Europa ist in der Krise. Angesichts Brexit, dringender FlĂŒchtlings- und Einwanderungsfragen, Diskussionen ĂŒber den Ausschluss insolventer LĂ€nder und dem demokratischen Defizit der EU ist dieser Befund zu einem Allgemeinplatz geworden. Als einen Weg aus der Krise schlagen Politiker_innen, EU-Beamt_innen und Intellektuelle oftmals die StĂ€rkung des Zusammenhalts durch die RĂŒckbesinnung auf die angenommene gemeinsame Geschichte Europas und eine daraus erwachsene kulturelle IdentitĂ€t vor.
Dieser Herausforderung stellen sich zunehmend auch aktuelle Nationalmuseen in Europa, indem sie es sich zur Aufgabe machen, sich zu europÀisieren: sie setzen es sich zum Ziel, nicht mehr nur die Nation und ihre Geschichte, sondern Europa und europÀische Geschichte zu zeigen.
Die Studie zeigt, dass die EuropĂ€isierung nationaler Museen auf starke nationale und strukturelle WiderstĂ€nde stöĂt. Ein gesamteuropĂ€isches Narrativ Europas und seiner Geschichte ist deshalb bislang nicht in Sicht.
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Szene 1: Danzig, Polen 2015. Am Ende der Dauerausstellung des EuropĂ€ischen SolidarnoĆÄ Zentrum (ECS) werden die Besucher_innen aufgefordert, ihre EindrĂŒcke auf kleinen weiĂen und roten Karten zu beschreiben und die Karten so an die Wand zu hĂ€ngen, dass sich der Schriftzug »SolidarnoĆÄ« ergibt (Abb. 1).
Dietmar schreibt am 7. September 2014 »Great exhibition â a must to see [sic] for all Europeans«. Daneben hĂ€ngt eine Karte von Tomek, der auf Polnisch schreibt »An Orten wie diesen bin ich stolz, Pole zu sein [Ăbersetzung: S.C.].«
Szene 2: Berlin, Deutschland 1982. Der Berliner BĂŒrgermeister Richard von WeizsĂ€cker fordert, ein nationales Geschichtsmuseum in Berlin zu bauen, das zur Identifikation der BĂŒrger_innen mit dem Nationalstaat beitragen soll. Bundeskanzler Helmut Kohl unterstĂŒtzt den Plan und eine von der Bundesregierung eingesetzte Expert_innenkommission beschreibt in der ersten Konzeption das Ziel der neuen Institution mit dem Namen Deutsches Historisches Museum (DHM) wie folgt: »Das Museum soll vor allem den BĂŒrgern unseres Landes helfen, sich darĂŒber klarzuwerden, wer sie als Deutsche und EuropĂ€er, als Bewohner einer Region und als Angehörige einer weltweiten Zivilisation sind, woher sie kommen, wo sie stehen und wohin sie gehen könnten« (Stölzl 1988: 310f., Hervorhebung: S.C.).
Diese Szenen stammen aus ganz unterschiedlichen zeitlichen, politischen und nationalen Kontexten. Die genannten Museen haben sehr verschiedene inhaltliche Ausrichtungen und behandeln unterschiedlichste Themen und ZeitrÀume. Dennoch einen diese Museen drei Beobachtungen, die die vorliegende Studie motivieren:
Erstens lĂ€sst sich an diesen Beispielen eine Entwicklung beobachten, die sich seit rund 30 Jahren in europĂ€ischen Museen vollzieht: Museen verschiedener Arten, vor allem aber historisch ausgerichtete Museen, setzen es sich zum Ziel, den Rahmen nationaler ErzĂ€hlungen zu ĂŒbertreten und öffnen sich auf Europa und europĂ€ische Geschichte (vgl. Kaiser et al. 2012, siehe Kapitel 2.6). Die EuropĂ€isierung des Museumsfelds stellt einen fundamentalen Wandel fĂŒr die Institution des Museums dar, denn diese wurde im achtzehnten Jahrhundert im Dienst der Nation gegrĂŒndet. Nationalmuseen, und auch hier insbesondere geschichtlich ausgerichtete Museen, dienten dazu, die materiellen Errungenschaften der Nation zu sammeln und vor Augen zu fĂŒhren und damit die imagined community der Nation zu stĂ€rken (vgl. Anderson 1996). Die Idee, eine nationale Geschichte, Kultur und IdentitĂ€t zu haben fand im Museum ihre materiellen Beweise (siehe Kapitel 2.5). Mit der aktuell zu beobachtenden Ăffnung von Nationalmuseen auf Europa entsteht das PhĂ€nomen, das diese Studie untersucht: Museen zwischen Nation und Europa. Alle drei hier ausgesuchten FĂ€lle sind nationale Museumsprojekte, die sich gleichwohl nicht mehr nur auf die Nation, sondern auf Europa beziehen. Ich bezeichne sie deshalb als europĂ€isierte Nationalmuseen. Das Museum in Danzig nennt sich selbst europĂ€isch, obwohl es auf den ersten Blick um eine polnische Geschichte geht. Das Deutsche Historische Museum in Berlin möchte den Deutschen ihre IdentitĂ€t als Deutsche und EuropĂ€er_innen vor Augen fĂŒhren und dazu den »europĂ€ischen Charakter der deutschen Geschichte« betonen (Stölzl 1988: 312). Und das MuCEM, das aus dem ethnologischen Nationalmuseum Frankreichs hervorgegangen ist, ĂŒberschreitet nicht nur nationale, sondern auch europĂ€ische Rahmungen, indem es die Beziehungen zwischen Europa und dem Mittelmeerraum fokussiert. Es ist das Schwanken nationaler Museen zwischen nationalen und europĂ€ischen Ausrichtungen, das die drei FĂ€lle vereint und im Zentrum dieser Studie steht.
Drittens geht es in den drei Beispielen jedoch nicht nur um Vergangenes, sondern auch um aktuelle Verhandlungen kollektiver Erinnerungen und IdentitĂ€ten zwischen den beiden Polen Nation und Europa. Dietmar spricht auf seiner Karte am Ende der Ausstellung im ECS von »Europeans« und findet, alle EuropĂ€er_innen sollten die Ausstellung des ECS sehen, wohingegen Tomek sich eindeutig als Pole angesprochen und durch die Ausstellung in dieser Identifikation gestĂ€rkt fĂŒhlt. Offensichtlich bietet das ECS mit seiner GeschichtserzĂ€hlung der polnischen SolidarnoĆÄ-Bewegung IdentitĂ€tsentwĂŒrfe auf verschiedenen Ebenen an. Auch die Konzeption des DHM spricht von Erinnerung und kollektiven IdentitĂ€ten: In der ersten Konzeption von 1986 heiĂt es: »Das Museum soll Ort der Selbstbestimmung und der Selbsterkenntnis durch historische Erinnerung sein« (Stölzl 1988: 311). Der museale Blick in die Vergangenheit soll der »Selbstbestimmung« und »Selbsterkenntnis« in der Gegenwart und fĂŒr die Zukunft dienen. Durch die als gemeinsam entworfene Geschichte eines »woher sie kommen« sollen verschiedene Gruppen ihre IdentitĂ€ten erkennen und bestimmen, »wer sie als Deutsche und EuropĂ€er [âŠ]« sind (Stölzl 1988: 310f.). Wie die hier angerissenen Beispiele zeigen, liegt die Relevanz und AktualitĂ€t von Museen zwischen Nation und Europa darin, dass im Fokus dieser Museen nicht nur Geschichte steht. Museen sind nicht nur Institutionen, die sich mit Vergangenem befassen, sondern auch Medien kollektiver GedĂ€chtnisse und IdentitĂ€ten, mit und in denen eine Gesellschaft verhandelt, was fĂŒr sie in der Gegenwart und Zukunft wichtig ist. Kapitel 2.4 entwirft deshalb einen differenzierten Begriff von musealer Historiografie, der auch Verhandlungen kollektiver IdentitĂ€ten in der Gegenwart einschlieĂt. Deren Brisanz zeigt sich an der Frage, was die untersuchten Museen als Europa und europĂ€isch zeigen und wer dabei als nicht-europĂ€isch konstruiert wird.
Museen zwischen Nation und Europa, so lĂ€sst sich einleitend festhalten, eröffnen ein Spannungsfeld zwischen nationaler und europĂ€ischer Historiografie, da sie den bisher dominanten Bezugsrahmen der Nation durch die Ausrichtung auf Europa zur Disposition stellen. Innerhalb dieses Spannungsfeldes verhandeln sie jedoch nicht nur Geschichte, sondern auch aktuelle Themen, Identifikationsangebote und Zugehörigkeiten zwischen den beiden Polen Nation und Europa. Ihre Besucher_innen sollen sich nicht nur als Angehörige einer Nation, sondern als EuropĂ€er_innen fĂŒhlen. Ausgehend von diesen Beobachtungen stellt sich fĂŒr die vorliegende Studie die Frage, wie aktuelle historisch ausgerichtete Nationalmuseen Europa und europĂ€ische Geschichte entwerfen. Diese Hauptfrage gliedere ich in zwei Unterfragen: Erstens gehe ich aufbauend auf konstruktivistischen Museumstheorien davon aus, dass Museen Wirklichkeit und Geschichte nicht vorfinden und abbilden, sondern aktiv an ihrer Hervorbringung mitwirken (siehe Kapitel 2.1). Europa und europĂ€ische Geschichte sind in dieser Perspektive keine feststehenden, klar definierbaren GröĂen mit bestimmbaren WesenszĂŒgen, sondern sich stetig wandelnde Konstruktionen, die jedoch den Anschein von Fakten erlangt haben. Da diese Konstruktionen immer abhĂ€ngig sind von den Medien, die ihnen zur VerfĂŒgung stehen, liegt das Augenmerk dieser Studie insbesondere auf den Medien der musealen Historiografie (siehe Kapitel 2.2): Wie, das heiĂt mit welchen Medien und Medienkonstellationen machen die untersuchten Nationalmuseen Europa und europĂ€ische Geschichte in ihren Ausstellungen wahrnehmbar und vorstellbar? Um diese Frage bearbeiten zu können, entwickelt die vorliegende Studie das Konzept der Europamedien (siehe Kapitel 2.6). Als Europamedien bezeichne ich Dinge, die Vorstellungen von Europa und europĂ€isch hervorbringen, verhandeln und verbreiten. Die Bilder und Narrative Europas und europĂ€ischer Geschichte, die sie hervorbringen, werden dabei in entscheidender Weise durch ihre je spezifische MedialitĂ€t geprĂ€gt. Europamedien arbeiten mit daran, was und wer als Europa und als europĂ€isch gilt. Dies fĂŒhrt zur zweiten Unterfrage: Welche Narrative, Bilder und Topoi Europas und seiner Geschichte inszenieren aktuelle Nationalmuseen als Europamedien? Was bedeuten »Europa« und »europĂ€isch« in den untersuchten Museen? Was und wen zeigen sie als europĂ€isch? Wer gehört dagegen in den musealen Historiografien nicht zu Europa?
Des Weiteren fehlt in der bisherigen Forschung zu europĂ€ischen Narrativen in Museen die Verbindung der Frage nach der EuropĂ€isierung von Museen mit Analysekategorien, die helfen, strukturelle Ein- und AusschlĂŒsse aufzuzeige...