Zeit und ›âventiure‹ in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹
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Zeit und ›âventiure‹ in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹

Zur narrativen Identitätskonstruktion des Helden

Antje Sablotny

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Zeit und ›âventiure‹ in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹

Zur narrativen Identitätskonstruktion des Helden

Antje Sablotny

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Warum verschwindet Parzival für lange Zeit aus seiner Erzählung? Wie wird in Wolframs Dichtung von Transzendenz(erfahrung) erzählt? Welche Rolle spielen die anderen Figuren und ihre Geschichten für das Erzählen von Parzivals âventiure? Antworten geben die Analyse narrativer Verfahren der Zeit, welche die Identitätskonstruktion des Helden bestimmen, sowie die Betrachtung der âventiure als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium.

Die konsequent narratologisch ausgerichtete Fragestellung wird mit den soziologischen Überlegungen Niklas Luhmanns zur religiösen Kommunikation und ihrer Leitdifferenz von Immanenz und Transzendenz, zudem mit Paul Ricoeurs Reflexionen zur Aporie der Zeitlichkeit und seiner Idee der narrativen Identität verknüpft. Die Organisation und Struktur der Erzählung werden auf diese Weise mit der für den Parzival relevanten Frage nach den Unverfügbarkeitskonstruktionen enggeführt. Damit gelingt eine neue Perspektive auf einen der bedeutendsten Romane des Hochmittelalters. Beispielhaft vorgeführt wird zudem, wie der wechselseitige Zusammenhang von Zeit, Erzählung und Lebenszeit des Helden analytisch gefasst werden kann.

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Information

Publisher
De Gruyter
Year
2020
ISBN
9783110661989

1 Einleitung – Zeit und Erzählung

Die vorliegende Untersuchung widmet sich der narrativen Zeitstruktur als einem für den Parzival Wolframs von Eschenbach höchst relevanten Beobachtungsfeld. Ich möchte zeigen, dass insbesondere die zeitliche Organisation der Erzählung für die Konstruktion des gleichnamigen Helden entscheidend ist. Meine analytische Grundvoraussetzung stellt dabei das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Zeit und Erzählung dar. Es wird im Folgenden in enger narratologischer Perspektive entfaltet, welche wiederum auf der Leitdifferenz von discours und histoire beruht.
Indem ich im Feld der zeitlichen Struktur und Organisation des Romans Narration und Identität des Helden analytisch zusammenführe, verknüpfe ich wohl die beiden zentralen Sinnaspekte des Parzival zu einem interpretatorischen Neuansatz: Sowohl die Frage nach der spezifischen Bewährung und Leistung des Helden als auch die Frage nach der komplexen Erzähltechnik Wolframs haben bekanntlich eine lange Forschungstradition.
Die Verknüpfung von Narration und Identität des Helden realisiert zum einen die Logik und Semantik des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums âventiure: Als âventiure-Handeln und âventiure-Erzählen verschränkt die âventiure discours und histoire so miteinander, dass auf beiden Ebenen die Ordnung und Dauer der Ereignisse um Parzival mit der Logik des Erzählens kurzgeschlossen werden. Zum anderen wird für die Identität des Helden die Frage nach Transzendenzkonstruktionen wichtig, welche dezidiert als narrative Leistung in den Fokus rücken soll. Solche Unverfügbarkeitsstellungen, die im Parzival zeitlich organisiert werden, generieren die Geschichte des Helden als eine dynamische Größe. In der Verschränkung von intradiegetischer und extradiegetischer Ebene ist die spezifische Identität Parzivals durch narrative Refigurationen gekennzeichnet.
Der Held in Wolframs Parzival wird nicht nur ein erfolgreicher Artusritter, sondern der Herrscher über den Gral. Beides wird er nach anfänglichen Schwierigkeiten, die durchaus im Feld poetischer Regelhaftigkeit bleiben. Seine âventiure allerdings unterscheidet sich erheblich von denen der rein arthurischen Helden: Das dem Leser vertraute und in der epischen Welt des höfischen Romans sonst so gut funktionierende Leistungs-Lohn-Prinzip scheint hier seine Gültigkeit zu verlieren. Sowohl die Gründe seines temporären Scheiterns als auch die Gründe seines letztlichen Erfolgs sind nicht ganz durchsichtig. Sie sind auch nicht mit dem gewohnten am Artusroman geschulten Lektüreblick vereinbar. Denn Parzivals Berufung zum Gralskönig erfolgt nicht aufgrund der in einem doppelten Kursus gewonnenen Einsicht in die Gründe für die Krise nach seinem ersten Erfolg, sondern offenbar allein durch die Gnade Gottes – und die ist unverfügbar. Ohne Zweifel entwickelt der Roman von diesem Problemfeld aus seine enorme Komplexität, die bis hinein in seine Mikrostruktur beobachtbar ist.1 Hierzu gehört die wohl augenscheinlichste Merkwürdigkeit des Romans: Für lange Zeit verschwindet der Held einfach aus seiner Erzählung. Statt seiner stehen dann die âventiuren Gawans im Fokus. Hier deutet sich denn auch ein erster Zusammenhang an zwischen Wolframs komplexer Erzähltechnik und Parzivals spezifischer Gralsâventiure, den ich mit dem Schwerpunkt auf die Zeit der Erzählung erhellen möchte. Es sind vor allem die narrativen Verfahren der Zeit – so meine Leitthese –, welche die Identitätskonstruktion des Helden bestimmen.
Zeit und Erzählung stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander:2 Erzählt wird in der Regel Lebenszeit – sei es in der Erzählung vom krisenhaften, aber erfolgreichen Auszug des arthurischen Helden wie im Erec Hartmanns von Aue, in Form einer Bekehrungsgeschichte wie in der Legende des heiligen Franziskus oder im ‚autobiographischen‘ Erzählen, etwa im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. Paul Ricœur hat diesen Zusammenhang in seiner umfassenden Studie zu Zeit und Erzählung der „mimetischen Funktion der Erzählungen“ zugeschrieben, die „vorzugsweise im Feld der Handlung und ihrer zeitlichen Werte“ wirkt.3 Zu den Grundannahmen einer Erzählung gehört auch, dass sie Zeit ‚kostet‘: Zeit, sie zu erzählen, zu hören oder zu lesen, schließlich, um sie zu verstehen – und dabei kann sie auch Zeit vertreiben. Insofern unterscheidet bereits Günther Müller zwischen der Zeit, die es dauert, die Erzählung zu vermitteln, und der Zeit, die in der epischen Welt vergeht, das heißt zwischen der Erzählzeit einerseits und der erzählten Zeit andererseits.4
Die „akzentuierte Zeitdualität […] ist ein charakteristisches Merkmal nicht nur der kinematographischen [und schriftlichen – A. S.] Erzählung, sondern auch der oralen, wie stark diese auch ästhetisch durchgestaltet sein mag“.5 Die Reziprozität von Erzählzeit und erzählter Zeit findet ihren Ausdruck in der – wie Gérard Genette präzisiert – basalen Voraussetzung, dass eine Erzählung „nur in einer Zeit ‚konsumiert‘, das heißt aktualisiert werden [kann], nämlich in der Lektüre“.6 Gleiches gilt für den mündlichen Vortrag vor einem Publikum, wie ich nachdrücklicher als Genette selbst und freilich im Hinblick auf den typischen Rezeptionsmodus volkssprachlicher Literatur des hohen Mittelalters ergänzen möchte. Zwar kann die Sukzessionsordnung gerade der mündlichen Erzählung „von einer sprunghaften, repetitiven oder selektiven Lektüre außer Kraft gesetzt werden“, ihre orientierende Geltung aber verliert sie dadurch nicht: „Der narrative Text hat, wie jeder andere Text, keine andere Zeitlichkeit als die, die er metonymisch von seiner Lektüre [respektive seinem Vortrag – A. S.] empfängt.“7 Genette kennzeichnet die Zeit der Erzählung als ‚Pseudo-Zeit‘, die deshalb ‚quasi-fiktiv‘ ist, weil „sie für den Leser empirisch in einem textuellen Raum besteht, den allein die Lektüre in Dauer (zurück)verwandeln kann“.8 In dieser quasi-fiktiven Zeit der Erzählung scheint mir jenes Potenzial angelegt, die Lebenszeit der Heldin oder des Helden zur Lebenszeit der bzw. des Erzählenden, Vortragenden, Lesenden und Hörenden werden zu lassen – sie hat also ein erhebliches Identifikationspotenzial.9
Der erste Teil des Titels der vorliegenden Arbeit heißt aber nicht Zeit und Erzählung, sondern Zeit und âventiure. Das ist nicht bloß der Versuch einer Umschrift von ‚Erzählung‘ ins Mittelhochdeutsche, sondern betont zunächst die elementare Geltung jenes terminus technicus für das höfische, insbesondere arthurische Erzählen: Seine Helden reiten aus, um âventiuren erfolgreich zu bestehen, âventiuren von diesen Heldentaten werden dann sowohl intra- als auch extradiegetisch erzählt.10 Für den Parzival Wolframs von Eschenbach bekommt der Begriff âventiure aber einen besonderen Stellenwert, weil sich mit ihm ein sowohl narratives als auch pragmatisches Konzept verbindet, das den Parzival als Artus- und Gralsdichtung gegenüber ‚rein‘ arthurischen Romanen profiliert. Wolframs âventiure von Parzival ist dabei eng mit der zeitlichen Struktur der Erzählung verknüpft, welche über das übliche Spiel mit der Ordnung der Ereignisse und mit der Modulation der Geschwindigkeit der Erzählung hinausgeht. Das sehr komplexe zeitliche Arrangement im Parzival wird – so die Leitthese meiner Arbeit – selbst zu einem entscheidenden Mittel der Sinngenerierung. Um Wolframs Parzival zu verstehen, wird daher die narrative Zeitstruktur zu einem erforderlichen Beobachtungsfeld. Sie berührt ein Kernproblem der Parzival-Forschung, die sich an Parzivâl[,] de[m] tumbe[n] (Pz. 155,19) und küene[n], træclîche wîs (Pz. 4,18) werdenden Helden, abarbeitet: Der jüngste Spross der Gralsdynastie wird trotz seines Frageversäumnisses auf Munsalvaesche am Ende Gralskönig.11 Insofern will meine Anschlussfrage die Identitätskonstruktion des Helden als eine narrative Leistung in den Blick nehmen; sie reflektiert den zweiten Titelteil meiner Arbeit. Den Parzival unter erzähltheoretischen Prämissen auf die so grundlegende Verknüpfung von Zeit und âventiure hin zu untersuchen, scheint mir in Bezug auf sein hohes narratives Komplexitätsniveau nicht nur angemessen, sondern vielmehr notwendig, um ihm als höfischem Ausnahmetext gerecht zu werden.

1.1 Erzählforschung zu Wolframs Parzival

Wenn ich meinen Schwerpunkt auf das narrative Arrangement der Zeit im Kontext von Wolframs spezifischem âventiure-Entwurf lege, schließe ich an die lange Tradition der Forschungsgeschichte an, die sich mit Wolframs Erzähltechnik, seinen poetologischen Selbstaussagen und schließlich mit seiner Erzählerrolle im Parzival beschäftigt. Aus der Menge an Literatur möchte ich lediglich an Schlaglichter erinnern, welche die Parzival-Forschung nachhaltig beeinflusst haben. Zu nennen sind die frühen Arbeiten von Wolfgang Mohr etwa zur grundlegenden Verknüpfungstechnik und zur Komposition der Hintergrundhandlung12 sowie die Studie Max Wehrlis, in der der spannungsvolle Erzählstil anhand der Syntax und des Reimgebrauchs im Parzival vorgeführt wird.13 Nachhaltig sind Walter Haugs Überlegungen zur Symbolstruktur und Literaturtheorie, mit denen er den Sonderstatus von Wolframs Dichtung zunächst über dessen programmatische Absage an die herkömmliche sinnstiftende Struktur des Doppelwegs und dann über dessen enormen Rezeptionsanspruch profilieren kann, der in Prolog, Bogengleichnis und ‚Selbstverteidigung‘ formuliert wird.14
In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wird der Fokus auf die Erzählerrolle pointierter. Michael Curschmanns Aufsatz Vom Abenteuer des Erzählens ist deshalb unbedingt hervorzuheben, weil er grundsätzlich Autor und Erzähler differenziert und Wolframs Erzähler mit seinen verschiedenen, sich verschränkenden Rollen, die Curschmann als Masken beschreibt, als selbstreflexiven Ausdruck des Erzählens selbst betont.15 Die nur zwei Jahre danach erschienene Monographie Eberhard Nellmanns bietet eine eingehende Analyse der Typen und Funktionen der Erzählereingriffe in Wolframs Gesamtwerk. Die Selbstaussagen des Erzählers sind etwa auf die Funktionen des Publikumskontakts, der Beglaubigung, der Gliederung und Kommentierung, schließlich im Kontext affektiver Äußerungen zu lesen. Auf Basis des werkimmanenten Erzähler-Publikum-Modells von Wolfgang Kayser führt Nellmann die Differenzierung zwischen Autor und fiktivem Erzähler fort und erweitert diese um das von Wolfram geschaffene „fiktive[] Idealpublikum“ als „Form der Publikumsbeeinflussung“.16 Im Gegensatz zu Curschmann allerdings geht er „von einer Erzählerrolle aus, die zwar verschiedene Aspekte hat, jedoch ohne Schwierigkeiten vom Vortragenden als einheitliche Figur realisiert werden kann“.17
Vor allem seit den 1990er Jahren liegt ein kontinuierlicher Forschungsschwerpunkt auf der spezifischen Erzählweise im Parzival. Er schlägt sich neben zahlreichen Aufsätzen, mit denen ich mich im Rahmen meiner Einzelanalysen entsprechend auseinandersetzen werde, in umfassenden Gesamtstudien, vornehmlich Dissertationen, nieder. Diese greifen jedoch die in der Germanistik ohnehin nur zögerlich rezipierten (post‐)strukturalistischen Ansätze zum Erzählen nicht auf. Eine Ausnahme bildet die wenig beachtete Studie The Art of Recognition von Dennis Howard Green, die allerdings schon 1982 erschienen ist und damit die Forschungsentwicklung vorwegnimmt.18
Die darauffolgenden einschlägigen Dissertationen haben ganz unterschiedliche Frageinteressen. Ihnen gemeinsam ist die analytische Verknüpfung ihres jeweiligen Schwerpunkts mit den spezifischen Erzählverfahren Wolframs, aber auch ihre fehlende oder höchstens rudimentäre Motivation für eine im engeren, Genette’schen Sinne erzähltheoretisch geleitete Textanalyse: Alexandra Stein stellt 1993 einerseits erneut die Frage nach der Erzählstruktur des Doppelwegs im Sinne Hugo Kuhns im Parzival. Mit der Metapher des ritterlichen strîtens für die Erzählstrategien des Textes scheint sie andererseits die Frage nach der Doppelwegstruktur zu relativieren und vielmehr die mit dem Wolfram’schen Erzählen erreichten Irritationen als eine wichtige Funktion für den Rezeptionsprozess zu profilieren.19
Mit einem elaborierten theoretischen Zugang macht Ulrike Draesner im selben Publikationsjahr die moderne Intertextualitätsdebatte für das vormoderne Erzählen anschlussfähig und erarbeitet umfassend die Intertextualitätsphänomene und ihre Funktionen im Parzival. Die narrativen Strategien Wolframs werden hier im Feld von Traditionseinbindung und künstlerisch-überlegener Transformation verortet; im Rahmen dessen wiederum sind die Fremdtextverweise vielfältig mit der eigenen Dichtung verflochten.20
Auch die Dissertation von Cornelia Schu, die „als Beitrag zu d[er] intensivierten Untersuchung des Erzählens im Parzival“ angekündigt wird,21 ist nicht von einem narratologischen Frageinteresse im engeren Sinne geleitet, wenn letztlich gattungspoetologisch auf Grundlage der Romantheorien Georg Lukács’ und Michail Bachtins argumentiert wird.22 Einen spezifischeren Zugang zum Erzählen im Parzival hingegen bietet Martin Schuhmann, weil er sein Frage...

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