Macht der Korruption
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Macht der Korruption

Eine philosophische Spurensuche

  1. 143 Seiten
  2. German
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Macht der Korruption

Eine philosophische Spurensuche

Über dieses Buch

Korruption ist ein faszinierendes Thema, das sich für Kriminalgeschichten eignet und den Blick in den furchterregenden Abgrund von Gesellschaften richtet. Gleichwohl betreibt dieses Buch keinen Enthüllungsjournalismus, sondern reflektiert mit philosophischen Mitteln über eine weithin bekannte und uns alle betreffende gesellschaftliche Realität. Die öffentliche Debatte wird von der Skandalisierung bekanntwerdender Einzelfälle dominiert – aber die abstrakte moralische Verurteilung, die meist auf dem Fuße folgt, steht einer erfolgreichen gesellschaftlichen Eindämmung eher im Wege. Gedanklich folgt das Buch einem Dreischritt: Nach einer moralisch begründeten, relativen Ausweitung der Korruptionsmaßstäbe folgen eine Reihe von Einzelstudien, die mit interkulturellen und historischen Belegen zu mildernden Umständen der Anklage führen. Die anschließende Vermittlung zwischen Moralität und Faktizität fragt nach den Voraussetzungen für die Überwindung der Hürden zur Unbestechlichkeit, bis hin zur Utopie einer Welt ohne Korruption.

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Selbstverständigung mit einer Gedankenreise auf die Galapagos-Inseln

Bestechlichkeit ist nur eine Frage des Preises«, sagt eine alte Weisheit. In der Erwägung der These, dass wir letztlich alle korrupt sind, liegt eine Provokation, die zu einer Gedankenreise einlädt, bei der zu Beginn noch offenbleibt, wo wir landen werden und wie die Antwort lautet. Geschwind in eigener Sache mit durchaus banalen Beobachtungen angefangen: Im Alltag benutze ich meinen Professoren- und Doktortitel nicht, mir käme das angeberisch vor. Schließlich sind wir alle gleichermaßen Menschen und das Bestehen auf Distinktion ist arrogant. Doch wenn ich mich beim Facharzt erstmals anmelde, achte ich sorgfältig darauf, dass beide Titel in den Praxisunterlagen erscheinen. Was verspreche ich mir davon? Im Zweifelsfall doch wohl eine aufmerksamere Behandlung. Ist das korrupt? Oder müsste, um diese Charakterisierung zu rechtfertigen, zusätzlich Geld fließen? Wie damals, als ich zu Zeiten des Sozialismus in Budapest nur mit einem Geldschein, vorab still auf den Anmeldetresen gelegt, ein freies Hotelzimmer ergattern konnte.
Bei sich selbst loslegen im Nachdenken über Korruption heißt möglicherweise auf Verfehlungen zu stoßen, aber auch selbst bewertend Stellung zu nehmen zur beobachteten und erlebten Bestechlichkeit in der Welt. Dabei mag Philosophie, als Einübung in Nachdenklichkeit6, helfen; sie stellt jedoch zugleich für die Frage nach Korruptheit einen ersten zu betrachtenden Gegenstand dar. Wenn nämlich Gedanken genauso wie Menschen und deren Taten korrupt sein können, dann auch die Disziplin, die mich prägt.
Für mich selbst gilt, dass mich schon etwas auf die Palme bringen kann, was andere noch als normale, nicht zu beanstandende Netzwerkerei und Beziehungspflege ansehen. Diese Selbstdiagnose führt zur selbstkritischen Frage: Bin ich ein verbohrter Moralist, der vor lauter Individualismus die üblichen Gepflogenheiten zwischen Menschen geringschätzt und dem das rechte Maß im Hinblick auf die Irrungen und Wirrungen des Lebens verlorengegangen ist? Manchmal reicht mir schon der auf Macht zielende Versuch, die Welt in Parteigänger und Andere einzuteilen, um einen Missbrauch des Denkens zum privaten Nutzen festzustellen. So geeicht, sehe ich den gleichen Typ von korrupter Parteilichkeit auch gegenwärtig noch fast immer als allgegenwärtig an. Gemäß dieser weitgehenden Einschätzung ist es aber schon korrupt, vorgegebene Richtigkeiten und jede Art von Selbstverständlichkeiten zu akzeptieren, falls sie vor allem den eigenen Interessen dienen, weil damit die Wahrheit in ihrer Dimension der Berücksichtigung aller Menschen ignoriert wird. Verwechsle ich mit dieser rigorosen Ausrichtung aber nicht beispielsweise Politik, in der es um die robuste Realisierung des als richtig Erkannten geht, mit einer unpolitischen, passiv bleibenden Weltbetrachtung? Wird also von mir ein moralisierender Zugriff mit der Tendenz zur schöngeistigen Selbstbespiegelung oder – schlimmer noch – der folgenlosen allgemeinen Weltanklage gepflegt, der das Wesen der Politik in der Formulierung des Soziologen Max Weber als Kampf um Macht zur Durchsetzung von Zielen verfehlt?7
Zur Versachlichung dieser selbstkritischen Frage hilft ein Blick auf Aristoteles. Dieser hatte eine Lehre der Mitte und des Maßes formuliert, die empfiehlt, das Richtige beispielsweise bei der Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit zu suchen. Demnach beraubt sich der Urteilende der umfassenden Einsichten der Flügel, wenn er oder sie sich nur auf die eine Seite des zu Beurteilenden fixiert. In seiner politischen Philosophie rechnet Aristoteles in seiner Formenlehre, in der Monarchie, Aristokratie und Demokratie potentiell als legitime Formen des Politischen angesehen werden, ständig mit der Verderbtheit – und nichts anderes ist Korruption in der Antike – aller drei Formen. Es geht ihm also weniger um die Frage, ob die Monarchie oder die Aristokratie oder die Demokratie immer als richtige Form anzusehen sind, sondern um die Fähigkeit zu beurteilen, wann das potentiell Richtige in die Verderbtheit abrutscht. Vor ihr kann man nicht ein für alle Mal sicher sein, sondern sie droht quasi immer. So stellt sich die Aufgabe, dem Korrupten immer neu zu entkommen, weil die Gefahr nie völlig gebannt ist.
Ist hingegen eine überängstliche Korruptionsvermeidung nicht geeignet, das Wesen des Politischen zu verfehlen? Und die hier erforderliche Fähigkeit zur List zu übersehen? Niccolò Machiavelli stellt als Philosoph des frühen 16. Jahrhunderts nicht die tiefschürfende Erkundung des eigenen Selbst in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern die Empfehlungen an den Fürsten, taktisch-strategische Überlegungen geschickt und die List nutzend zu realisieren. Die Beachtung der Moral ist für das politische Personal kein positives Auswahlkriterium. Daher ist Korruption wohl für Machiavelli selbst, aber auf jeden Fall für Machiavellisten legitim, wenn sie wie bei Lincoln die Ziele des Politischen zu erreichen hilft. In einem Handbuch »Machiavelli für Demokraten« wären machtorientierte, vielleicht sogar korrupte Politiker nicht grundsätzlich zu kritisieren, sondern lediglich ihr Unvermögen, Skeptiker erfolgreich und unter Einsetzung taktisch versierter Mittel überzeugt zu haben. Der Zweck der Zielerealisierung und auf dem Weg dazu auch der Machterringung heiligt für den kompetenten Politiker nicht nur bei Machiavelli viele auch ethisch problematische Mittel, solange die Ziele akzeptabel sind und der persönliche Machterhalt nicht das einzige Ziel ist. Die »Kunst der List« – seit vielen Jahrhunderten in China gepflegt – gehört für den Machiavellisten ebenso im neuzeitlichen Europa ins Repertoire der Politik. »Im Osten lärmen, im Westen angreifen«, »Aus einem Nichts etwas erzeugen« und »Hinter einem Lächeln den Dolch verbergen« mögen als Listen bis heute zur Schule des Umgangs nicht nur mit Parteifreunden gehören.8
Michel de Montaigne ist anders als der ältere Machiavelli im 16. Jahrhundert der Inbegriff des skeptischen Philosophen, der sich in der Beschäftigung mit sich selbst zugleich mit der Welt auseinandersetzt und in seinem Urteil in Distanz zu den üblichen Meinungen bleibt. Mit Blick auf die zeitgenössischen Religionskriege, in denen sich selbst Nachbarn abschlachten, wehrt er sich vehement dagegen, dass wir die eigenen Fehler nicht mit gleicher Schärfe angehen wie die der Anderen. Mit diesem Gedanken wird Montaigne zum idealen Gewährsmann für die Fahndung nach der Korruptheit von Menschen und deren Einstellungen.9 Ihm geht es darum, nicht blindlings vorherrschenden Meinungen und dem Brauch des Landes zu folgen, sondern ganz unabhängig dem offenen, nachdenklichen Urteil. Er kultiviert eine erprobende Form des Philosophierens, die das Ich als Erfahrungsquelle konsequent zum Nachdenken über sich und über vieles in der Welt nutzt. Für eine kurze Zeit Bürgermeister von Bordeaux, zieht er sich, nicht untypisch für einen französischen Landadeligen seiner Zeit, zurück und betrachtet sich und die Welt aus dem Turm seines Anwesens, in dem er sich frei macht von allen Abhängigkeiten und seine Einsamkeitsfähigkeit kultiviert. Dabei entwickelt er ein Muster der Nachdenklichkeit, das in seiner Intensität und Beweglichkeit für die Unabhängigkeit des Urteilens vorbildlich ist.
Eine solche Unabhängigkeit ist sicher ein hoher Wert, für den die Philosophie, vielleicht überhaupt die Wissenschaft, aber auch das öffentliche Wirken von Intellektuellen stehen. Wahrheit und nicht Kampf um Macht als Selbstzweck bildet hier die Orientierung. Sind Menschen, die wie ich schnell zu dem Urteil, dass Korruption vorliegt, kommen, also für die Politik nicht geeignet und sollten tatsächlich – wie bei mir der Fall – lieber in die vermeintlich oder tatsächlich weniger anfällige Wissenschaft gehen? Eine Erinnerung an Max Weber, der als Gelehrter Großes geleistet hat, aber in der Politik trotz einiger Versuche nie richtig Fuß fassen konnte, legt solches nahe. Weber betont die Leidenschaft in der Wissenschaft und die Fähigkeit, unbequeme Wahrheiten anzuerkennen: »Wenn jemand ein brauchbarer Lehrer ist, dann ist es seine erste Aufgabe, seine Schüler unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren, solche, meine ich, die für seine Parteimeinung unbequem sind; und es gibt für jede Parteimeinung – z. B. auch für die meinige – solche äußerst unbequemen Tatsachen.«10
Während es in der mittelalterlichen Disputation zum Arrangement gehört, dass zunächst vor der eigenen Stellungnahme die These des Kontrahenten angemessen wiedergegeben werden muss, ist es in der politischen Auseinandersetzung, und zwar im Parlament ebenso wie in der Talk-Show – ganz zu schweigen von der digitalen Welt der Netze heute –, oft grotesk, auf welch niedrigem Niveau die Wiedergabe der Sichtweise der gegnerischen Partei erfolgt. Die Fortschritte der Gegenwart scheinen diesbezüglich mit Rückschritten gegenüber dem vermeintlich so »dunklen« Mittelalter verbunden zu sein. Dabei ist es intellektuell doch eigentlich klar, dass Einwände nicht gegen die schwächste, sondern die stärkste Stelle der Gegenpartei vorzubringen sind. In einem solchen von falscher Parteilichkeit freien Prinzip der Milde oder Nachsicht geht es um ein wohlwollendes Verständnis des Anderen und ein Maßhalten in der Auseinandersetzung mit fremden Positionen.11 Nach diesem Prinzip ist zunächst anzunehmen, dass andere Menschen keine unsinnigen und offensichtlich falschen Positionen vertreten. Dementsprechend ist ihren Argumenten Rationalität, Verständlichkeit, Relevanz und Überzeugungskraft zuzuschreiben, damit das Bemühen um Verständnis nicht zu schnell abgebrochen wird. Abgelehnte Meinungen und welterschließende Perspektiven dürfen bei der Wahrheitssuche nicht nur als Karikatur vorkommen. Dies gilt nicht nur beim Aufeinanderprallen von Religionen und politischen Auffassungen, sondern auch zwischen Wissenskulturen, wenn Mediziner um die richtige Erklärung des Magengeschwürs ringen und Psychologen verhaltensbasiert oder neurobiologisch forschen. Gerade wahrheitsverpflichtete Wissenschaftler müssen daran interessiert sein, Toleranz im Kopf hinzubekommen, um das Wahre im Abgelehnten nicht zu übersehen. Alles andere – so ganz dezidiert die zu erprobende Behauptung – wird zum Missbrauch von Macht.
Wie sieht es jedoch trotz des hehren Anspruches eines Prinzips der Nachsicht und von Webers Plädoyer zur Anerkennung des Unbequemen in meinem heutigen Berufsfeld der Wissenschaft im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen aus? Wenn ich mich umschaue, sehe ich ausgerechnet im vermeintlichen Kerngebiet der Wahrheitssuche Spuren der Verderbtheit: Plagiate, Fälschungen von Laborergebnissen und besonders verbreitet die Neigung, die eigene Denkschule in den Mittelpunkt der Welt zu setzen und sich am liebsten mit den Gedanken der Leute vom eigenen Schlag zu beschäftigen. Wirkliche Unabhängigkeit und selbständige Urteilskraft sind selten. Dies ist fatal, weil durch das Ignorieren von Gegenargumenten und abweichenden Perspektiven die Wahrheit korrumpiert wird.
Heiligt der Zweck die Mittel? Im Streit zwischen Jean-Paul Sartre und Albert Camus wird diese schon seit Machiavellis Zeiten zentrale und von Abraham Lincoln bereits bejahte Frage ganz gegensätzlich beantwortet und zugleich indirekt nach der Korruptheit von Philosophen gefragt. Nach anfänglicher, wenn auch distanzierter Freundschaft findet der eigentliche Bruch zwischen den beiden statt, als die zwischen beiden Philosophen völlig unterschiedliche Auffassung zum Stalinismus anlässlich der Publikation von Camus’ »Der Mensch in der Revolte« zu Tage tritt.12 Das Buch erscheint 1951 und wird in Sartres Zeitschrift »Les Temps Modernes« kritisch rezensiert. Camus glaubt, dass diese Besprechung von Sartre selbst veranlasst ist, und antwortet mit grundsätzlicher Kritik an der Ausrichtung der ganzen Zeitschrift, die nur Konzentrationslager der Rechten anprangere und die russischen Lager totschweige. In seiner Antwort, die sich indirekt ganz auf die Seite von Lincoln stellt, wirft Sartre seinem früheren Freund und jetzigen Gegner einen unhistorischen Moralismus vor und empfiehlt ihm, sich doch auf die Galapagos-Inseln zurückzuziehen, von wo er ja die Versklavung der Menschheit neutral beobachten könne. Im Kern streiten sich die beiden um die Frage, ob ein vermeintlich oder tatsächlich hehres Ziel wie der Sozialismus Gewalt rechtfertigt. Sartre hat ein instrumentelles Verhältnis zu dieser Frage und Camus ein moralisches. In dieser Alternative wird die Zuordnung von Lincoln unübersichtlich, da dieser nicht grundsätzlich die Meinung vertritt, der Zweck heilige die Mittel, sondern dies nur für den ausweglosen Einzelfall nach pragmatischen Abwägungen aus moralischen Gründen befürwortet.
Die Camus-Sartre-Kontroverse ist eine Debatte nicht über Notlagen des Politischen, sondern über intellektuelle Korruption und die Frage, wie lange man gerade in der Philosophie angesichts der Übel der eigenen Partei schweigen darf. Sartre verteidigt eine Art Solidarität gegenüber den eigenen Leuten, während Camus für Unvoreingenommenheit und, letztlich wie Montaigne in seinem Turm, für skeptische Distanz plädiert. Wenn die sogenannten eigenen Leute bei einem gemeinsamen Ziel Verbrechen begehen, dann sind sie für Camus anschließend nicht mehr die eigenen Leute, sondern Verbrecher, die sich in nichts von denen der anderen Seite unterscheiden. Wer dies in Wort und Tat vertuscht, missbraucht Macht zum Zweck der eigenen Partei und ist daher als korrupt zu bezeichnen. Wenn man die abfällige Bemerkung von Sartre durchdenkt, kann man das Motiv eines Turmblicks von den Galapagos-Inseln zwar nicht im Ernst als Auswanderungsempfehlung verstehen, aber doch zur Korruptionskritik nutzen. Die eigenen Involviertheiten verlassen und Verstricktheiten von außen betrachten, kann auf dem Weg zur Unbestechlichkeit helfen. In den »Schmutzigen Händen« von Sartre gibt es eine Stelle, die von Camus sein könnte und die ganz existenzphilosophisch die Rolle des Mitmenschen als Opfer hervorhebt: »Mir sind Leute lieb, die Angst vor dem Tod der anderen haben: Das zeigt, dass sie zu leben verstehen.«13 Camus hat diese ursprünglich gemeinsam geteilte Sichtweise in den fünfziger Jahren beibehalten – eine aufrechte Haltung, die ihn, den Nicht-Korrupten, zunehmend isoliert hat. Bernard-Henri Lévy bringt in der Deutung der Kontroverse seine persönliche und politische Sympathie zum Ausdruck: »Sartre oder Camus? Natürlich Camus. Seine Großzügigkeit. Seine Würde. Diese Art, sich an der scharf schießenden sektiererischen Linken zu rächen, indem er, wie er sagte, ›wütend glücklich‹ war.«14 In seinem politischen und moralischen Urteil ist Camus der Verlässliche, während Sartre beschwipst von seinem Engagement auf dem Holzweg umherirrt. Unabhängigkeit ist bei Camus das Gütezeichen der Philosophie, während sich Sartre nach seiner eigenen Auffassung zwar engagiert, tatsächlich aber das Philosophische dabei aufgibt und sich von außerphilosophischen Zwecken instrumentalisieren lässt.
Als Infragestellung von Selbstverständlichkeiten ist Philosophie auf den Spuren von Montaigne und Camus ein Denken ohne festen Wohnsitz, während intellektuelle Sesshaftigkeit Korruption zu begünstigen scheint. In diesem Sinne dürfte noch nicht einmal der Turm auf den Galapagos-Inseln zu einem festen Domizil werden, sondern lediglich zwischendurch die distanzierte Sicht begünstigen. Wenn Philosophie wichtige Erfahrungen des menschlichen Lebens begreifen will, zielt sie nicht auf eine Sonderwelt neben dem Leben, sondern durchdenkt alltägliche Erfahrungen, um diese, wenn sinnvoll, verändern zu können. Da Korruption mehr oder weniger zu den menschlichen Erfahrungen gehört, verdient auch sie die ihr zustehende philosophische Aufmerksamkeit. Die Philosophie muss versuchen, selbst unabhängig und nicht korrupt zu sein, um auch die eigene Perspektive nicht zum Selbstzweck zu machen, sondern in ständigen Selbstinfragestellungen über die alltägliche Welt nachzudenken. Der Zweck einer besseren Welt rechtfertigt dabei nicht das Mittel der korrupten Parteilichkeit, die die Unabhängigkeit des Nachdenkens unterminiert.

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Gibt es legitime Korruption?

Von einem russischen Benzinkönig, braunen Umschlägen in Japan und der süditalienischen Liebe zur Familie

Wladimir Makanin beschreibt in seinem 2008 erschienenen Roman »Benzinkönig« einen russischen Offizier im Tschetschenien-Krieg, der als Verantwortlicher für Lagerhaltung den kostbaren und knappen Treibstoff an beide Seiten verkauft. Ein Inbegriff höchster Korruption! Aber der Roman, der voller Düsternis und bedrückender Schilderungen der Gefahren des Getötet-Werdens ist, relativiert diese Wertung und stellt sie in den Kontext der Aussichtslosigkeit und des Zynismus, die die Akteure gerade auf der russischen Seite angesichts verlustreicher Hinterhalte prägen. Major Schilin, die Hauptperson, versucht sich von Exzessen fernzuhalten und wird als ein maßvoller Mensch stilisiert, der es anstrebt, sich auch im Krieg human zu verhalten. Dabei wird behauptet, dass Korruption nicht mit Chaos gleichzusetzen sei: »Korruption bedeutet bereits ein gewisses Niveau, ist schon eine gewisse Kultur.«15 Wie kann das sein? Korruption im Krieg folgt nicht nur für Major Schilin verlässlichen Regeln und ist so Ausdruck einer eigenen Kultur, die den Handelnden jedenfalls in einem gewissen Rahmen Verlässlichkeit bietet. Korruption als Ordnungsfaktor – diese Deutung ist gewöhnungsbedürftig. Im regellosen Chaos des Krieges entwickelt Bestechlichkeit eine eigene Form der Vertrauenswürdigkeit, die auf der Basis von Eigeninteresse Verhalten abschätzbar werden lässt. Der Korrupte i...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung War Abraham Lincoln korrupt?
  6. 1 Selbstverständigung mit einer Gedankenreise auf die Galapagos-Inseln
  7. 2 Gibt es legitime Korruption? Von einem russischen Benzinkönig, braunen Umschlägen in Japan und der süditalienischen Liebe zur Familie
  8. 3 »Missbrauch von Macht zum privaten Nutzen«: Begutachtung einer Definition
  9. 4 Neue Horizonte: Korrupt sind im Kumpel-Kapitalismus nicht nur die Anderen
  10. 5 Weniger gut und vernünftig als unterstellt: Der Mensch neigt zum Machtmissbrauch
  11. 6 Frei oder nicht frei: Der „Eichmann in uns“
  12. 7 Das Grauzonenproblem und die Kritik der abstrakten Moralität
  13. 8 Kölscher Klüngel, bayerische Verirrungen und die »Schweiz Afrikas«: Über Macht und Ohnmacht des Rechtsstaats
  14. 9 Inwiefern der korrupte Mensch unter den eigenen sittlichen Möglichkeiten bleibt
  15. 10 Kein Ort, nirgends – ganz irdisch: Utopien einer Welt ohne Korruption
  16. Anmerkungen
  17. Literaturverzeichnis
  18. Personenregister