1.1 Authentizität – Performativität – Sprache
Barack Obama hat ein auffällig offenes Lächeln, das niemals aufgesetzt wirkt, weil er in der Lage ist, es in den Augen beginnen zu lassen. Wer nur die Mundwinkel auseinander zieht, wirkt nicht authentisch.
(Süddeutsche.de, 31.01.2009)
Clinton ist nicht glaubwürdig, sie schafft es nicht mal, Authentizität wenigstens zu vermitteln.
(taz.de, 18.02.2016)
Jede Gefühlsregung spiegelt sich in seiner Mimik und Gestik. Zurückhaltung ist keine Eigenschaft von Donald Trump. Genau das macht den politischen Quereinsteiger aber so authentisch.
(Welt Online, 22.07.2016)
Während Charles Taylor in Sources of the Self (1989) Authentizität als das ethische Ideal der späten Moderne betrachtet, sehen andere darin ein – mit Fritz Hermanns gesprochen – modisches ‚Hochwertwort‘1 (Hermanns 1994) der Gegenwart. Ein Begriff also wie etwa ›Nachhaltigkeit‹ oder ›Freiheit‹, der im öffentlichen Diskurs eigentlich nur Befürworter kennt, jedoch Gefahr läuft, zu einer Leerformel zu verkommen. So wird versucht, beinahe jedes Produkt, jede Marke und jeden Politiker und jede Politikerin2 als authentisch zu etikettieren – und diesem Etikett entsprechend zu inszenieren. Einerseits scheint Authentizität eine gegenwärtig signifikante Orientierungs- und Entscheidungskategorie bezüglich des Wahrnehmens, Erfahrens und (Er-)Lebens zu bilden, andererseits eine kommerziell nutzbargemachte Diskursfunktion der Jetztzeit. Dass sich an dem Begriff die Geister scheiden, kann bereits ein Auszug diskursiver Bestimmungsversuche aus den Textdaten dieser Arbeit zeigen. Demnach ist Authentizität …
… ein Sehnsuchtswort; … das oberste Gebot; … kein Faktum; … dein Kapital; … der Schlüssel; … ein breiter Trend; … Quark; … das Erfolgsgeheimnis; … ein Schlagwort; … ein wichtiger Wert in der Politik; … Gradmesser der Vermarktbarkeit; … die kleine, wilde Schwester der mühelosen Eleganz; … das Langweiligste, was es gibt; … nur eine Pose; … der Gegenentwurf zu Personenkult; … Trumpf; … ein hohes Gut; … ein zentrales Prinzip; … das Ideal der Moderne.
So oder so: Blickt man auf die oben zitierten Zuschreibungen, so scheint Authentizität ein Erfolgsfaktor im Raum medialer Öffentlichkeit zu sein und damit ein erstrebenswertes Gut für Akteure, die in der Öffentlichkeit stehen. Die Frage danach, warum den Akteuren in den oben angeführten Zitaten Authentizität zugeschrieben wird, führt zu zwei konstitutiven Bestandteilen einer jeden Zuschreibung: demjenigen, der etwas zuschreibt und demjenigen, dem etwas zugeschrieben wird. Damit gerät zum einen der sich in sozialsemiotischen Praktiken hervorbringende Akteur in den Blick, dem in Interaktionen die vollen indexikalischen Potenziale von Körper und Sprache zur Verfügung stehen, zum anderen der Akteur, der aus einer bestimmten Perspektive und innerhalb bestimmter Bezugsrahmen jemanden (de-)authentifiziert.3 Authentizität hängt also mit Körperlichkeit und Sprache als Mittel performativer Bedeutungsgenerierung zusammen und zugleich mit Sprache, wie wir sie in den diskursiven Zuschreibungspraktiken finden und wie sie uns überhaupt erst einen Zugang zu Bedingungen, Maßstäben und Indikatoren einer Attribuierung von Authentizität ermöglicht.
Dieser Befund ist für die Linguistik von besonderem Interesse, werden mit ihm doch die Verwendungsweisen des Authentizitätsbegriffs in themenübergreifenden Diskursen zur maßgeblichen Erkenntnisquelle über ein gesellschaftliches Phänomen der Jetztzeit erhoben. In anderen Disziplinen liegen bereits empirische Arbeiten zu Authentizität vor (siehe 1.3 zum Forschungsstand), in der (diskursanalytisch verfahrenden) Linguistik fehlen diese größtenteils noch bzw. stehen sie noch aus (z. B. der demnächst erscheinende Sammelband zum Thema Authentizität zwischen Wahrhaftigkeit und Inszenierung).
1.2 Erkenntnisinteresse und Zielsetzung
Wie die drei Eingangszitate zeigen, wird unterschiedlichen Akteuren aus verschiedenen Gründen Authentizität zu- bzw. aberkannt. Diese reichen von körperlichen Performanzen wie dem Ausübungsstil eines Lächelns über eine Entsprechung von vermeintlicher Innerlichkeit und Äußerlichkeit bis zur Unfähigkeit, den Eindruck von Authentizität überhaupt vermitteln zu können. Damit sind bereits der Erkenntnisrahmen und das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit abgesteckt. Es gilt herauszuarbeiten, wie und weshalb diskursiv Authentizität zugesprochen oder aberkannt wird. Zentral ist also die Frage danach, unter welchen Bedingungen ein (zuschreibender) Akteur einen (performenden) Akteur (de-)authentifiziert.4 Dabei sollen die wesentlichen Konstituenten im Prozess diskursiver (De-)Authentifizierungen ermittelt und in ihrer Reziprozität ausgeleuchtet werden. Rückschlüsse über diese Wirkungen sind dem Diskursanalytiker, der es mit literalen Zuschreibungen zu tun hat, in den sprachlichen Zeichenketten ebenso zugänglich wie die Prädikationen von (Nicht-)Authentizität. In diesen manifestieren sich narrativ entfaltete und diskursiv etablierte Anzeichen für Authentizität.
Ziel ist es, über die Analyse diskursiver Zuschreibungspraktiken in der medialen Öffentlichkeit kulturelle Authentizitätsverständnisse und Indikatoren gesellschaftlichen Erlebens von Authentizität zu rekonstruieren. Medientexte als Untersuchungsgrundlage5 werden dabei als ‚veröffentlichte Meinung‘ verstanden, in denen sich Verwendungsweisen des Authentizitätsbegriffs und damit auch Verständnisse von Authentizität manifestieren und reproduzieren. Mit dem Singular Meinung wird keine Unifizierung gesellschaftlicher Meinungen ausgedrückt, da
ganz undenkbar [ist], daß in fünf Milliarden Köpfen (oder auch nur in einem bestimmten Bruchteil davon) in einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Meinungen operativ übereinstimmend aktualisiert werden.
(Luhmann 19942: 77)
Zudem werden „[u]nter medialer Öffentlichkeit […] Kommunikationsangebote verstanden, die durch Massenmedien dem Publikum zugänglich gemacht werden“ (Gehrau 2009: 31).
Entscheidend ist dabei die in dieser Arbeit getroffene Unterscheidung von ›erlebter‹ und ›diskursiver Authentizität‹6: Auf der einen Seite ist Authentizität als performativ erzielte Wirkung in personalen Interaktionen zu verstehen, in denen Akteure mit dem gesamten semiotischen Potenzial von Körperlichkeit (Mimik und Gestik), Stimme und Sprache in Erscheinung treten; auf der anderen Seite stehen die – jenen Performanzen nachgelagerten und diese reflektierenden – Zuschreibungen von (Nicht-)Authentizität im öffentlichen Raum. Diese bilden stets einen sprachlich formatierten und perspektivierten Zugang zu dem, was als ‚authentisch (erlebt)‘ vermittelt wird.
Der oder die korpusgestützt arbeitende Sprachforschende hat es also nicht mit dem Erleben als einem psychischen, kognitiven und körperlichen Prozess zu tun, sondern mit verschriftlichten Zuschreibungen von (Nicht-)Authentizität. Die Ebene personaler Interaktion unter körperlich Anwesenden mit ihrer Multimodalität und Flüchtigkeit der performativen Bedeutungsgenerierung bleibt einer so verfahrenden Analyse entzogen. An die Stelle des Sich-Ereignenden tritt die sprachliche Aufbereitung und Evaluation des Sich-Ereigneten in Form von (Nicht-)Authentizitätszuschreibungen. Diese werden verstanden als semiotisch geformte Ausweise rezipientenseitigen Erlebens von Authentizität.
Die diskursiven (De-)Authentifizierungsvorgänge samt ihren Konstituenten sowie ihrer Beziehung zueinander sollen dechiffriert und systematisiert werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Konzeptualisierung von Indikatoren ›erlebter Authentizität‹. Diese werden anhand empirischer Analysen (medialen) Sprachgebrauchs gewonnen und fungieren zuschreibungs- und kontextübergreifend als Anzeichen für Authentizität.
1.3 Forschungsstand und Forschungslücken
Etymologische Herleitung des Authentizitätsbegriffs
Eine eindeutige Definition von ›Authentizität‹ lässt sich sowohl aus diachroner als auch aus synchroner Perspektive nicht geben. So erfuhr der Begriff in seiner Wortgeschichte mannigfaltige Prägungen durch Verwendungen in unterschiedlichsten Lebens- und Wissensdomänen. Als semantische Ressourcen seiner Teilkonzepte führt Knaller primär die Bereiche „Recht, Theologie, Philosophie, Musik und Ethnologie“ (vgl. Knaller 2006: 17) sowie die seit dem späten 18. und insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert geführten Kunstdiskurse an.
Etymologisch wurzeln die deutschsprachigen Ausdrücke Authentizität und authentisch im griechischen Wort αυθεντης, das den ‚Urheber, Ausführer, Selbstherr‘ (vgl. Frisk 1960: 185) bezeichnet. Gemeint ist somit „jemand, der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt“ (Röttgers/Fabian 1971: 691). Daneben führt Jacob und Wilhelm Grimms Deutsches Wörterbuch auch die Bedeutungen „echt, wahr, verbürgt, wortgetreu, gesicherter herkunft, einem sachverhalt getreu“ (Grimm 2007: 1654) an. Das Adjektiv αὐθεντικός „bedeutet seiner Bildung nach ‚zum Urheber (einer Tat) in Beziehung stehend‘, daher (bes. von Schriften und Äußerungen) ‚original, zuverlässig, maßgebend‘“ (Pfeifer 1989: 102; vgl. Grimm 2007: 1654). Das spätlateinische authenticus wird zunächst ebenfalls auf Schriftstücke bezogen (vgl. Pfeifer 1989: 102). Im Mittellateinischen erweitert die Adjektivform jedoch ihren Bedeutungsrahmen und umfasst nun Teilkonzepte wie „‚original, echt, zuverlässig‘ als auch ‚anerkannt, rechtmäßig, verbindlich‘“ (Pfeifer 1989: 102). In gegenwärtigen deutschsprachigen Wörterbüchern wie dem Wahrig, dem Duden Fremdwörterbuch oder dem Deutschen Wortfamilienbuch finden sich für authentisch die Bedeutungen „verbürgt, echt, zuverlässig“ (Wahrig-Burfeind 20068: 214; Dudenredaktion 20033: 163) sowie „echt, den Tatsachen entsprechend u. daher glaubwürdig“ (Splett 2009: 302). Das Deutsche Fremdwörterbuch unterscheidet zudem...