂśchentlich, immer samstags, und zwar, wie eine Notiz am Ende des ersten StĂźcks verrät, âan der Ecke des Schustergässchens bey dem Buchhändler Johann Gottlieb Crullâ (Mylius 1747, 8). Der Umfang einer Ausgabe liegt bei acht Seiten, der Preis bei acht Pfennigen. Es spricht eine Instanz namens âDer Naturforscherâ, der von sich selbst in der ersten Person Singular redet und hin und wieder, etwa bei der Schilderung bestimmter historisch verbĂźrgter Reiseerlebnisse, eindeutig als Christlob Mylius identifizierbar ist. Jedes Heft ist, dem Muster der Moralischen Wochenschriften folgend, Ăźblicherweise einem Thema gewidmet, zu dem ein einzelner, die Ausgabe fĂźllender, titelloser Text präsentiert wird.
So erĂśffnet Mylius das zweite StĂźck im Juli 1747 mit Reflexionen Ăźber den (gerade jetzt so unerträglich heiĂen) Sommer und Ăberlegungen zur Erklärung von Gewittern. Er fĂźhrt dieses Thema dann im Fortsetzungsstil weiter, wobei er durchaus einen längeren Atem beweist â erst im neunten StĂźck kommt die angekĂźndigte zweite Sommer-Abhandlung.
Wenn sich der Naturforscher einmal dabei ertappt, allzu grĂźndlich geworden zu sein, kommentiert er das selbstironisch und schafft unverzĂźglich einen Kontrapunkt. Eine sich Ăźber zwei Ausgaben (viertes und fĂźnftes StĂźck des Jahres 1747) erstreckende Abhandlung zu den drei Reichen der Natur â Mineralien, Pflanzen, Tiere â, die in einer seitenlangen Liste zur Klassifikation verschiedener Gattungen gipfelt, scheint ihm selbst allzu systematisch und pedantisch geraten. Er kĂźndigt im nächsten Heft daher ausdrĂźcklich an, nun âunordentlichâ sein zu wollen, und präsentiert eine offensichtlich unernste, in Scheinparagraphen gegliederte Abhandlung zu einer so genannten âPhysikopetitmaitrikâ, einer vermeintlichen Wissenschaft von den physikalischen Kenntnissen junger Herren, die sich mit KĂźssen, dicken Waden und ähnlich Jokosem befasse (sechstes StĂźck 1747).
Der Naturforscher kennt also mindestens zwei miteinander kontrastierende Tonarten: Der echten Belehrung in ungebrochener Fachprosa steht eine scherzhafte Ironisierung von Wissenschaft und Wissenschaftlern im Duktus der Wissenschaftssatire gegenĂźber.
Letzteres geschieht insbesondere auch Ăźber (vermutlich durchweg fingierte und) teilweise geradezu offensiv alberne Leserbriefe.
FĂźnf Wochen nach Erscheinungsbeginn gibt es eine erste solche Reaktion des Publikums auf die neue Zeitschrift: Es geht um die Frage, ob ein gewisser Herr Thomas Raupe tatsächlich so tĂśricht sei, in seinem Naturalienkabinett statt der Schmetterlinge nur ihre Vorstufe, die Raupen, zu sammeln. Schon das siebte StĂźck präsentiert weitere Briefe. Etwa den eines vermeintlichen âPriscianus Cicero Ernst Wortforscherâ (Mylius 1747, 53). Dieser mokiert sich darĂźber, dass er in Buchläden die Zeitschrift Der JĂźngling (1748/1749) neben der Myliusâschen, mithin einen Sittenforscher neben einem Naturf...