Der leere Raum
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Der leere Raum

The Empty Space

Peter Brook, Walter Hasenclever

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  1. 200 pages
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Der leere Raum

The Empty Space

Peter Brook, Walter Hasenclever

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Der leere Raum ist der Klassiker unter den Büchern zum Theater. Es basiert auf vier Vorlesungen, die Peter Brook unter dem Titel The Empty Space: The Theater Today in den sechziger Jahren an den Universitäten von Hull, Keele, Manchester und Sheffield hielt. 1968 erschienen diese Gedanken zum Gegenwartstheater in Buchform. Nachdem der Band für längere Zeit vergriffen war, machte ihn der Alexander Verlag 1983 wieder greifbar für das deutsche Publikum.Brook unterteilt das Theater in vier verschiedene Formen: Das konventionelle Theater definiert er als "tödlich", das an Ritualen festhaltende Theater als das "heilige", das leicht verständliche, volksnahe Theater als "derbes" und das von ihm favorisierte als "unmittelbares Theater".

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Information

Year
2016
ISBN
9783895814150

IV

Das unmittelbare Theater

Es besteht kein Zweifel, daß das Theater ein sehr besonderer Ort sein kann. Es ist wie ein Vergrößerungsglas und ebenso wie eine Verkleinerungslinse. Es ist eine kleine Welt und kann daher auch leicht eine kleinliche sein. Es ist anders als das Alltagsleben und kann daher leicht vom Leben geschieden werden. Andererseits bleibt in einer Zeit, in der wir immer weniger in Dörfern leben und immer mehr in nicht begrenzten globalen Gemeinschaften, die Theatergemeinschaft die gleiche: die Personenzahl eines Stückes ist immer noch so groß wie eh und je. Das Theater engt das Leben ein, und zwar in mehreren Beziehungen. Es ist immer schwer für den Menschen, im Leben ein einziges Ziel zu haben – im Theater ist jedoch das Ziel klar. Von der ersten Probe an ist das Ziel immer sichtbar, nicht zu weit entrückt, und bezieht jeden mit ein. Wir können viele gesellschaftliche Strukturen in Funktion sehen: der Druck einer Premiere mit ihren unverkennbaren Anforderungen bringt jene Zusammenarbeit, jene Hingebung, jene Energie und die Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der anderen hervor, die eine Regierung außer in Kriegszeiten noch niemals hat aufbringen können.
Außerdem ist in der Gesellschaft im allgemeinen die Rolle der Kunst undeutlich. Die meisten Menschen könnten wunderbar ohne irgendwelche Kunst leben – und selbst wenn sie ihren Mangel bedauerten, würde es ihre Funktionen in keiner Weise beeinträchtigen. Aber im Theater gibt es keine solche Trennung. In jedem Augenblick ist die praktische Frage auch eine künstlerische: Der inkonsequenteste, ungeschickteste Schauspieler ist so sehr mit der Frage von Stimme und Tempo, Intonation und Rhythmus, Position, Distanz, Farbe und Form befaßt wie der geschickteste. Bei der Probe spielen die Höhe eines Stuhls, das Gewebe eines Kostüms, die Helligkeit des Lichts, die Qualität des Gefühls immerzu eine Rolle: die Ästhetik ist praktisch. Die Behauptung, daß das so sein müsse, weil das Theater eine Kunst ist, wäre falsch. Die Bühne ist eine Spiegelung des Lebens, aber dieses Leben könnte keinen Augenblick durchlebt werden, wenn es kein Arbeitssystem gäbe, das sich auf die Beobachtung gewisser Werte und das Fällen von Werturteilen stützt. Ein Stuhl wird zur Bühnenfront oder in den Hintergrund gerückt, weil es »so besser ist«. Zwei Säulen sind falsch, aber wenn man eine dritte hinzufügt, wird es »richtig« – die Wörter »besser, schlechter, nicht so gut, schlecht« werden Tag für Tag angewandt, aber diese Wörter, die Entscheidungen beherrschen, haben überhaupt keine moralische Bedeutung.
Alle, die sich für Vorgänge in der natürlichen Welt interessieren, hätten großen Gewinn, wenn sie die Theaterverhältnisse einer Untersuchung unterzögen. Ihre Entdeckungen hätten, auf die Gesellschaft angewandt, im allgemeinen viel mehr Sinn als das Studium der Ameisen und Bienen. Unter dem Vergrößerungsglas sähen sie eine Menschengruppe, die die ganze Zeit nach präzisen, gemeinsamen, aber ungenannten Normen lebt. Sie würden sehen, daß in einem Gemeinwesen das Theater entweder keine besondere Funktion versieht – oder eine einzigartige. Die Einzigartigkeit der Funktion besteht darin, daß es etwas bietet, das man nicht auf der Straße, zu Hause, in der Kneipe, bei Freunden oder auf der Couch des Psychiaters finden kann; weder in der Kirche noch im Kino. Es gibt nur einen interessanten Unterschied zwischen dem Kino und dem Theater. Das Kino wirft auf eine Leinwand Bilder der Vergangenheit. Da sich das Hirn eben dies im ganzen Leben antut, scheint der Film auf vertraute Weise wirklich zu sein. Selbstverständlich ist er das ganz und gar nicht – er ist eine befriedigende und gefällige Weiterführung der Unrealität der täglichen Wahrnehmung. Das Theater bietet sich andererseits immer in der Gegenwart dar. Damit kann es realer werden als der normale Bewußtseinsstrom. Und das kann es auch so beunruhigend machen.
Kein Tribut an die latente Macht des Theaters ist so aufschlußreich wie der, den ihm der Zensor zollt. In fast allen Regimes, selbst wenn das geschriebene Wort frei ist, das Bild frei ist, wird die Bühne immer am spätesten befreit. Instinktiv wissen die Regierungen, daß das lebendige Ereignis eine gefährliche Hochspannung schaffen kann – wenn das auch nur allzu selten vorkommt. Aber diese uralte Furcht ist die Anerkennung einer uralten Möglichkeit. Das Theater ist die Arena, wo sich eine lebendige Konfrontation ereignen kann. Die Konzentration einer großen Menschengruppe schafft eine einzigartige Intensität – und dadurch können Kräfte, die ständig am Werk sind und das tägliche Leben eines jeden Menschen bestimmen, isoliert und deutlicher erkannt werden. Und jetzt muß ich schamlos persönlich werden. In den drei vorausgegangenen Kapiteln habe ich allgemein von verschiedenen Formen des Theaters gesprochen, wie sie sich in der ganzen Welt darbieten, und natürlich auch, wie sie sich mir darbieten. Wenn sich dieser abschließende Abschnitt, der notwendigerweise eine Art Schlußfolgerung enthält, der Form eines Theaters annimmt, das ich zu empfehlen scheine, dann deshalb, weil ich nur von dem Theater sprechen kann, das ich kenne. Ich muß meinen Horizont verengen und autobiographisch von dem Theater sprechen, wie ich es verstehe. Ich will versuchen, über Aktionen und Folgen von meinem Arbeitsbereich her zu sprechen: dies bestimmt meine Erfahrung und meinen Gesichtspunkt. Der Leser muß seinerseits bedenken, daß diese von den Eintragungen in meinem Paß nicht zu trennen sind – Nationalität, Geburtsdatum, Geburtsort, körperliche Merkmale, Farbe der Augen, Unterschrift. Sie sind ebenfalls von dem heutigen Datum nicht zu trennen. Dies ist ein Bild des Autors im Augenblick des Schreibens: er sucht und tastet innerhalb eines verfallenden und sich entfaltenden Theaters. Mit der Fortsetzung meiner Arbeit nimmt jede Erfahrung diesen Schlüssen wieder ihre Schlüssigkeit. Es ist unmöglich, die Funktion eines Buches zu berechnen – aber ich hoffe, daß dies sich vielleicht irgendwo als nützlich erweisen wird, und zwar für jemanden, der mit den eigenen, auf eine andere Zeit und Örtlichkeit bezogenen Problemen ringen muß. Wollte es aber jemand als ein Handbuch gebrauchen, dann kann ich ihn nur warnen – es gibt keine Formeln; es gibt keine Methoden. Ich kann eine Übung oder eine Technik beschreiben, aber jeder, der versucht, sie nach meiner Beschreibung zu reproduzieren, wird sicher enttäuscht sein. Ich würde jedem beliebigen Menschen ohne weiteres alles, was ich von Theaterregeln und - techniken weiß, in wenigen Stunden beibringen. Der Rest ist Praxis – und die kann man sich nur allein aneignen. Wir können lediglich versuchen, diese in begrenztem Maße nachzuzeichnen, wenn wir die Vorbereitung eines Stückes zur Aufführung ins Auge fassen.
Bei der Aufführung gilt die Beziehung Schauspieler/Subjekt/Publikum. Bei der Probe ist sie Schauspieler/Subjekt/ Regisseur. Die früheste Beziehung ist Regisseur/Subjekt/Bühnenbildner. Szenenbild und Kostüme können sich bei der Probe zuweilen zugleich mit der übrigen Inszenierung entwikkeln, aber oft zwingen praktische Überlegungen von Bauten und Kostümschneiderei den Bildner, seine Arbeit vor der ersten Probe schon fix und fertig zu haben. Ich habe oft meine eigenen Entwürfe gemacht. Das kann ein handgreiflicher Vorteil sein, aber aus einem ganz besonderen Grund. Wenn der Regisseur sich so betätigt, dann entwickelt sich sein theoretisches Verständnis des Stückes und dessen Übertragung in Formen und Farben im gleichen Tempo. Eine Szene kann dem Regisseur mehrere Wochen lang unklar bleiben, eine Form im Bühnenbild kann unvollständig erscheinen – wenn er dann am Bühnenbild arbeitet, kann ihm plötzlich klarwerden, wo diese bisher nicht verstandene Szene hingehört; wenn er an der Struktur einer schwierigen Szene arbeitet, kann ihm plötzlich der Sinn als Bühnenhandlung und als eine Abfolge von Farben vor Augen stehen. Bei der Arbeit mit einem Bühnenbildner ist eine Gleichstimmung des Tempos von vordringlicher Wichtigkeit. Ich habe voll Vergnügen mit vielen hervorragenden Bühnenbildnern gearbeitet – fand mich aber manchmal in seltsamen Schlingen gefangen, wenn der Bühnenbildner eine zwingende Lösung zu schnell gefunden hatte – so daß ich Formen gutheißen oder ablehnen mußte, bevor ich begriffen hatte, welche Formen sich aus dem Text ergaben. Wenn ich die falsche Form annahm, weil ich keinen logischen Grund fand, um der Überzeugung des Bildners entgegenzutreten, verstrikkte ich mich in eine Schlinge, aus der die Inszenierung sich nie befreien konnte, und produzierte infolgedessen etwas sehr Schlechtes. Ich fand oft, daß das Bühnenbild die Geometrie des schließlich gespielten Stückes ist, so daß die falsche Ausstattung die Darstellung vieler Szenen unmöglich macht und selbst den Schauspielern viele Möglichkeiten verbaut. Der beste Bühnenbildner geht Schritt für Schritt mit dem Regisseur voran oder zurück, ändert, verwirft, während die Sicht des Ganzen sich allmählich abzeichnet. Ein Regisseur, der seine eigene Ausstattung entwirft, glaubt natürlich nie, daß die Vollendung der Bilder ein Selbstzweck sein könnte. Er weiß, daß er gerade am Anfang eines langen Wachstumszyklus steht, weil die eigene Arbeit noch vor ihm liegt. Dagegen meinen viele Bühnenbildner, daß mit der Ablieferung der Bilder und den Entwürfen der Kostüme ein bedeutender Teil ihrer eigenen schöpferischen Arbeit wirklich schon vollendet ist. Das bezieht sich besonders auf gute Maler, die im Theater arbeiten. Für sie ist ein vollendeter Entwurf vollendet. Kunstliebhaber können nie verstehen, warum die ganzen Bühnenentwürfe nicht von »großen« Malern und Bildhauern angefertigt werden. Was jedoch nottut, ist ein vollendeter Entwurf, ein Entwurf, der klar ist, ohne starr zu sein; einer, den man »offen« nennen könnte und nicht »geschlossen«. Das ist der Kern theaterbezogenen Denkens: ein echter Bühnenbildner wird seine Entwürfe als immerzu in Bewegung oder Aktion befindlich betrachten, in Verbindung mit dem, was der Schauspieler einer sich entfaltenden Szene geben kann. Mit anderen Worten: im Gegensatz zu dem Maler mit der Staffelei in zwei Dimensionen oder dem Bildhauer in dreien denkt der Bühnenbildner in den Begriffen einer vierten Dimension, des Ablaufs der Zeit – nicht des Bühnenbilds, sondern des beweglichen Bühnenbilds. Ein Filmredakteur formt sein Material nach dem Ereignis, der Bühnenbilder ist oft wie der Redakteur eines Alice-durch-den-Spiegel-Films, denn er schneidet und arrangiert das dynamische Material zu Formen, bevor das Material ins Dasein getreten ist.
Es ist sehr einfach – und kommt auch recht oft vor – , die Darstellung eines Schauspielers durch das falsche Kostüm zu ruinieren. Der Schauspieler, den man nach seiner Ansicht über einen Kostümentwurf fragt, bevor die Proben beginnen, ist in einer ähnlichen Lage wie der Regisseur, der um eine Entscheidung gebeten wird, bevor er dazu bereit ist. Er hat bisher noch keine physische Erfahrung seiner Rolle – daher sind seine Ansichten theoretisch. Wenn der Zeichner mit Panache skizziert, und wenn das Kostüm in sich schön ist, dann nimmt es der Schauspieler oft mit Begeisterung an, um Wochen später zu erkennen, daß es zu allem, was er auszudrücken wünscht, nicht paßt. Für die Arbeit des Entwerfens ist das Problem grundlegend – was soll ein Schauspieler tragen? Ein Kostüm entspringt nicht einfach dem Kopf des Zeichners: es entspringt dem Milieu. Man denke an die Situation eines weißen Schauspielers, der einen Japaner darstellen soll. Selbst wenn man zu jedem Mittel greift, so wird sein Kostüm niemals die Ausstrahlungskraft eines Samurai in einem japanischen Film haben. In einem authentischen Bühnenbild sind die Details richtig und aufeinander bezogen. In einer Kopie, die auf dem Studium von Dokumenten basiert, findet sich fast unumgänglich eine stete Kette von Kompromissen; das Material ist nur mehr oder weniger dasselbe, das Detail des Zuschnitts angepaßt und annähernd, schließlich ist der Schauspieler selbst nicht imstande, das Kostüm mit der instinktiven Selbstverständlichkeit zu bewohnen wie die Männer, die direkt an der Quelle sitzen.
Wenn wir durch Nachahmungsprozesse einen Japaner oder Afrikaner nicht befriedigend darstellen können, so gilt dasselbe für die sogenannte »Epoche«. Ein Schauspieler, dessen Arbeit in der Probenbekleidung überzeugend wirkt, verliert leicht diese Echtheit, wenn er sich in eine Toga kleidet, die einer Vase des Britischen Museums nachgebildet ist. Aber Alltagskleidung bietet selten die Lösung des Problems, denn sie ist meistens für eine Aufführung unangemessen. Das No-Theater hat zum Beispiel rituelle Schauspielkleider aufbewahrt, die von großer Schönheit sind, ebenso die Kirche. Zur Zeit des Barocks gab es eine zeitgenössische »feine Kluft« – die dann auch der Kleidung für Theater oder Oper zugrunde lag. Der romantische Ball war noch bis vor kurzem eine gültige Quelle für begabte Entwurfzeichner wie Oliver Messel. Und als später noch in Rußland die weiße Binde und der Frack nach der Revolution aus dem Gesellschaftsleben verschwanden, bildeten sie weiterhin die formelle Basis für die richtige und angemessene Bekleidung von Musikern, wodurch sich die Probe von der Aufführung unterschied.
Jedesmal wenn wir eine neue Inszenierung in Angriff nehmen, sehen wir uns gezwungen, die Frage von neuem anzuschneiden, als sei es zum ersten Male. Was können die Schauspieler tragen? Ist in der Handlung eine »Epoche« verlangt? Was ist eine »Epoche«? Was ist ihre Realität? Sind die Aspekte, die uns durch Dokumente vermittelt werden, auch echt? Oder ist ein Flug der Phantasie oder Inspiration noch echter? Was ist die dramatische Absicht? Was bedarf der Verkleidung? Was soll herausgehoben werden? Was paßt zur Statur des Schauspielers? Was braucht das Auge des Zuschauers? Sollte dem Bedarf des Zuschauers harmonisch begegnet oder dramatisch entgegnet werden? Was können Farbe und Gewebe herausheben? Was verwischen sie?
Die Rollenverteilung gibt neue und schwierige Probleme auf. Wenn die Proben kurz bemessen sind, dann muß man nach Typen auswählen – aber das ist natürlich allen zuwider. Als Reaktion möchte jeder Schauspieler alles spielen. Aber das kann er in Wirklichkeit nicht: Jeder Schauspieler wird schließlich durch seine eigenen und eigentlichen Grenzen blockiert, die seinen wirklichen Typ umreißen. Man kann nur sagen, daß die meisten Versuche, im voraus zu bestimmen, was ein Schauspieler nicht leisten kann, fehlschlagen. Das Interessante am Schauspieler ist seine Fähigkeit, bei den Proben ungeahnte Nuancen zu enthüllen, er ist enttäuschend, wenn er innerhalb seiner Form bleibt. Rollen »wissentlich« zu besetzen, ist meistens nichts als Einbildung; es ist besser, die Zeit und Umstände zu haben, um auch einige Risiken einzugehen. Man mag sich oft irren – aber dafür werden diese Enthüllungen und Entwicklungen auch ganz unerwartet sein. Kein Schauspieler steht in seiner Laufbahn vollständig still. Man kann sich leicht einbilden, daß er auf einer gewissen Stufe steckenbleibt, obwohl tatsächlich sich in seinem Innern ein unsichtbarer Wechsel vollzieht. Der Schauspieler, der beim Vorsprechen einen sehr guten Eindruck macht, mag sehr talentiert sein, aber im ganzen gesehen ist das unwahrscheinlich – er ist wahrscheinlich nur routiniert, und seine Routine geht nicht tief unter die Haut. Der Schauspieler, der beim Vorsprechen sehr schlecht abschneidet, ist der Wahrscheinlichkeit nach der schlechteste Schauspieler unter den Anwesenden, aber das muß nicht der Fall sein, und es ist immerhin möglich, daß er der beste ist. Hierzu gibt es keine Wissenschaft: Wenn das System die Beschäftigung von Schauspielern verlangt, die man nicht kennt, muß man weitgehend nach dem Gefühl gehen.
Am Anfang der Proben sind die Schauspieler das Gegenteil der ideal entspannten Wesen, die sie gern sein würden. Sie bringen eine schwere Last von Spannungen mit sich. So vielfältig sind diese Spannungen, daß wir dabei ganz unverhoffte Phänomene entdecken können. Zum Beispiel kann ein junger Schauspieler, der mit einer Gruppe unerfahrener Freunde spielt, ein Talent und eine Technik entwickeln, die die Berufshasen vor Neid erblassen lassen. Wenn man jedoch denselben Schauspieler nimmt, der gewissermaßen seinen Wert bewiesen hat, und ihn mit den alten Schauspielern umgibt, die er am meisten verehrt, dann wird er oft nicht nur ungelenk und steif, sondern verliert sogar sein Talent. Und wenn man ihn mit Schauspielern zusammenbringt, die er verabscheut, wird er sich wiederfinden. Denn das Talent ist nicht statisch, es ebbt und flutet je nach den Umständen. Nicht alle Schauspieler eines Alters sind auf derselben Stufe ihrer beruflichen Arbeit. Manche zeigen eine Mischung von Begeisterung und Kenntnis, die von einem durch kleine Erfolge genährten Vertrauen unterstützt und nicht durch die Furcht eines bevorstehenden totalen Versagens unterminiert wird. Ihre Position, mit der sie an die Proben herangehen, ist anders als die eines vielleicht ebenso jungen Schauspielers, der sich einen etwas größeren Namen gemacht hat und sich bereits zu fragen beginnt, wieviel weiter er wohl gelangen kann – hat er schon irgend etwas erreicht, was ist sein Status, wird er anerkannt, was wird ihm die Zukunft bringen? Der Schauspieler, der glaubt, daß er eines Tages den Hamlet spielen kann, hat unendliche Energie; der andere, der merkt, daß ihn die Außenwelt nicht für fähig hält, jemals eine Hauptrolle zu übernehmen, verkrampft sich bereits in schmerzhafte Knoten der Selbsterforschung mit einem daraus folgenden Bedürfnis nach Selbstbestätigung.
In der Gruppe, die sich zu einer ersten Probe zusammenfindet, sei es nun eine zusammengewürfelte Truppe oder ein Ensemble, hängt eine unendliche Anzahl von persönlichen Fragen und Sorgen in der Luft. Natürlich werden diese alle durch die Anwesenheit des Regisseurs vergrößert: Wäre er in einem gottgegebenen Zustand völliger Entspannung, könnte er ungemein helfen, aber meistens ist auch er verkrampft und mit den Problemen seiner Inszenierung beschäftigt. Auch hier ist die Notwendigkeit, seine Leistung öffentlich abzuliefern, Stoff für seine Eitelkeit und Selbstversunkenheit. Tatsächlich kann ein Regisseur es sich nie leisten, eine erste Inszenierung zu beginnen. Ich habe einmal gehört, daß ein angehender Hypnotiseur niemals seinem Subjekt verrät, daß er zum erstenmal hypnotisiert. Er hat es »erfolgreich schon viele Male« getan. Ich habe mit meiner zweiten Inszenierung begonnen, denn als ich mit siebzehn Jahren meiner ersten Gruppe von scharfen und kritischen Amateuren gegenüberstand, mußte ich einen nicht vorhandenen, eben abgeschlossenen Triumph erfinden, um ihnen und mir das Vertrauen einzuflößen, das wir beide brauchten.
Die erste Probe ist immer bis zu einem gewissen Grad der Blinde, der die Blinden führt. Am ersten Tag hält der Regisseur zuweilen eine formelle Ansprache, in der er die Grundideen in dem kommenden Stück erklärt. Oder er zeigt Modelle oder Kostümskizzen, Bücher oder Fotos, oder er macht Witze, oder er läßt die Schauspieler das Stück vorlesen. Trinken oder ein Spielchen veranstalten oder um das Theater marschieren oder einen Wall bauen dienen alle demselben Ziel. Niemand ist in der Lage, das Gesagte aufzunehmen – der Zweck aller Unternehmungen des ersten Tages ist der, sich bis zum zweiten Tag durchzuwursteln. Der zweite ist schon anders – jetzt ist ein Prozeß im Gange, und nach vierundzwanzig Stunden hat sich jeder einzelne Faktor und jede Beziehung leicht verändert. Alles, was man bei den Proben tut, beeinflußt diesen Prozeß: Wenn man zusammen Spiele macht, dann hat das bestimmte Folgen wie zum Beispiel größere Zuversicht, Freundlichkeit und Formlosigkeit. Man kann beim Vorsprechen Spiele veranstalten, um eine entspanntere Atmosphäre zu schaffen. Das Ziel liegt nie im Spiel selbst – in der kurzen Zeit, die für Proben zur Verfügung steht, ist die gesellschaftliche Entspanntheit nicht ausreichend. Ein aufwühlendes kollektives Erlebnis wie die Improvisationen des Irreseins, die wir für Marat/Sade haben mußten, bringt ein anderes Ergebnis – die Schauspieler, die gemeinsame Schwierigkeiten überwunden haben, sind jetzt einander und dem Stück gegenüber ganz anders zugänglich.
Ein Regisseur lernt, daß das Wachstum der Proben einen Entwicklungsprozeß darstellt: Er sieht, daß es für alles den richtigen Augenblick gibt, und seine Kunst ist die, solche Augenblicke zu erfassen. Er lernt, daß er nicht imstande ist, gewisse Ideen in den ersten Tagen zu vermitteln. Er wird den Gesichtsausdruck eines scheinbar entspannten, aber innerlich verkrampften Schauspielers erkennen, der seinen Worten nicht folgen kann. Er wird dann entdecken, daß er nichts zu tun braucht, als zu warten und nicht zu sehr zu drängen. In der dritten Woche ist dann alles ganz verwandelt, und ein Wort oder ein Nicken bringt augenblickliches Verstehen. Und der Regisseur wird sehen, daß er selbst auch nicht stehenbleibt. Trotz aller Hausarbeit kann er das Stück allein nicht völlig verstehen. Alle Ideen, die er am ersten Tag mitbringt, müssen sich ständig neu entfalten – dank dem Prozeß, den er mit den Schauspielern durchlebt, so daß er in der dritten Woche merken wird, daß er alles anders begreift. Die Sensibilitäten der Schauspieler rücken seine eigene in helles Licht, und er wird auch genauer wissen oder zumindest sehen, daß er bisher nichts Gültiges entdeckt hatte.
Tatsächlich ist der Regisseur, der mit seinem Rollenbuch, in dem Bewegungen und Geschäftliches und anderes angemerkt sind, zur ersten Probe kommt, ein regelrecht tödlicher Theatermann.
Als mich Sir Barry Jackson bat, im Jahre 1945 Verlorene Liebesmüh in Stratford zu inszenieren, war das meine erste große Produktion, und ich hatte schon genügend Erfahrung in kleineren Theatern gesammelt, um zu wissen, daß Schauspieler, und vor allem Bühneninspizienten, die größte Verachtung für jemanden hegten, der, wie sie es immer ausdrückten, »nicht wußte, was er wollte«. So saß ich denn die Nacht vor der ersten Probe angstgeschüttelt vor einem Modell der Bühne, war mir darüber klar, daß ein weiteres Zögern bald verhängnisvoll sein würde, und fummelte mit gefalteten Pappstückchen – vierzig Stückchen stellten vierzig Schauspieler vor, denen ich am nächsten Morgen bestimmte und klare Anweisungen geben mußte. Immer wieder inszenierte ich den ersten Auftritt des Hofes, denn ich erkannte, daß hier alles zu verlieren oder zu gewinnen war, bezifferte die Figuren, zeichnete Diagramme, manövrierte die Pappstückchen hin und her, auf die Bühne und wieder herunter, erprobte sie in dicken Bündeln, dann in kleinen, von der Seite, von hinten, über Grashügel, Stufen hinunter, warf sie alle mit meinem Ärmel um, fluchte und fing von vorne an. Als ich das tat, notierte ich mir d...

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