Dokumente und Rezensionen
Max Brod und Felix Weltsch
Selbstanzeige
In: Kant-Studien 18 (1913), S. 164â165
In raschem Siegeslauf haben sich in der modernen Entwicklung der Metaphysik und Erkenntnistheorie die Philosophen der Intuition den Philosophen der systematisch-logischen Erkenntnis entgegengestellt. Fremd und feindlich stehen einander die Parteien gegenĂŒber; nur hie und da springt ein Funken von VerstĂ€ndnis von der einen zur anderen Seite. Im Ganzen sind die Grundansichten gar zu entgegengesetzt und scheinen förmlich unvereinbar,
Unser Buch will nun nicht etwa eine Versöhnung der beiden Parteien herbeifĂŒhren, oder etwa eine neue vermittelnde Theorie aufstellen; es will nur mit dazu beitragen, dass die KĂ€lte und VerstĂ€ndnislosigkeit zwischen den beiden Gruppen verschwinde; es will durch Untersuchung der Voraussetzungen und Grundlagen der beiden Richtungen die Ăbertreibungen und KompetenzĂŒbergriffe auf beiden Seiten feststellen und so versuchen, einen Standpunkt zu finden, von dem aus eine Entwicklung beider Linien möglich ist.
Als zentrales, zwischen den Parteien liegendes Problem erschien uns das Begriffsproblem. Der wohlgegrĂŒndeten SchĂ€tzung des diskursiven, also begrifflichen Denkens seitens der Neu-Kantianer, steht die Verachtung gegenĂŒber, die Bergson dem Begriff, als dem Instrument des Intellekts entgegenbringt. Wir mussten uns daher fragen: Bestehen die Ursachen dieser so entgegengesetzten Wertungen zurecht? Ist der Begriff wirklich jenes erfahrungsfremde Element, das die Anschauung vergewaltigt und das Leben ertötet, wie Bergson meint? Und andererseits: Ist jener â wissenschaftliche â Begriff, wie ihn etwa Cassirer in seinem Werke: âSubstanz-und Funktionsbegriffâ darstellt, psychologisch die einzige Art begrifflicher Verarbeitung der Anschauung? Darf einer andern begrifflichen oder begriffsĂ€hnlichen Fassung der Anschauung, insolange sie noch nicht in die strenge Form des wissenschaftlichen Begriffs eingegangen ist, keine Existenzberechtigung oder darf ihr ĂŒberhaupt gar keine Existenz zugesprochen werden?
Diese ErwĂ€gungen leiteten zu einer psychologischen Untersuchung des Begriffsproblems mit besonderer BerĂŒcksichtigung der Beziehung des Begriffs zur Anschauung, sowie der psychischen Entwicklung des durch die Anschauung gewonnenen anschaulichen Materials. Selbstbeobachtung sowie Experiment fĂŒhrten uns bald zum Mittelpunkt dieser Probleme, zum PhĂ€nomen der Verschwommenheit, dem wir besondere Aufmerksamkeit schenken mussten, da es einerseits wissenschaftlich noch nicht hinlĂ€nglich bearbeitet schien, andererseits uns die Erkenntnis seiner Wichtigkeit â sozusagen unter den HĂ€nden wuchs. Wir machten uns die genaue Deskriptive des Verschwommenen zur Pflicht, untersuchten insbesondere seine merkwĂŒrdige VerĂ€nderlichkeit, sein schillerndes, kaum fassbares Wesen und kamen hiebei zu Ergebnissen, die uns auch das RĂ€tsel der logischen Kraft des Verschwommenen lösten, und uns gerade durch Letzteres im Begriffsproblem wesentlich förderten. Die âVerschwommenheitâ fĂŒhrte auch zu einer neuen Behandlung der âAufmerksamkeitâ, die sich als deren Gegenpol erwies. Der weitere Zusammenhang leitete uns zur Erkenntnis der Struktur aller jener VorstellungsphĂ€nomene, die nicht mehr Anschauung im idealen Sinn und noch nicht Begriff sind, wohl aber in vieler Hinsicht einen annĂ€hernd gleichen logischen Effekt erzielen, wie dieser. Die Bedeutung, die in diesen PhĂ€nomenen â nebst der schon erwĂ€hnten Verschwommenheit â den Relationen, Urteils- und GefĂŒhlsakten zukommen, machten ein Eingehen auf diese Gebiete der Psychologie, insbesondere also die Probleme der Relationen, GestaltqualitĂ€tenâ der Akte, der Intentionen und der Gedanken, sowie eine Auseinandersetzung mit den hierĂŒber bestehenden Ansichten notwendig.
Die Entwicklung der Anschauung unter dem Einfluss der Aufmerksamkeit zeigte uns eine FĂŒlle psychischer Gegebenheiten, die unser Denken durchwachsen und ihm jene reiche und glĂŒhende Lebendigkeit verleihen, die die Anschauung vor dem rein wissenschaftlichen Denken auszeichnet; als Endpunkt dieser Entwicklungsreihe ergab sich der anschauliche Begriff, der aber trotz seiner VorzĂŒge den strengen AnsprĂŒchen der Logik und der Wissenschaft nicht genĂŒgte.
Muss nun auch das wissenschaftliche Denken eine Umgestaltung des Begriffs vornehmen, indem sie ihn zum âFunktionsbegriffâ macht, die Anschauung mit KausalitĂ€t, AbhĂ€ngigkeiten und Gesetzen durchdringt, muss auch die Anschauung selbst, um hierfĂŒr tauglich zu werden, grundlegende Ănderungen erleiden, so zeigt sich dennoch, dass der anschauliche Begriff und somit die Anschauung die Grundlage dieses wissenschaftlichen Begriffs geblieben sind, dass der wissenschaftliche Begriff jederzeit von der Anschauung mit allen ihren VerĂ€nderungen und Entwicklungsstadien abhĂ€ngig bleibt.
Die Vergleichung dieser beiden Begriffsgruppen â des anschaulichen und des wissenschaftlichen â ergab interessante Einblicke in die Sprachphilosophie, Ăsthetik und Erkenntnistheorie und brachte vielleicht einige KlĂ€rung in das VerhĂ€ltnis von Mystik und Rationalismus.
Gaston Rosenstein
Rezension
In: Imago 2 (1913), S. 253â254
âDie genaue Abgrenzung zwischen den beiden Bereichen des Spontanen und der ReziptivitĂ€t ist es, die in jeder psychologischen Arbeit aus dem Gebiet der reinen Deskriptive unwiderstehlich in das der Theorien und Zusammenfassungen drĂ€ngt.â Dieses deskriptiv psychologische Problem bekommt oft eine ethische und erkenntnistheoretische Fassung; die Diskussion zwischen den âUnmittelbarenâ und den âLogikernâ wird eine lebhafte, erhĂ€lt eine affektive Betonung und weitet sich âzum unĂŒberbrĂŒckbaren Gegensatz zwischen ,Lebenâ und ,Begriffââ.
PrimĂ€r haben wir eine âeinheitliche ungegliederte Gesamtanschauungâ. In weiterer Folge wird das PhĂ€nomen der verschwommenen Vorstellung aufgezeigt, die in dem System eine fundamentale Bedeutung gewinnt. Die âverschwommene Vorstellungâ, deren nĂ€heren Beschreibung ein groĂer Teil des Buches gewidmet ist, resultiert in dieser Untersuchung als eine Vorstellung, die mehrere Einzelvorstellungen umfaĂt, mit denen sie durch Aufmerksamsteigerung identisch werden kann, dabei doch eine einheitliche anschauliche Vorstellung bleibt und somit die erste Form des menschlichen Begriffes darstellt. âWir sehen somit in den Begriffen keineswegs, wie es sonst geschieht, einen Gegensatz zur ,AnschaulichkeitÊ», sondern eine Fortbildung, Modifizierung des Anschaulichen.â
Nebenbei wird in FortfĂŒhrung der GedankengĂ€nge die Entstehung der Symbole gestreift.
Im wissenschaftlichen Denken ist zwar die gröĂtmögliche Atomisierung und Erstarrung der Anschauung erreicht, aber âes ist doch wieder nur Anschauung, die in dieser verĂ€nderten Form den wissenschaftlichen Begriff durchdringt und sich bis in seine feinsten Adern verzweigt. Nicht als ein neu von uns Geschaffenes, als eine leere Form, oder vielleicht als etwas Eingeborenes, bringen wir ihn an die Erfahrung heran, sondern im Gegenteil, in natĂŒrlicher Entwicklung erwĂ€chst auch er uns aus der Anschauung. Denn sein ganzes Material entnimmt er der Anschauung, die ihm so ewig flieĂende Lebensquelle ist.â â Zum Nachweise, daĂ selbst abstraktes Denken oft in anschaulichen Symbolen ohne Worte vor sich geht, werden auch Silberers Forschungen (die autosymbolischen PhĂ€nomene) herangezogen.
Die Entwicklung der dargestellten Resultate aus dem Prinzip der verschwommenen Vorstellung gibt den Autoren AnlaĂ zu sehr tiefgehenden GedankengĂ€ngen; jedenfalls hat das Buch dem Probleme des Konzeptualismus eine neue und bedeutende Lösung gegeben, deren stilistische Fassung dem Referenten nur manchmal etwas langwierig und ĂŒberladen scheint.
Hugo Bergmann
Rezension
In: MĂ€rz 11 (1914), Bd. 11, S. 394â396
Wenn man das, was die psychologische Forschung der allerletzten Jahre Neues gebracht hat, unter einem höheren Gesichtspunkt zusammenfassen will, so ist es wohl dies: sie hat die naive Art, mit welcher frĂŒher logische Kategorien mit psychologischen identifiziert wurden, beseitigt. Dadurch aber bekam das seelische Leben einen Aspekt ungeheurer Mannigfaltigkeit. Die logischen Kategorien sind notwendigerweise scharf abgegrenzt und einfach; werden sie aber erlebt, wirklich gedacht, dann treten sie unter ganz andere Gesetzlichkeiten; an die Stelle der scharfen Konturen treten UebergĂ€nge und Zwischenstadien, die fĂŒr die Logik â mit Recht! â nicht existieren. Denn Logik ist Grundlage wissenschaftlicher Gegenstandsbestimmung und alle solche âObjektivierung beruht auf Abstraktionen; handelt es sich hingegen darum, den seelischen Inhalt selbst möglichst in seiner subjektiven Unmittelbarkeit â und das heiĂt eben psychologisch â zu erfassen, so muĂ die Scheidung in Gedanken wieder aufgehoben, die Verbindung wiederhergestellt werden.â (Natorp.)
Die Unterscheidung von Anschauung und Begriff gehört zu den grundlegenden Sonderungen der Logik, denn sie ist die grundlegende Sonderung der Wissenschaft, deren Aufgabe sich doch hierin bezeichnet, die Anschauung in Begriffen zum Stillstand zu bringen. Diese DualitĂ€t, die alle Wissenschaft erst möglich macht, kann durch keinerlei UebergĂ€nge verflĂŒchtigt werden. Aber etwas anderes ist die Wissenschaft und die ihr zu Grunde liegende Logik, etwas anderes das wirkliche Denken des Forschers. Im Kopfe des Chemikers ruht der Begriff des Wasserstoffs nicht in jener kristallenen Klarheit wie ihn das Lehrbuch umschreibt: da gibt es wohl nur den klaren Kern einer AtmosphĂ€re von Erinnerungen, GefĂŒhlen, Vermutungen, fĂŒr welche der Chemiker als Wissenschaftler nicht einstehen möchte.
Es gehört zu den wesentlichen Verdiensten des Buches, das Max Brod und Felix Weltsch ĂŒber das Problem der Begriffsbildung geschrieben haben45, daĂ sie in denkbar schĂ€rfster Form das logisch-wissenschaftliche Gegensatzpaar Anschauung â Begriff, sondern vom Erlebnis des Begriffes. Dadurch haben sie sich den Weg zum psychologischen Tatbestand, der hier vorliegt, erst frei gemacht.
Jetzt können sie den Weg verfolgen, der von der âvorbegrifflichen Gesamtanschauungâ zum reinen wissenschaftlichen Begriff fĂŒhrt. Am Anfang â der von uns nur erschlossen werden kann â steht die Gesamtanschauung; der Name will den Gegensatz zu hergebrachten Theorien bezeichnen, nach denen auch schon die primitive Anschauung in sich gegliedert und fĂŒr die begriffliche Erfassung vorbereitet wĂ€re. Brod und Weltsch meinen â und stĂŒtzen ihre Ansicht durch Hinweis auf die Erscheinungen der ErmĂŒdung und andere â daĂ die ursprĂŒngliche Gegebenheit des Seelenlebens ungegliedert ist und daĂ die Gliederung schon der Weg zur Begriffsbildung ist. Befindet sich z. B. ein Hund im Kinderzimmer, so sieht ihn das Kind in den verschiedensten Stellungen, ein Etwas kehrt da immer wieder, dessen Eindruck sich durch die Wiederkehr verstĂ€rkt, bis es aus der Gesamtanschauung hervortritt. Das Bild, das so das Kind von dem Hunde gewinnt, sein anschaulicher Begriff âHundâ besteht aus diesem hervorgetretenen ,,Etwasâ (âAâ) eingebettet in ein verschwommenes Anschauungsmaterial (âxâ), in welchem die EindrĂŒcke des sitzenden, stehenden, laufenden, fressenden Hundes in merkwĂŒrdiger Verwebung vereinigt sind zu einem unbestimmten und deutbaren, aber in sich doch anschaulichen Gesamteindruck: der Begriff ist ein ,,A + xâ-Gebilde. In dieser Formel bringen die Autoren das wesentliche Resultat ihrer Untersuchung zum Ausdruck. In diesem (A + x)-Gebilde ist die Uebergangserscheinung zwischen der Anschauung und dem wissenschaftlichen Begriff entdeckt und damit eine ganze Reihe von Schwierigkeiten gelöst, die alle dadurch entstanden waren, daĂ man vom erlebten Begriff die scharfen Konturen des wissenschaftlichen verlangt hatte und nun mit Anschauung und Begriff als einem Gegensatz operierte. Auch gegen das Kehrbild dieses Gegensatzes, wie es bei Bergson erscheint, wendet sich die eingehende Kritik der Autoren. Die Erfahrung kennt diesen Gegensatz ĂŒberhaupt nicht: das A+ x ist ein anschaulicher Begriff. Die ĂŒbliche Theorie, welche die Begriffe als unanschaulich charakterisiert, setzt an die Stelle der Deutbarkeit eines Unbestimmten, des x, eine psychologisch nicht auffindbare Unanschaulichkeit.
Gebilde des seelischen Lebens, die sie sind, haben die A + x selbst in sich ein immer bewegtes Leben. Das Kapitel ĂŒber das lebendige Spiel der A + x gehört zu den genuĂreichsten des Buches. Dieses Spiel ist vor allem ein Hin und Her zwischen der unbestimmten SphĂ€re und dem deutlichen Kern. Bald wird das x in gewisser Weise spezialisiert, wie wenn zum Beispiel ein in uns vorhandener Erinnerungskomplex auf eine aktuelle Wahrnehmung angewendet, das Wahrgenommene ,,erkanntâ wird: wir werfen die in uns vorhandenen A + x in die Wahrnehmung hinein. Bald halten die A + x ,,wie narkotisiertâ still, wollen den Bereich ihrer Verschwommenheit nicht verlassen, wir haben etwas âauf der Zungeâ, das heiĂt wohl anschaulich, aber nur verschwommen und unbestimmt.
Unser Bericht muĂ hier notgedrungen Halt machen. Wir können den Autoren in die feinen Verzweigungen ihrer Analysen nicht folgen. Wer seine Freude haben will an der Art, wie hier geduldig und liebevoll das seelische Leben in seine Wirrnisse verfolgt wird, muĂ das Buch selbst zur Hand nehmen; nicht zumindest aber auch die, welchen das Problem Anschauung â Begriff am Herzen liegt, das heute in tausend Namen und Verkleidungen die Fragestellung der Philosophie beherrscht.
Aloys MĂŒller
Rezension
In: Archiv fĂŒr die gesamte Psychologie 31 (1914), S. 39â47
Bei dem Versuche, die logischen Funktionen des Begriffes zu verstehen und deshalb möglichst scharf das psychologische Begriffserlebnis hiervon zu scheiden, wurden die beiden Verf. fast unmerklich in rein psychologische Probleme hineingefĂŒhrt. Ihre Untersuchung hat, so meinen sie, mit ziemlicher VollstĂ€ndigkeit die Gesamtheit der Mittelglieder aufgedeckt, die zwischen dem Begriff und dem Rohstoff der Anschauung liegen. Ist das richtig, dann wĂ€re damit eines der wichtigsten Probleme gelöst, die gerade die neueste Psychologie beschĂ€ftigt haben.
Ihre erste Aufgabe ist, den Charakter des vorbegrifflichen Erlebens zu beschreiben (Kap. I). Sie sehen in ihm eine einheitliche ungegliederte Gesamtanschauung, in der die einzelnen Teile voneinander noch nicht unterschieden werden. In dieser Gesamtanschauung wirkt objektiv vorhandenes Gleichbleiben und Wechseln der Teile automatisch, ohne zu einer abstrakten Erkenntnis oder auch zu einem BewuĂtsein von âGleichâ oder ...