1. Der Text als Forschungsgegenstand â Aus der Geschichte der Textlinguistik
1.1. Zum aktuellen Stand der Disziplin
Quo vadis, Textlinguistik? (Antos/Tietz 1997) â unter dieser Frage prĂ€sentierten die Herausgeber im ausgehenden 20. Jahrhundert einen Sammelband zur Zukunft der Textlinguistik. Sie konstatierten zwar, dass die Textlinguistik schon seit etwa 25 Jahren âzum Kanon der sprachwissenschaftlichen Subdisziplinenâ (ebd.: VII) gehörte, lieĂen aber doch eine gewisse Skepsis erkennen: âHat die Textlinguistik â angesichts der Forschungsdynamik im konkurrierenden Umfeld â ĂŒberhaupt (noch) eine Zukunft?â, hat sie ânur ein Gastspiel gegebenâ, ist sie vielleicht âletztlich doch nur eine Modeerscheinung geblieben?â (ebd.): Wie reagiert
âdie Textlinguistik auf neue Trends [âŠ], d. h. wie positioniert sie sich zur Textproduktions-und Rezeptionsforschung [âŠ] und insbesondere zu den neuen Medien (z. B. Hypertext) [âŠ]: Welche Konsequenzen hat dies fĂŒr die Bestimmung des Gegenstandsbereichs? [âŠ] Wie kann sie sich in Zukunft gegen neue Trends behaupten bzw. neue Trends mit ausbilden?â (Antos/Tietz 1997: VII)
Fast 20 Jahre spĂ€ter ist es angezeigt, die damals gestellten Fragen rĂŒckblickend neu zu thematisieren: Was also ist aus der Textlinguistik seitdem geworden? Eine entsprechende EinschĂ€tzung hat Ulla Fix schon 2009 vorgelegt:
âDie Textlinguistik ist eine höchst lebendige Disziplin. Sie entwickelt ihre theoretischen und praxisbezogenen Fragestellungen kontinuierlich weiter, differenziert sich immer mehr und weitet sich zugleich aus. Sie greift Anregungen anderer Teildisziplinen der Linguistik ebenso auf, wie sie sich von Nachbardisziplinen anregen lĂ€sst. Und sie wirkt schlieĂlich selbst befruchtend auf Teil- und Nachbardisziplinen ein. Sie stellt sich den Anforderungen neuer Medien wie auch der Bildungspraxis und der beruflichen Wirklichkeit. Kurz: Sie prĂ€sentiert sich sowohl in der Theorie als auch in den Anwendungsmöglichkeiten als leistungs- und entwicklungsfĂ€hige Disziplin.â (Fix 2009a: 11)
In diesem groĂen Erfolg der Textlinguistik kann man zugleich eine gewisse SchwĂ€che sehen,1 denn es fragt sich, inwieweit man ĂŒberhaupt von der (fundamental interdisziplinĂ€r orientierten) Textlinguistik als Disziplin sprechen kann. Je mehr sie sich ausweitet und differenziert, desto mehr gewinnt sie den Charakter eines groĂen Dachs, unter dem sich eine Reihe von Spezialgebieten versammeln lĂ€sst. Dazu zĂ€hlt Fix innerhalb der Sprachwissenschaft die Medien-, Fachsprachen-, Polito-, Wirtschaftslinguistik usw. sowie die GesprĂ€chs- und Diskurslinguistik, die man teils als Schwester-, teils als Tochterdisziplinen der Textlinguistik prĂ€sentiert, auĂerhalb der Linguistik nennt sie Theologie, Rechts-, Altertums-, Literaturwissenschaft, Ăgyptologie usw. Wie fĂŒr van Dijk (1980) bildet dies fĂŒr Fix den Anlass zu erwĂ€gen, ob die
âTextlinguistik, deren Gegenstand Texte und Textsorten an sich sind, [âŠ] die geeignete Vertreterin des Anspruchs einer Querschnittswissenschaft sein [könnte], indem sie eine allgemeine Terminologie und Methoden fĂŒr die Auseinandersetzung mit Texten liefert.â (Fix 2009a: 82).
Am anderen Pol steht eine Sichtweise, die Textlinguistik âinsbesondere zu PrĂŒfungszweckenâ auf die Untersuchung satzĂŒbergreifender PhĂ€nomene, letzten Endes die Stichwörter KohĂ€sion und KohĂ€renz, âgeradezu reduziertâ (Hausendorf 2008: 324). Es sind letzten Endes beide Perspektiven, die Wolfgang Wildgen dazu fĂŒhren, der Textlinguistik in seinem Versuch einer Bilanz der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts kein eigenes Kapitel zu widmen:
âSie taucht in ganz unterschiedlichen Kontexten auf, teilweise schon im Rahmen traditionell philologischer Arbeitsrichtungen (z. B. in der âromantischen Sprachwissenschaftâ2 ) [âŠ]. Es handelt sich also eher um die Ausweitung der Methoden zur Beschreibung sprachlicher Strukturen auf Wort- und Satzebene auf den Text als um eine eigenstĂ€ndige und neue Forschungsrichtung des 20. Jh.s.â (Wildgen 2010: 4)
Wie die AusfĂŒhrungen von Fix zeigen, strebt die Textlinguistik aber auch gar keine besondere EigenstĂ€ndigkeit an, sondern versteht sich vielmehr als ein genuin interdisziplinĂ€r ausgerichteter Wissenschaftszweig, in dem angesichts der FĂŒlle und HeterogenitĂ€t von GegenstĂ€nden und Fragestellungen auch eine Vielzahl von Methoden zum Einsatz kommen muss. Insofern haben Antos/Tietz doch mit ihrer Annahme Recht behalten, dass die Textlinguistik
âin eine unspektakulĂ€re Konsolidierungsphase eingetreten ist, so daĂ sich Fragen nach ihr so deplaziert ausnehmen wie Fragen nach der Existenzberechtigung beispielsweise der Phonologie, der Semantik oder der Syntaxforschungâ (Antos/Tietz 1997: VIIf.).
Dies zeigt sich insbesondere darin, dass Grammatiken jetzt Kapitel zum Text umfassen (vgl. Kap. 1.5.4.2.). Auch die AnschlussfÀhigkeit an Àltere Traditionen aus der Philologie, Philosophie usw. ist in der Textlinguistik geradezu Programm. Insofern steht sie sich mit ihrer Selbstdarstellung in gewissem Sinne selbst im Weg. Denn sie prÀsentiert sich noch immer als eine relativ junge Teildisziplin der Linguistik, die sich erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt habe. Schon diese wissenschaftshistorische Einordnung lÀsst erkennen, dass mit dem Ausdruck Textlinguistik dann wohl etwas anderes gemeint ist als jedwede BeschÀftigung mit dem Gegenstand Text und seiner sprachlichen Gestalt. Denn selbstverstÀndlich gehört die Arbeit mit und an Texten als wesentlichen materiellen TrÀgern kulturellen Erbes zu den Àltesten Anliegen der Auseinandersetzung mit menschlichen Geistesprodukten. Und da Texte aus Sprache gemacht sind, kann man sich auch gar nicht mit ihnen beschÀftigen, ohne ihre sprachliche Verfasstheit in den Blick zu nehmen.
In diesem Kapitel soll deutlich werden, mit welch unterschiedlichen Fragestellungenund Interessen man sich dem Gegenstand Text nĂ€hern kann. Dies dient einem groben Einblick in verschiedene Textwissenschaften, deren Gemeinsamkeit eben nur im Gegenstand liegt â dem allerdings sehr abstrakt gefassten und die verschiedensten AusprĂ€gungen umfassenden Objekt âTextâ. Insbesondere geht es aber um die Frage, wie sich die Textlinguistik in diesen FĂ€cher von Textwissenschaften einordnet, welches ihre besonderen Anliegen sind und wie sie den Status einer neuen sprachwissenschaftlichen Disziplin gewinnen konnte.
Es muss jedoch gleich festgestellt werden, dass auch von der in den 1960er Jahren entstandenen Textlinguistik kaum gesprochen werden kann, da sie in ihrer relativ kurzen Geschichte bereits mehrere bedeutende UmbrĂŒche erlebt haben soll. Man hat lange drei Hauptphasen unterschieden: 1. den sog. transphrastischen Ansatz, der ganz auf die sprachlichen Mittel konzentriert ist, mit Hilfe derer SĂ€tze zu kohĂ€renten Folgen verbunden werden; 2. den kommunikativ-pragmatischen Ansatz, der den Text nicht so sehr als (sich aus kleineren sprachlichen Einheiten aufbauende) Satzfolge sieht, sondern ihn als Ganzheit betrachtet, der eine bestimmte kommunikative Funktion zukommt; 3. den kognitivistischen Ansatz, der die Prozesse der Produktion und Rezeption von Texten in den Vordergrund stellt.
Mittlerweile können diese Phasen allenfalls noch als verschiedenartige StrĂ€nge textlinguistischer Untersuchungen angesehen werden. Die einzelnen AnsĂ€tze stehen jeweils in unterschiedlicher Beziehung zu den sonstigen Textwissenschaften (und anderen Nachbardisziplinen). Aber nicht nur dies macht einen Ăberblick ĂŒber die Geschichte der Disziplin schwierig. Vielmehr ist die Textlinguistik auch ein besonders prĂ€gnantes Beispiel dafĂŒr, wie viel im BemĂŒhen um Fortschritt, also bei der Entwicklung einer neuen (Subâ)Disziplin oder eines Forschungsansatzes, aus der Vergangenheit vergessen, mehr oder weniger bewusst ĂŒbersehen oder ausgeklammert wird (vielleicht werden muss) und wie sehr Wissenschaftsgeschichte dem Schreiben von (vielen unterschiedlichen) Geschichten gleichkommt. Denn auch die Darstellung einer Disziplin und ihrer Entwicklung kann nur in Gestalt von Texten erfolgen. Bei solchen handelt es sich jedoch nie einfach um ârealitĂ€tsgetreue Abbildungenâ von AuĂersprachlichem, vielmehr wird in jedem Text aus dem Mitteilbaren ausgewĂ€hlt und dies in eine bestimmte Perspektive gerĂŒckt, die von den jeweiligen Interessen geleitet ist. Sich dies bewusst zu halten ist in Bezug auf die Textlinguistik besonders wichtig, denn es erklĂ€rt, wieso Textlinguistik als spezielle linguistische Subdisziplin sehr schwer zu fassen ist, d. h. Einhelligkeit ĂŒber ihren Gegenstand, ihre Aufgaben und insbesondere ihre Methoden nicht besteht und wohl auch fĂŒr die Zukunft nicht erwartbar ist. Bemerkenswert ist jedoch, dass es im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wieder zu einer breiten Diskussion gekommen ist. Diesen Entwicklungen ist das Kapitel 9. gewidmet. Die folgende Ăbersicht rĂŒckt dagegen die Entwicklung im 20. Jahrhundert in den Vordergrund.
Begonnen sei sie mit der Geschichte vom Entstehen der Textlinguistik in den 1960er Jahren, mit jenen BeitrĂ€gen nĂ€mlich, die von dem Interesse geleitet sind, eine Umorientierung in der Linguistik einzuleiten, und in denen bewusst und explizit die Etablierung einer Textlinguistik gefordert wird â dies geschah v. a. im deutschen Sprachraum, der auch heute noch ein Zentrum textlinguistischer Forschung ist.3
1.2. Die programmatische BegrĂŒndung der Textlinguistik
Die Disziplinbezeichnung Textlinguistik4 ist zunĂ€chst kein Begriff aus der wissenschaftsgeschichtlichen RĂŒckschau, unter dem linguistische Arbeiten zusammengefasst wĂŒrden, die sich mit textuellen (oder auch nur satzĂŒbergreifenden) PhĂ€nomenen beschĂ€ftigen; dieser Begriff steht vielmehr fĂŒr ein Zukunftsprogramm, das aus der kritischen Sicht auf das Bestehende entworfen wurde. Textlinguistik wird ausdrĂŒcklich eingefĂŒhrt als neue linguistische Teildisziplin (Hartmann 1968a),5 sie entspricht einer linguistischen Aufgabe (Hartmann 1968c/1978). Einige Zitate von Peter Hartmann, einem der Initiatoren dieser Richtung, geben einen guten Eindruck von der damals herrschenden Aufbruchstimmung und sie zeigen auch, wie umfassend seine Vorstellungen waren. In seinem Referat auf einem interdiszplinĂ€ren Kolloquium zur experimentellen Kunst will Hartmann
â(1) die Allgemeine Sprachwissenschaft oder Linguistik in einer heute charakteristischen Situation und Position zeigen [âŠ], (2) die Konzeption und Ausbildung einer Textorientierten Sprachwissenschaft als eine damit nötige und sinnvolle Konsequenz darstellen [âŠ], und (3) darĂŒber hinaus in Form eines originĂ€r sprachwissenschaftlichen Beitrags eine Perspektive der weiteren Aussichten und einer Wertsteigerung [!] der Linguistik andeutenâ (Hartmann 1968c/1978: 93 f.)
Seine EinschÀtzung des Standes:
â[âŠ] die bisherige Arbeit richtete sich fast ausschlieĂlich auf eine Erfassung sogenannter Strukturen des Sprachsystems, also eines Inventars von Elementen und Elementverbindungsregeln (systemorientierte Sprachwissenschaft), wogegen viele der neuen Fragen eine Behandlung und Analyse der Verwendung von Sprachsystemen erfordern werden (verwendungsorientierte Sprachwissenschaft).â (ebd.: 96)
âObjektadĂ€quate Linguistik: um sie zu konzipieren, muĂ man vom linguistischen Objekt reden. Bisher galt als solches das jeweilige, aus den Sprachmanifestationen zu erkennende, zu eruierende Sprachsystem: ein Ensemble von Elementen [âŠ], die man in Sprachdarstellungen (Lexikon und Grammatik) zusammenstellte und in verschiedener Weise beschrieb, z. B. in der Form von zu befolgenden Regeln bei der Satzbildung. Derart gefundene Systeme waren stets eine Abstraktion aus der SprachrealitĂ€t, und sie muĂten es sein.â (ebd.: 99)
âDem gegenĂŒber steht nun die Forderung, daĂ allmĂ€hlich eine PhĂ€nomenologie der Sprache, also ihres Objektes, fĂŒr die Linguistik wichtig zu werden hat. Und zwar wĂ€re dies â abgesehen davon, daĂ alle Sprache in der RealitĂ€t verwendete Sprache ist â der eigentliche Ausgangsgegenstand als das eigentliche, d. h. originĂ€re sprachliche Zeichen. Dies aber ist in aller Regel ein Text, genauer ein bestimmter Text [âŠ]â (ebd.: 100)
Die Forderung nach einer textorientierten Linguistik leitet sich hier also zunĂ€chst her aus einer Kritik am systemlinguistischen Ansatz, wie er seit F. de Saussure die sprachwissenschaftliche Forschung prĂ€gte. Hartmann fordert eine verwendungsorientierte Sprachwissenschaft, ein Ansatz, der heutzutage mit dem Ausdruck pragmatisch bezeichnet wird â und dessen Aufkommen im Allgemeinen spĂ€ter angesetzt und aus anderen UrsprĂŒngen (nĂ€mlich v. a. der Sprechakttheorie) hergeleitet wird.6 Das, was gemeinhin als kennzeichnend erst fĂŒr die zweite Phase der Textlinguistik gilt, findet sich also in der Programmatik von Anfang an. Ein weiteres Zitat mag zeigen, dass Hartmann dabei eben (auch) an die kommunikative Funktion von Texten und eine Ăberschreitung der rein innersprachlichen Perspektive dachte:
âEs ist vielleicht durchaus möglich, Texte mit innertextlichen Mitteln zu beschreiben, daĂ man aber zur Definition von Texten umsteigen muĂ auf texttranszendente Kriterien, also etwa auf die Funktion von Textenâ. (sic; Hartmann 1968b: 216)
Diese verwendungsorientierte Sichtweise fĂŒhrt dann â gewissermaĂen im zweiten Schritt â zum PhĂ€nomen Text, und zwar zunĂ€chst im Sinne von âverwendete Spracheâ, dann aber auch im Sinne einer hierarchischen, dem Einzelzeichen und dem Satz ĂŒbergeordneten Ebene:
âSprachzeichen können nur textuell gebunden vorkommen, können so auch nur als gebundene Sinn und Erfolg habenâ
âEs wird, wenn ĂŒberhaupt gesprochen wird, nur in Texten gesprochen.â
âSĂ€mtliche Sprecher, Dichter usw., als TrĂ€ger, Benutzer und participa...