Andreas Filippi
Vor über 20 Jahren hatte ich als noch junger Assistenzzahnarzt die Gelegenheit, bei der zweiten Auflage des Atlas der Chirurgischen Zahnerhaltung unter Professor Dr. Horst Kirschner mitschreiben zu dürfen1. Dies und das damit verbundene Umfeld haben mich sehr geprägt, sodass die Thematik immer ein Schwerpunkt in meiner klinischen Tätigkeit war. Dieser Atlas wurde damals im Hanser Verlag unter der Federführung von Johannes Wolters realisiert, mit dem ich nun auch dieses Ihnen vorliegende Buch beim Quintessenz Verlag realisieren durfte. Auch unter diesem Aspekt schließt sich für mich ein Kreis.
20 Jahre sind eine lange Zeit und viel hat sich seitdem verändert. Dies betrifft beispielsweise die retrograden Füllungsmaterialien bei apikaler Chirurgie (damals noch Amalgam oder sogar Stopfgold [Abb. 1-1], heute hydraulische Silikatzemente), die Terminologie der verschiedenen Arten der Zahn-Plantationen (früher: auto-, auto-allo- und alloplastisch), die Indikation zur Anwendung orthograder oder retrograder Stiftinsertionen (Abb. 1-2 bis 1-5), die aufgrund der Lernkurve und der Verfügbarkeit sowie der enormen Fortschritte in der Endodontie heute kaum noch favorisiert werden, die Schnittführungen (z. B. bei Abszessinzision am Alveolarfortsatz oder bei Wurzelspitzenresektion), intraoperative Medikamente wie Schmelz-Matrix-Proteine, die Schienungstechnik (Abb. 1-6 bis 1-9) und vieles andere mehr.
Trotz enormer Weiterentwicklungen der oralen Implantologie in den vergangenen 20 Jahren hat die zahnerhaltende Chirurgie nie an Bedeutung verloren. Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. Exemplarisch zu nennen wäre die noch immer nicht mögliche parodontale Heilung von Implantaten, was ihren Einsatz im wachsenden Kiefer limitiert (Abb. 1-10 und 1-11), eine spätere kieferorthopädische Behandlung beim Erwachsenen beeinträchtigt und mit Schuld am häufigen Auftreten von Periimplantitis ist. Weitere Gründe sind der Wunsch vieler Patienten, eigene Zähne so lange wie möglich zu erhalten, die Zunahme polypharmazierter Risikopatienten sowie finanzielle Erwägungen.
Abb. 1-1Retrograde Stopfgold-Füllung an einem extrahierten Zahn.
Abb. 1-2Retrograde Stiftinsertion: Situation nach der großlumigen rotierenden Aufbereitung und …
Abb. 1-3… Sealer-Fixation eines glatten zylindrischen Titanstifts sowie …
Abb. 1-4… die zugehörige radiologische Darstellung.
Abb. 1-5Vor der Einführung der Titanstifte kamen Keramikstifte zum Einsatz.
Abb. 1-6Ältere Draht-Bracket-Schiene.
Abb. 1-7Unphysiologisch starre Ring-Klebe-Schiene.
Abb. 1-8Moderne Titan-Trauma-Schiene TTS®, …
Abb. 1-9… die seit 2017 auch in der deutlich unauffälligeren Farbe Silber erhältlich ist.
Abb. 1-10Klinisch progrediente Infraposition 7 Jahre nach Implantation 11, die deutlich zu früh im Alter von 25 Jahren erfolgte.
Abb. 1-11Klinisch progrediente Infraposition 14 Jahre nach Implantation 21, die deutlich zu früh im Alter von 25 Jahren erfolgte.
Auch die zahnerhaltende Chirurgie hat sich im gleichen Zeitraum erheblich weiterentwickelt und ihre Erfolgsraten müssen sich heute vor denen der oralen Implantologie nicht verstecken. Zahnerhaltende Chirurgie ist grundsätzlich günstiger, ist die deutlich biologischere Therapie, kommt dem Wunsch vieler Patienten näher, lieber den eigenen Zahn zu erhalten anstatt sich eine körperfremde Schraube operativ einsetzen zu lassen, hat die deutlich bessere Langzeitprognose als jedes Implantat, wenn der Zahn eine vitale Pulpa hat (was primär für Zahntransplantationen, kieferorthopädischen Lückenschluss sowie für Freilegung und orthodontische Einordnung gilt). Aber: Sie ist nicht in jedem Fall möglich und auch nicht in jedem Fall sinnvoll. Spätestens bei ausgedehnter Wurzelkaries, fortgeschrittener Wurzelresorption (invasive zervikale Resorption, Ersatzgewebsresorption, infektionsbedingte Resorption), „finaler“ Parodontitis marginalis, tiefen Kr...