Macht der Korruption
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Macht der Korruption

Eine philosophische Spurensuche

Heiner Hastedt

  1. 143 pages
  2. German
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Macht der Korruption

Eine philosophische Spurensuche

Heiner Hastedt

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Korruption ist ein faszinierendes Thema, das sich fĂŒr Kriminalgeschichten eignet und den Blick in den furchterregenden Abgrund von Gesellschaften richtet. Gleichwohl betreibt dieses Buch keinen EnthĂŒllungsjournalismus, sondern reflektiert mit philosophischen Mitteln ĂŒber eine weithin bekannte und uns alle betreffende gesellschaftliche RealitĂ€t. Die öffentliche Debatte wird von der Skandalisierung bekanntwerdender EinzelfĂ€lle dominiert – aber die abstrakte moralische Verurteilung, die meist auf dem Fuße folgt, steht einer erfolgreichen gesellschaftlichen EindĂ€mmung eher im Wege.Gedanklich folgt das Buch einem Dreischritt: Nach einer moralisch begrĂŒndeten, relativen Ausweitung der KorruptionsmaßstĂ€be folgen eine Reihe von Einzelstudien, die mit interkulturellen und historischen Belegen zu mildernden UmstĂ€nden der Anklage fĂŒhren. Die anschließende Vermittlung zwischen MoralitĂ€t und FaktizitĂ€t fragt nach den Voraussetzungen fĂŒr die Überwindung der HĂŒrden zur Unbestechlichkeit, bis hin zur Utopie einer Welt ohne Korruption.

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Information

Year
2020
ISBN
9783787338191

1

SelbstverstÀndigung mit einer Gedankenreise auf die Galapagos-Inseln

Bestechlichkeit ist nur eine Frage des Preises«, sagt eine alte Weisheit. In der ErwĂ€gung der These, dass wir letztlich alle korrupt sind, liegt eine Provokation, die zu einer Gedankenreise einlĂ€dt, bei der zu Beginn noch offenbleibt, wo wir landen werden und wie die Antwort lautet. Geschwind in eigener Sache mit durchaus banalen Beobachtungen angefangen: Im Alltag benutze ich meinen Professoren- und Doktortitel nicht, mir kĂ€me das angeberisch vor. Schließlich sind wir alle gleichermaßen Menschen und das Bestehen auf Distinktion ist arrogant. Doch wenn ich mich beim Facharzt erstmals anmelde, achte ich sorgfĂ€ltig darauf, dass beide Titel in den Praxisunterlagen erscheinen. Was verspreche ich mir davon? Im Zweifelsfall doch wohl eine aufmerksamere Behandlung. Ist das korrupt? Oder mĂŒsste, um diese Charakterisierung zu rechtfertigen, zusĂ€tzlich Geld fließen? Wie damals, als ich zu Zeiten des Sozialismus in Budapest nur mit einem Geldschein, vorab still auf den Anmeldetresen gelegt, ein freies Hotelzimmer ergattern konnte.
Bei sich selbst loslegen im Nachdenken ĂŒber Korruption heißt möglicherweise auf Verfehlungen zu stoßen, aber auch selbst bewertend Stellung zu nehmen zur beobachteten und erlebten Bestechlichkeit in der Welt. Dabei mag Philosophie, als EinĂŒbung in Nachdenklichkeit6, helfen; sie stellt jedoch zugleich fĂŒr die Frage nach Korruptheit einen ersten zu betrachtenden Gegenstand dar. Wenn nĂ€mlich Gedanken genauso wie Menschen und deren Taten korrupt sein können, dann auch die Disziplin, die mich prĂ€gt.
FĂŒr mich selbst gilt, dass mich schon etwas auf die Palme bringen kann, was andere noch als normale, nicht zu beanstandende Netzwerkerei und Beziehungspflege ansehen. Diese Selbstdiagnose fĂŒhrt zur selbstkritischen Frage: Bin ich ein verbohrter Moralist, der vor lauter Individualismus die ĂŒblichen Gepflogenheiten zwischen Menschen geringschĂ€tzt und dem das rechte Maß im Hinblick auf die Irrungen und Wirrungen des Lebens verlorengegangen ist? Manchmal reicht mir schon der auf Macht zielende Versuch, die Welt in ParteigĂ€nger und Andere einzuteilen, um einen Missbrauch des Denkens zum privaten Nutzen festzustellen. So geeicht, sehe ich den gleichen Typ von korrupter Parteilichkeit auch gegenwĂ€rtig noch fast immer als allgegenwĂ€rtig an. GemĂ€ĂŸ dieser weitgehenden EinschĂ€tzung ist es aber schon korrupt, vorgegebene Richtigkeiten und jede Art von SelbstverstĂ€ndlichkeiten zu akzeptieren, falls sie vor allem den eigenen Interessen dienen, weil damit die Wahrheit in ihrer Dimension der BerĂŒcksichtigung aller Menschen ignoriert wird. Verwechsle ich mit dieser rigorosen Ausrichtung aber nicht beispielsweise Politik, in der es um die robuste Realisierung des als richtig Erkannten geht, mit einer unpolitischen, passiv bleibenden Weltbetrachtung? Wird also von mir ein moralisierender Zugriff mit der Tendenz zur schöngeistigen Selbstbespiegelung oder – schlimmer noch – der folgenlosen allgemeinen Weltanklage gepflegt, der das Wesen der Politik in der Formulierung des Soziologen Max Weber als Kampf um Macht zur Durchsetzung von Zielen verfehlt?7
Zur Versachlichung dieser selbstkritischen Frage hilft ein Blick auf Aristoteles. Dieser hatte eine Lehre der Mitte und des Maßes formuliert, die empfiehlt, das Richtige beispielsweise bei der Tapferkeit zwischen TollkĂŒhnheit und Feigheit zu suchen. Demnach beraubt sich der Urteilende der umfassenden Einsichten der FlĂŒgel, wenn er oder sie sich nur auf die eine Seite des zu Beurteilenden fixiert. In seiner politischen Philosophie rechnet Aristoteles in seiner Formenlehre, in der Monarchie, Aristokratie und Demokratie potentiell als legitime Formen des Politischen angesehen werden, stĂ€ndig mit der Verderbtheit – und nichts anderes ist Korruption in der Antike – aller drei Formen. Es geht ihm also weniger um die Frage, ob die Monarchie oder die Aristokratie oder die Demokratie immer als richtige Form anzusehen sind, sondern um die FĂ€higkeit zu beurteilen, wann das potentiell Richtige in die Verderbtheit abrutscht. Vor ihr kann man nicht ein fĂŒr alle Mal sicher sein, sondern sie droht quasi immer. So stellt sich die Aufgabe, dem Korrupten immer neu zu entkommen, weil die Gefahr nie völlig gebannt ist.
Ist hingegen eine ĂŒberĂ€ngstliche Korruptionsvermeidung nicht geeignet, das Wesen des Politischen zu verfehlen? Und die hier erforderliche FĂ€higkeit zur List zu ĂŒbersehen? NiccolĂČ Machiavelli stellt als Philosoph des frĂŒhen 16. Jahrhunderts nicht die tiefschĂŒrfende Erkundung des eigenen Selbst in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern die Empfehlungen an den FĂŒrsten, taktisch-strategische Überlegungen geschickt und die List nutzend zu realisieren. Die Beachtung der Moral ist fĂŒr das politische Personal kein positives Auswahlkriterium. Daher ist Korruption wohl fĂŒr Machiavelli selbst, aber auf jeden Fall fĂŒr Machiavellisten legitim, wenn sie wie bei Lincoln die Ziele des Politischen zu erreichen hilft. In einem Handbuch »Machiavelli fĂŒr Demokraten« wĂ€ren machtorientierte, vielleicht sogar korrupte Politiker nicht grundsĂ€tzlich zu kritisieren, sondern lediglich ihr Unvermögen, Skeptiker erfolgreich und unter Einsetzung taktisch versierter Mittel ĂŒberzeugt zu haben. Der Zweck der Zielerealisierung und auf dem Weg dazu auch der Machterringung heiligt fĂŒr den kompetenten Politiker nicht nur bei Machiavelli viele auch ethisch problematische Mittel, solange die Ziele akzeptabel sind und der persönliche Machterhalt nicht das einzige Ziel ist. Die »Kunst der List« – seit vielen Jahrhunderten in China gepflegt – gehört fĂŒr den Machiavellisten ebenso im neuzeitlichen Europa ins Repertoire der Politik. »Im Osten lĂ€rmen, im Westen angreifen«, »Aus einem Nichts etwas erzeugen« und »Hinter einem LĂ€cheln den Dolch verbergen« mögen als Listen bis heute zur Schule des Umgangs nicht nur mit Parteifreunden gehören.8
Michel de Montaigne ist anders als der Ă€ltere Machiavelli im 16. Jahrhundert der Inbegriff des skeptischen Philosophen, der sich in der BeschĂ€ftigung mit sich selbst zugleich mit der Welt auseinandersetzt und in seinem Urteil in Distanz zu den ĂŒblichen Meinungen bleibt. Mit Blick auf die zeitgenössischen Religionskriege, in denen sich selbst Nachbarn abschlachten, wehrt er sich vehement dagegen, dass wir die eigenen Fehler nicht mit gleicher SchĂ€rfe angehen wie die der Anderen. Mit diesem Gedanken wird Montaigne zum idealen GewĂ€hrsmann fĂŒr die Fahndung nach der Korruptheit von Menschen und deren Einstellungen.9 Ihm geht es darum, nicht blindlings vorherrschenden Meinungen und dem Brauch des Landes zu folgen, sondern ganz unabhĂ€ngig dem offenen, nachdenklichen Urteil. Er kultiviert eine erprobende Form des Philosophierens, die das Ich als Erfahrungsquelle konsequent zum Nachdenken ĂŒber sich und ĂŒber vieles in der Welt nutzt. FĂŒr eine kurze Zeit BĂŒrgermeister von Bordeaux, zieht er sich, nicht untypisch fĂŒr einen französischen Landadeligen seiner Zeit, zurĂŒck und betrachtet sich und die Welt aus dem Turm seines Anwesens, in dem er sich frei macht von allen AbhĂ€ngigkeiten und seine EinsamkeitsfĂ€higkeit kultiviert. Dabei entwickelt er ein Muster der Nachdenklichkeit, das in seiner IntensitĂ€t und Beweglichkeit fĂŒr die UnabhĂ€ngigkeit des Urteilens vorbildlich ist.
Eine solche UnabhĂ€ngigkeit ist sicher ein hoher Wert, fĂŒr den die Philosophie, vielleicht ĂŒberhaupt die Wissenschaft, aber auch das öffentliche Wirken von Intellektuellen stehen. Wahrheit und nicht Kampf um Macht als Selbstzweck bildet hier die Orientierung. Sind Menschen, die wie ich schnell zu dem Urteil, dass Korruption vorliegt, kommen, also fĂŒr die Politik nicht geeignet und sollten tatsĂ€chlich – wie bei mir der Fall – lieber in die vermeintlich oder tatsĂ€chlich weniger anfĂ€llige Wissenschaft gehen? Eine Erinnerung an Max Weber, der als Gelehrter Großes geleistet hat, aber in der Politik trotz einiger Versuche nie richtig Fuß fassen konnte, legt solches nahe. Weber betont die Leidenschaft in der Wissenschaft und die FĂ€higkeit, unbequeme Wahrheiten anzuerkennen: »Wenn jemand ein brauchbarer Lehrer ist, dann ist es seine erste Aufgabe, seine SchĂŒler unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren, solche, meine ich, die fĂŒr seine Parteimeinung unbequem sind; und es gibt fĂŒr jede Parteimeinung – z. B. auch fĂŒr die meinige – solche Ă€ußerst unbequemen Tatsachen.«10
WĂ€hrend es in der mittelalterlichen Disputation zum Arrangement gehört, dass zunĂ€chst vor der eigenen Stellungnahme die These des Kontrahenten angemessen wiedergegeben werden muss, ist es in der politischen Auseinandersetzung, und zwar im Parlament ebenso wie in der Talk-Show – ganz zu schweigen von der digitalen Welt der Netze heute –, oft grotesk, auf welch niedrigem Niveau die Wiedergabe der Sichtweise der gegnerischen Partei erfolgt. Die Fortschritte der Gegenwart scheinen diesbezĂŒglich mit RĂŒckschritten gegenĂŒber dem vermeintlich so »dunklen« Mittelalter verbunden zu sein. Dabei ist es intellektuell doch eigentlich klar, dass EinwĂ€nde nicht gegen die schwĂ€chste, sondern die stĂ€rkste Stelle der Gegenpartei vorzubringen sind. In einem solchen von falscher Parteilichkeit freien Prinzip der Milde oder Nachsicht geht es um ein wohlwollendes VerstĂ€ndnis des Anderen und ein Maßhalten in der Auseinandersetzung mit fremden Positionen.11 Nach diesem Prinzip ist zunĂ€chst anzunehmen, dass andere Menschen keine unsinnigen und offensichtlich falschen Positionen vertreten. Dementsprechend ist ihren Argumenten RationalitĂ€t, VerstĂ€ndlichkeit, Relevanz und Überzeugungskraft zuzuschreiben, damit das BemĂŒhen um VerstĂ€ndnis nicht zu schnell abgebrochen wird. Abgelehnte Meinungen und welterschließende Perspektiven dĂŒrfen bei der Wahrheitssuche nicht nur als Karikatur vorkommen. Dies gilt nicht nur beim Aufeinanderprallen von Religionen und politischen Auffassungen, sondern auch zwischen Wissenskulturen, wenn Mediziner um die richtige ErklĂ€rung des MagengeschwĂŒrs ringen und Psychologen verhaltensbasiert oder neurobiologisch forschen. Gerade wahrheitsverpflichtete Wissenschaftler mĂŒssen daran interessiert sein, Toleranz im Kopf hinzubekommen, um das Wahre im Abgelehnten nicht zu ĂŒbersehen. Alles andere – so ganz dezidiert die zu erprobende Behauptung – wird zum Missbrauch von Macht.
Wie sieht es jedoch trotz des hehren Anspruches eines Prinzips der Nachsicht und von Webers PlÀdoyer zur Anerkennung des Unbequemen in meinem heutigen Berufsfeld der Wissenschaft im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen aus? Wenn ich mich umschaue, sehe ich ausgerechnet im vermeintlichen Kerngebiet der Wahrheitssuche Spuren der Verderbtheit: Plagiate, FÀlschungen von Laborergebnissen und besonders verbreitet die Neigung, die eigene Denkschule in den Mittelpunkt der Welt zu setzen und sich am liebsten mit den Gedanken der Leute vom eigenen Schlag zu beschÀftigen. Wirkliche UnabhÀngigkeit und selbstÀndige Urteilskraft sind selten. Dies ist fatal, weil durch das Ignorieren von Gegenargumenten und abweichenden Perspektiven die Wahrheit korrumpiert wird.
Heiligt der Zweck die Mittel? Im Streit zwischen Jean-Paul Sartre und Albert Camus wird diese schon seit Machiavellis Zeiten zentrale und von Abraham Lincoln bereits bejahte Frage ganz gegensĂ€tzlich beantwortet und zugleich indirekt nach der Korruptheit von Philosophen gefragt. Nach anfĂ€nglicher, wenn auch distanzierter Freundschaft findet der eigentliche Bruch zwischen den beiden statt, als die zwischen beiden Philosophen völlig unterschiedliche Auffassung zum Stalinismus anlĂ€sslich der Publikation von Camus’ »Der Mensch in der Revolte« zu Tage tritt.12 Das Buch erscheint 1951 und wird in Sartres Zeitschrift »Les Temps Modernes« kritisch rezensiert. Camus glaubt, dass diese Besprechung von Sartre selbst veranlasst ist, und antwortet mit grundsĂ€tzlicher Kritik an der Ausrichtung der ganzen Zeitschrift, die nur Konzentrationslager der Rechten anprangere und die russischen Lager totschweige. In seiner Antwort, die sich indirekt ganz auf die Seite von Lincoln stellt, wirft Sartre seinem frĂŒheren Freund und jetzigen Gegner einen unhistorischen Moralismus vor und empfiehlt ihm, sich doch auf die Galapagos-Inseln zurĂŒckzuziehen, von wo er ja die Versklavung der Menschheit neutral beobachten könne. Im Kern streiten sich die beiden um die Frage, ob ein vermeintlich oder tatsĂ€chlich hehres Ziel wie der Sozialismus Gewalt rechtfertigt. Sartre hat ein instrumentelles VerhĂ€ltnis zu dieser Frage und Camus ein moralisches. In dieser Alternative wird die Zuordnung von Lincoln unĂŒbersichtlich, da dieser nicht grundsĂ€tzlich die Meinung vertritt, der Zweck heilige die Mittel, sondern dies nur fĂŒr den ausweglosen Einzelfall nach pragmatischen AbwĂ€gungen aus moralischen GrĂŒnden befĂŒrwortet.
Die Camus-Sartre-Kontroverse ist eine Debatte nicht ĂŒber Notlagen des Politischen, sondern ĂŒber intellektuelle Korruption und die Frage, wie lange man gerade in der Philosophie angesichts der Übel der eigenen Partei schweigen darf. Sartre verteidigt eine Art SolidaritĂ€t gegenĂŒber den eigenen Leuten, wĂ€hrend Camus fĂŒr Unvoreingenommenheit und, letztlich wie Montaigne in seinem Turm, fĂŒr skeptische Distanz plĂ€diert. Wenn die sogenannten eigenen Leute bei einem gemeinsamen Ziel Verbrechen begehen, dann sind sie fĂŒr Camus anschließend nicht mehr die eigenen Leute, sondern Verbrecher, die sich in nichts von denen der anderen Seite unterscheiden. Wer dies in Wort und Tat vertuscht, missbraucht Macht zum Zweck der eigenen Partei und ist daher als korrupt zu bezeichnen. Wenn man die abfĂ€llige Bemerkung von Sartre durchdenkt, kann man das Motiv eines Turmblicks von den Galapagos-Inseln zwar nicht im Ernst als Auswanderungsempfehlung verstehen, aber doch zur Korruptionskritik nutzen. Die eigenen Involviertheiten verlassen und Verstricktheiten von außen betrachten, kann auf dem Weg zur Unbestechlichkeit helfen. In den »Schmutzigen HĂ€nden« von Sartre gibt es eine Stelle, die von Camus sein könnte und die ganz existenzphilosophisch die Rolle des Mitmenschen als Opfer hervorhebt: »Mir sind Leute lieb, die Angst vor dem Tod der anderen haben: Das zeigt, dass sie zu leben verstehen.«13 Camus hat diese ursprĂŒnglich gemeinsam geteilte Sichtweise in den fĂŒnfziger Jahren beibehalten – eine aufrechte Haltung, die ihn, den Nicht-Korrupten, zunehmend isoliert hat. Bernard-Henri LĂ©vy bringt in der Deutung der Kontroverse seine persönliche und politische Sympathie zum Ausdruck: »Sartre oder Camus? NatĂŒrlich Camus. Seine GroßzĂŒgigkeit. Seine WĂŒrde. Diese Art, sich an der scharf schießenden sektiererischen Linken zu rĂ€chen, indem er, wie er sagte, â€șwĂŒtend glĂŒcklichâ€č war.«14 In seinem politischen und moralischen Urteil ist Camus der VerlĂ€ssliche, wĂ€hrend Sartre beschwipst von seinem Engagement auf dem Holzweg umherirrt. UnabhĂ€ngigkeit ist bei Camus das GĂŒtezeichen der Philosophie, wĂ€hrend sich Sartre nach seiner eigenen Auffassung zwar engagiert, tatsĂ€chlich aber das Philosophische dabei aufgibt und sich von außerphilosophischen Zwecken instrumentalisieren lĂ€sst.
Als Infragestellung von SelbstverstĂ€ndlichkeiten ist Philosophie auf den Spuren von Montaigne und Camus ein Denken ohne festen Wohnsitz, wĂ€hrend intellektuelle Sesshaftigkeit Korruption zu begĂŒnstigen scheint. In diesem Sinne dĂŒrfte noch nicht einmal der Turm auf den Galapagos-Inseln zu einem festen Domizil werden, sondern lediglich zwischendurch die distanzierte Sicht begĂŒnstigen. Wenn Philosophie wichtige Erfahrungen des menschlichen Lebens begreifen will, zielt sie nicht auf eine Sonderwelt neben dem Leben, sondern durchdenkt alltĂ€gliche Erfahrungen, um diese, wenn sinnvoll, verĂ€ndern zu können. Da Korruption mehr oder weniger zu den menschlichen Erfahrungen gehört, verdient auch sie die ihr zustehende philosophische Aufmerksamkeit. Die Philosophie muss versuchen, selbst unabhĂ€ngig und nicht korrupt zu sein, um auch die eigene Perspektive nicht zum Selbstzweck zu machen, sondern in stĂ€ndigen Selbstinfragestellungen ĂŒber die alltĂ€gliche Welt nachzudenken. Der Zweck einer besseren Welt rechtfertigt dabei nicht das Mittel der korrupten Parteilichkeit, die die UnabhĂ€ngigkeit des Nachdenkens unterminiert.

2

Gibt es legitime Korruption?

Von einem russischen Benzinkönig, braunen UmschlĂ€gen in Japan und der sĂŒditalienischen Liebe zur Familie

Wladimir Makanin beschreibt in seinem 2008 erschienenen Roman »Benzinkönig« einen russischen Offizier im Tschetschenien-Krieg, der als Verantwortlicher fĂŒr Lagerhaltung den kostbaren und knappen Treibstoff an beide Seiten verkauft. Ein Inbegriff höchster Korruption! Aber der Roman, der voller DĂŒsternis und bedrĂŒckender Schilderungen der Gefahren des Getötet-Werdens ist, relativiert diese Wertung und stellt sie in den Kontext der Aussichtslosigkeit und des Zynismus, die die Akteure gerade auf der russischen Seite angesichts verlustreicher Hinterhalte prĂ€gen. Major Schilin, die Hauptperson, versucht sich von Exzessen fernzuhalten und wird als ein maßvoller Mensch stilisiert, der es anstrebt, sich auch im Krieg human zu verhalten. Dabei wird behauptet, dass Korruption nicht mit Chaos gleichzusetzen sei: »Korruption bedeutet bereits ein gewisses Niveau, ist schon eine gewisse Kultur.«15 Wie kann das sein? Korruption im Krieg folgt nicht nur fĂŒr Major Schilin verlĂ€sslichen Regeln und ist so Ausdruck einer eigenen Kultur, die den Handelnden jedenfalls in einem gewissen Rahmen VerlĂ€sslichkeit bietet. Korruption als Ordnungsfaktor – diese Deutung ist gewöhnungsbedĂŒrftig. Im regellosen Chaos des Krieges entwickelt Bestechlichkeit eine eigene Form der VertrauenswĂŒrdigkeit, die auf der Basis von Eigeninteresse Verhalten abschĂ€tzbar werden lĂ€sst. Der Korrupte i...

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Hastedt, H. (2020). Macht der Korruption (1st ed.). Felix Meiner Verlag. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1779337/macht-der-korruption-eine-philosophische-spurensuche-pdf (Original work published 2020)

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Hastedt, Heiner. (2020) 2020. Macht Der Korruption. 1st ed. Felix Meiner Verlag. https://www.perlego.com/book/1779337/macht-der-korruption-eine-philosophische-spurensuche-pdf.

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Hastedt, H. (2020) Macht der Korruption. 1st edn. Felix Meiner Verlag. Available at: https://www.perlego.com/book/1779337/macht-der-korruption-eine-philosophische-spurensuche-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

Hastedt, Heiner. Macht Der Korruption. 1st ed. Felix Meiner Verlag, 2020. Web. 15 Oct. 2022.