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Kindheit und Jugend
1870 bis 1888
Das Jahr 1870
Bernhard Dräger wurde im Jahr 1870 in Kirchwerder in den Vierlanden bei Hamburg geboren. Es war das Jahr, in dem Preußen und andere deutsche Staaten gegen Frankreich Krieg führten. Am Ende des Krieges stand die von vielen Deutschen lang ersehnte nationalstaatliche Einheit: Im Spiegelsaal des Schlosses Versailles, am 18. Januar 1871, proklamierten die deutschen Fürsten und Vertreter der Freien Städte den preußischen König Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser. Sie riefen zugleich das Deutsche Kaiserreich aus.1
In eine Zeit großer Umbrüche wurde Bernhard Dräger hineingeboren. Politisch, wirtschaftlich und kulturell kam es in Deutschland schon durch die Reichsgründung zu vielen Veränderungen. So nahm das Deutsche Reich ökonomisch einen ungeheuren Aufschwung. In den sogenannten Gründerjahren herrschte Hochkonjunktur. Zwar gab es zwischenzeitlich immer wieder auch Wirtschaftskrisen, aber insgesamt gesehen erlebte Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Blütephase.2
Die nationalstaatliche Einigung führte zu einer enormen Mobilisierung wirtschaftlicher Kräfte. Schon mit der Gründung des Norddeutschen Bundes, zu dem auch Hamburg und die Vierlande gehörten, war ein größerer einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen worden, und nun wuchs das deutsche Wirtschaftsgebiet als gemeinsamer Markt für Produzenten und Händler nochmals beachtlich. Auch im Zuge dessen entstanden immer mehr Unternehmen. Innovationen in allen Bereichen förderten die wirtschaftliche Entwicklung; eine Zeit ungeheurer Dynamik auf den Gebieten der Wissenschaften und der Technik brach an; eine Atmosphäre der Euphorie und des grenzenlosen Optimismus herrschte im Deutschen Reich. Viele Menschen betrachteten diese Phase als besondere Chance für ihr eigenes persönliches Fortkommen und auch für das der gesamten Nation.3
Die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen hatten zunächst zwar keinen unmittelbaren Einfluss auf die Familie Dräger in Kirchwerder, da sie in einer kleinen Gemeinde auf dem Lande lebte. Aber dass Unternehmer und Unternehmen sich in einer Aufbruchstimmung befanden und die sich neu bietenden Chancen wahrnahmen, beeinflusste über kurz oder lang jeden nachgeordnet Wirtschaftenden, wirkte er auch noch so fern von den politisch-wirtschaftlichen Zentren des Reiches.
Die Aufbruchstimmung – diese besondere Atmosphäre der 1870er Jahre – sollte auch in der zukünftigen Entwicklung der Familie Dräger eine Rolle spielen. Vor allem Johann Heinrich Dräger, der Vater Bernhard Drägers, setzte große Hoffnungen auf die neue, bessere Zeit. Ihn erfasste geradezu »ein Taumel der Begeisterung«, wie er selbst in seinen Lebenserinnerungen schrieb. Die Reichseinigung war für ihn mit der Vorstellung einer neuen Größe des Vaterlandes und einer glorreichen Zukunft verbunden. Johann Heinrich und Emma Dräger, die Eltern von Bernhard Dräger, zeigten zu jener Zeit einen Optimismus, der sicherlich auch besondere Kräfte bei der eigenen Lebensgestaltung freisetzte.4
Johann Heinrich Dräger hatte das Privileg gehabt, in Kirchwerder die Zollenspieker-Schule besuchen zu können, an der es einen ausgebildeten Lehrer gab, während es an anderen Schulen durchaus möglich war, dass etwa nur ein einfacher Wachtmeister im Ruhestand unterrichtete. Der Besuch einer guten Schule, das war dem Vater auch für seinen Sohn Bernhard sehr wichtig, bei allen Schwierigkeiten, die Johann Heinrich in der Schule hatte. Mit einer guten Schulbildung sollte sich in den Zeiten des Aufbruchs so einiges bewegen lassen, so die feste Meinung des Vaters.5
Kirchwerder gehört zu den Vierlanden, die von der Bille und Elbe durchflossen werden und von zahlreichen Entwässerungskanälen durchschnitten sind. Diese Landschaften waren und sind sehr fruchtbar. Viehwirtschaft wurde hier betrieben, Geflügel aller Art, große Getreide-, besonders Weizenfelder, Gemüse- und Blumenzucht sowie Obst von bester Qualität gab es in der Region. Das Marschland versorgte Hamburg und gab von seinem Überfluss auch noch vieles in den Handel über die Nordsee ab. Die Bewohner des Landes, die Vierländer, hatten sich bis weit in das 19. Jahrhundert hinein infolge der eingeschränkten Zugänglichkeit des Gebietes und der dadurch bedingten jahrhundertelangen, strengen kulturellen Abgeschiedenheit viele eigene Sitten und Gebräuche erhalten, sodass sie inmitten ihrer Umgebung wie ein eigener Volksstamm erschienen. Dazu kamen die vielen sogenannten Inheiraten, durch die fast alle Vierländer miteinander verwandt waren.6
Den Vierländern sagte man gemeinhin nach, sie hätten ein gutes Gespür für Geschäft und Gewinn, könnten hart arbeiten, scheuten keine Strapazen und wüssten eine Sache mit Erfolg anzupacken. Dies zeigten die Vierländer zum Beispiel beim schwunghaften und einträglichen Handel mit Blutegeln. Hamburger Apotheker waren die besten Abnehmer, und als die Blutegel-Bestände in Vierlanden und Mecklenburg abnahmen, reisten die Vierländer letztlich weit bis nach Südrussland, um die Tiere zu beschaffen.7
Die Vorfahren und die Tradition der Feinmechanik
Unter den väterlichen Vorfahren Bernhard Drägers befanden sich viele Handwerker. Schon der Familienname »Dräger« verweist darauf, dass die Vorväter im Handwerk verwurzelt waren, denn »Dräger« geht auf niederdeutsch »drehen« oder »Drechsler« zurück.8 Offenbar hatte technisch-handwerkliches Geschick einem sehr frühen Vorfahren diesen Namen eingebracht.9
Vom Ururgroßvater Bernhards, Jürgen Friedrich Dräger, heißt es, er sei in der Bearbeitung von Metall erfahren gewesen und habe Teile für Webstühle hergestellt. Allerdings waren das nur Nebentätigkeiten, denn er lebte in erster Linie vom Gemüseanbau. Seine Heimat war Bardowick bei Lüneburg, und er verheiratete sich dort 1793 mit Elisabeth Böttcher.10
1794 wurde in Bardowick Johann Heinrich Dräger geboren – Bernhard Drägers Urgroßvater. Dieser Johann Heinrich Dräger war der erste Uhrmacher in der Dräger-Linie. Zugleich arbeitete er auch als Webstuhlmechaniker. Seine Frau war Caroline Freudenthal, und 1818 wurde den beiden in Bardowick Sohn Ernst Friedrich – Bernhards Großvater – geboren. Ernst Friedrich wurde ebenfalls Uhrmacher.11
Der Großvater verließ 1843 seinen Heimatort, um nach Kirchwerder überzusiedeln. Vermutlich erhoffte er sich eine Verbesserung seiner beruflichen und wirtschaftlichen Situation. Zwar wird Bardowick in einer zeitgenössischen Veröffentlichung als ein Zentrum des Gemüseanbaus und bedeutender »Flecken« bezeichnet, aber die Kauf- und Pachtpreise für die Böden waren wegen der starken Konkurrenz unter den Gemüsebauern derart hoch, dass die Einnahmen nur dürftig ausfielen.12 Kirchwerder war zur Gemüsekammer Hamburgs avanciert.13 Dort florierte die Wirtschaft, während sie in Bardowick stagnierte und es hier für einen Uhrmacher nur noch wenig zu tun gab. Ernst Friedrich Dräger hatte in Bardowick vermutlich von der Landarbeit gelebt und die Uhrmacherei nur nebenbei betrieben, so wie dann auch in Kirchwerder, wo er tagsüber als Knecht des Bauern Puttfarcken den Acker bestellte, um abends seinen handwerklichen Neigungen nachzugehen und Uhren zu reparieren.14
Bernhards Großvater, Ernst Friedrich Dräger, pachtete in Kirchwerder am Elbdeich 47, auf der Howe, eine Kate mit einem großen Gemüsegarten. 1845 heiratete er Anna Lührs. Die erstgeborene Tochter starb kurz nach der Geburt. Zwei Jahre später, am...