Das Glück der Familie Rougon
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Das Glück der Familie Rougon

Emile Zola

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Das Glück der Familie Rougon

Emile Zola

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Menschliche Schicksale und historische Ereignisse, so kunstvoll wie in keinem anderen Werk des großen Naturalisten ist hier beides miteinander verwoben. Ein französisches Provinzstädtchen wird zum Brennspiegel, in dem sich die Geschicke der Nation an einem Wendepunkt ihrer Geschichte bündeln.

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Information

Year
2017
ISBN
9783961891122
Subtopic
Clásicos

Kapitel 1

Wenn man Plassans durch das Römertor verläßt, das auf der Südseite der Stadt liegt, findet man rechts von der Straße nach Nizza hinter den ersten Häusern der Vorstadt ein wüstes Stück Land, das in der Gegend unter dem Namen »der Saint-Mittre-Grund« bekannt ist.
Der Saint-Mittre-Grund ist ein längliches Viereck in ziemlicher Ausdehnung, das sich in gleicher Höhe mit dem Fußsteig der Straße hinzieht, von der er nur durch einen Streifen dürren Rasens getrennt ist. Auf einer Seite des Grundstückes, rechts, zieht sich ein Sackgäßchen hin mit einer Reihe von Hütten. Links und im Hintergrunde ist das Gebiet durch zwei von Moos zerfressene Mauern abgeschlossen, über die hinweg man die Maulbeerbäume des Jas-Meiffren erblickt, eines größeren Besitztumes, zu dem der Eingang weiter unten in der Vorstadt zu finden ist. So von drei Seiten eingeschlossen, ist der »Saint-Mittre-Grund« eigentlich ein großer Platz, der nirgends hinführt und daher nur von Spaziergängern aufgesucht wird.
Einst war hier ein Kirchhof, der unter dem Schutze des Saint-Mittre stand, eines provençalischen Heiligen, der in dieser Gegend sehr verehrt wurde. Die älteren Leute erinnerten sich im Jahre 1851 noch, die Mauern dieses Kirchhofes, der Jahre hindurch geschlossen geblieben, gesehen zu haben. Der Boden, den man seit mehr denn einem Jahrhundert mit Leichen vollstopfte, atmete den Tod aus, und man war genötigt, am anderen Ende der Stadt einen neuen Gottesacker zu eröffnen. Nachdem er aufgelassen worden, schwand der ehemalige Friedhof mit jedem jungen Jahre mehr und bedeckte sich mit einem üppigen Pflanzenwuchs. Dieser fette Boden, in den die Totengräber keinen Spatenstich mehr tun konnten, ohne Menschenknochen aufzuwerfen, war von einer ungeheuren Fruchtbarkeit. Nach den Mairegen und den sonnigen Tagen des Juni sah man von der Straße aus die Spitzen der Gräser über die Mauern hinausragen; im Innern war ein Meer von tiefem, sattem Grün, da und dort blühten breite Blumen von seltsamem Farbenglanze. Im Schatten der eng zusammenstehenden Stengel roch man das feuchte Erdreich, das von gärenden Säften strotzte.
Eine Merkwürdigkeit dieses Grundstückes waren zu jener Zeit die Birnbäume mit den verkrümmten Zweigen und unförmigen Knoten, nach deren riesigen Früchten keine Hausfrau von Plassans Verlangen trug. Man sprach in der Stadt von diesen Birnen nur mit Ekel; aber die Vorstadtjungen waren nicht so heikel; sie erklommen des Abends scharenweise die Mauern, um die Birnen zu stehlen, noch ehe sie völlig reif waren.
Das blühende, reich sprießende Leben der Gräser und Bäume hatte bald den Tod des ehemaligen Kirchhofes von Saint-Mittre bewältigt. Der menschliche Moder wurde gierig von den Blumen und Früchten aufgesogen, und kam man an diesem Orte vorbei, so spürte man nur mehr den scharfen Duft der wilden Nelken. Wenige Sommer hatten dies zustandegebracht.
Um jene Zeit kam die Stadt auf den Gedanken, von diesem bisher brach gelegenen Gemeindebesitz Nutzen zu ziehen. Man riß die längs der Straße und des Sackgäßchens stehenden Mauern nieder und beseitigte Gräser und Birnbäume; dann verlegte man den Kirchhof. Der Boden ward bis zu einer Tiefe von mehreren Metern aufgegraben, und man warf in einem Winkel die Gebeine zuhauf, die sich in der Erde vorfanden. Die Jungen, die über den Verlust der Birnbäume untröstlich waren, spielten fast einen Monat Ball mit den Schädeln; es fanden sich Leute, die sich den schlechten Spaß machten, nächtlicherweile Schenkel- und Schienbeine an die Türglocken der Stadt zu hängen. Dieses Ärgernis, das in Plassans heute noch unvergessen ist, hörte nicht eher auf, als bis man sich entschloß, die Gebeine in einer Grube auf dem neuen Kirchhofe zu verscharren. Allein, in der Provinz werden die Arbeiten mit bedächtiger Langsamkeit ausgeführt, und die Bewohner des Ortes sahen eine Woche hindurch von Zeit zu Zeit einen einzigen Leichenkarren mit menschlichen Resten dahinziehen, als ob er Kalk führte. Das Schlimmste dabei war, daß dieser Karren Plassans in seiner ganzen Länge passieren mußte und daß er, auf dem schlechten Pflaster forthumpelnd, bei jedem Stoße Knochenstücke und Häuflein fetter Erde als Spur zurückließ. Keinerlei kirchliche Zeremonie, nur eine langsame, rohe Abfuhr. Niemals fand in einer Stadt ein so widerliches Schauspiel statt.
Mehrere Jahre hindurch blieb der ehemalige Kirchhof von Saint-Mittre ein Gegenstand des Schreckens. Am Rande einer großen Straße für alle Welt offen daliegend, blieb der Ort öde und verlassen, abermals eine Beute wilden Wachstumes. Die Stadt, die ohne Zweifel das Grundstück veräußern wollte, damit es mit Häusern bebaut werde, fand keinen Käufer; vielleicht war es die Erinnerung an den Knochenhaufen und an den vereinzelt durch die Straßen ziehenden, an einen hartnäckigen, bösen Traum gemahnenden Leichenkarren, welche die Leute zurückschreckte; vielleicht auch erklärt sich die Tatsache durch die Lässigkeit der Provinz, durch jenes Widerstreben, das sie gegen alles Niederreißen und Wiederaufbauen hat. Die Stadt behielt das Grundstück, und schließlich geriet der Wunsch, es zu verkaufen, ganz in Vergessenheit. Man unterließ sogar, das Gebiet mit einem Pfahlzaun einzufrieden; jedermann konnte ungehindert ein und aus gehen. Nach und nach gewöhnte man sich im Laufe der Jahre an diesen öden Winkel; man ließ sich auf das Gras am Raine nieder; man ging wohl auch quer über das Stück Feld, kurz: der Ort belebte sich immer mehr. Als die Füße der Spaziergänger den Rasenteppich abgenützt hatten und der festgestampfte Boden grau und hart geworden war, glich der ehemalige Kirchhof einem schlecht geebneten öffentlichen Platze. Um jede peinliche Erinnerung völlig zu tilgen, gewöhnten sich die Bewohner, fast ohne es zu merken, allmählich daran, die Benennung des Gebietes zu ändern; man begnügte sich damit, bloß den Namen des Heiligen zu behalten und legte diesen auch dem Gäßchen bei; man sagte: das »Saint-Mittre-Feld« und das »Saint-Mittre-Gäßchen«.
All dies ist schon lange her. Seit mehr denn dreißig Jahren hat das Saint-Mittre-Feld sein eigenartiges Aussehen. Die Stadt, viel zu lässig und sorglos, um das Grundstück auszunützen, hat es gegen ein geringes Entgelt an die Wagner der Vorstadt verpachtet, die daselbst einen Zimmerplatz eingerichtet haben. Heute noch liegen stellenweise Haufen von riesigen Balken, zehn bis fünfzehn Meter lang, herum, gleich umgestürzten hohen Pfeilern. Diese Balkenhaufen, diese parallel hingelegten Maste, die sich fortsetzen von einem Ende des Feldes bis zum anderen, sind die ewige Freude der Jungen. Einzelne Balken sind herabgeglitten, so daß stellenweise der Boden mit einer Art Parkett, aus runden Stücken bestehend, bedeckt ist, auf dem man nur mit dem Aufgebot halsbrecherischer Balancierkünste dahinschreiten kann. Den ganzen Tag sind Scharen von Kindern da, die sich dieser Leibesübung hingeben. Man sieht sie über die großen Bohlen springen, die schmalen Kanten entlang schreiten, rittlings dahinrutschen, all die verschiedenen Spiele treiben, die gewöhnlich mit einer Keilerei, mit Geheul und Gezeter endigen; oder auch es setzen sich ihrer je ein halbes Dutzend, eng aneinander gedrängt, auf die beiden Enden eines quer über die anderen gelegten Balkens und schaukeln sich stundenlang. Das Saint-Mittre-Feld ist ein Unterhaltungsplatz geworden, auf dem die Vorstadtjungen seit einem Vierteljahrhundert die Hosen zerreißen.
Was diesem verlorenen Winkel vollends einen seltsamen Charakter verliehen hat, ist der alte Brauch der durchziehenden Zigeuner, hier ihre Zelte aufzuschlagen. Sobald eines dieser Häuser auf Rädern, das einen ganzen Stamm enthält, in Plassans eintrifft, läßt es sich im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes nieder. Der Platz ist denn auch niemals leer; es findet sich stets eine dieser Banden mit ihrem seltsamen Treiben, eine Truppe von braunen Männern und furchtbar dürren Weibern, zwischen denen ganze Scharen schmutziger Rangen sich am Boden wälzen. Dieses Volk lebt ohne Scham im Freien vor aller Welt, kocht seine Suppe, nährt sich von namenlosen Dingen, breitet seine Lumpen aus, schläft, prügelt sich, küßt sich, stinkt von Schmutz und Elend.
Das öde Leichenfeld, wo einst die Drohnen allein die dickblätterigen Blumen in der stillen, schwülen Sonnenglut umsummten, ist ein geräuschvoller Ort geworden, erfüllt von dem Gezanke der Zigeuner und dem Geschrei der jungen Vorstadt-Taugenichtse. Eine Sägerei, die in einem Winkel die Balken des Zimmerplatzes zerlegt, liefert mit ihrem Kreischen eine beständige dumpfe Begleitung zu den hellen menschlichen Stimmen. Die Sägerei ist ganz einfach; das Stück Holz wird quer auf zwei erhöhte Böcke gelegt, und zwei Brettschneider, der eine oben auf dem Balken sitzend, der andere unten, geblendet durch den herabfallenden Sägestaub erhalten eine starke und breite Säge in fortwährender auf- und absteigender Bewegung. Stundenlang neigen sich diese Männer so hin und her gleich Gliederpuppen mit der Regelmäßigkeit und Starrheit von Maschinen. Das von ihnen zu Brettern gesägte Holz ist im Hintergrunde längs der Mauer zwei bis drei Meter hoch aufgeschichtet und gleichmäßig in Kubikform gelegt. Diese Mühlsteinen ähnlichen Vierecke, die manchmal mehrere Jahre lang hier liegen bleiben, bis sie von Moos und Unkraut überwuchert werden, sind mit ein Reiz des Saint-Mittre-Feldes. Es ziehen sich zwischen ihnen verschwiegene, stille Pfade hin, die zu einem etwas breitern Wege führen, der zwischen den Holzstößen und der Mauer freigelassen blieb. Es ist dies ein verlassener Winkel, ein schmaler grüner Fleck, von welchem aus man nur schmale Streifen des Himmels sieht. Auf diesem Wege, dessen Wände mit Moos überzogen sind und dessen Boden mit einem Wollteppich belegt zu sein scheint, herrscht noch der üppige Pflanzenwuchs und die fröstelnde Stille des ehemaligen Kirchhofes. Man verspürt da den lauen, unbestimmten Hauch der Wollust des Todes, wie er aus den im Sonnenbrande glühenden alten Gräbern aufsteigt. Es gibt in der Umgebung von Plassans keinen Ort, wo man so sehr wie hier durch die Einsamkeit und Stille zur Liebe gestimmt würde. Hier ist es köstlich zu lieben. Als der Kirchhof geräumt ward, mußte man in diesem Winkel die Gebeine aufhäufen; heute noch kommt es vor, daß man, den feuchten Boden mit dem Fuße aufwühlend, Schädelstücke zutage fördert.
Übrigens denkt niemand mehr an die Toten, die einst unter diesem Rasen geschlummert. Bei Tage spielen die Kinder Verstecken zwischen diesen Holzstößen. Der grüne Weg bleibt unbekannt und unbenutzt. Man sieht nichts als den staubgrauen Zimmerplatz mit den umherliegenden Pfosten. Des Morgens und Nachmittags, wenn die Sonne ihre Glut herniedersendet, wimmelt das Feld von Menschen; und über all dem regen Treiben, über den Straßenjungen, die zwischen den Hölzern spielen, und den Zigeunern, die das Feuer unter ihren Suppenkesseln anfachen, hebt sich das dürre Schattenbild des Sägearbeiters, der hoch auf seinem Balken sitzt, scharf vom Himmel ab, wie er sich auf- und abwärts bewegt mit der Regelmäßigkeit eines Pendels, wie um das fröhliche, neue Leben zu regeln, das hier auf dem ehemaligen Totenacker erstanden. Nur die Alten, die auf den Balken ausruhen und sich in der Abendsonne wärmen, reden noch manchmal untereinander von den Gebeinen, die sie ehemals auf dem sagenhaften Leichenkarren durch die Straßen von Plassans hatten führen sehen.
Wenn die Nacht hereinbricht, leert sich das Saint-Mittre-Feld und gleicht dann einer tiefen, schwarzen Grube. Im Hintergrunde ist nichts als der matte Schein der Feuerstellen der Zigeuner. Von Zeit zu Zeit sieht man stille Schatten durch die dichte Finsternis huschen. Im Winter hat der Ort ein besonders düsteres Aussehen.
An einem Sonntag abends, gegen sieben Uhr, verließ ein junger Mensch die Saint-Mittre-Gasse und schlich immer die Mauern entlang bis zu den Balken des Zimmerplatzes. Es war in den ersten Dezembertagen des Jahres 1851, und es herrschte eine trockene Kälte. Das Mondlicht hatte die den Wintermonden eigentümliche Klarheit. Der Zimmerplatz glich diese Nacht nicht einer dunklen Höhle wie in den regnerischen Nächten; durch breite Lichtfelder des weißen Mondes erhellt, lag er, den Beschauer zu sanfter Schwermut stimmend, in winterlicher Stille und Unbeweglichkeit da.
Der junge Mensch blieb, vorsichtig sich umschauend, einige Augenblicke am Rande des Feldes stehen. Unter seiner Jacke hielt er den Kolben einer langen Flinte fest, deren zu Boden gesenkter Lauf im Mondlicht glänzte. Er drückte die Waffe fest an sich und warf einen scharf prüfenden Blick auf die Schattenvierecke, die die Bretterstöße im Hintergrunde des Feldes warfen. Es war wie ein Damebrett aus Licht und Schatten mit scharf geschnittenen Feldern. Mitten im Felde standen auf einem kahlen, grauen Fleck die Böcke der Sägearbeiter eng aneinander gereiht, einer ungeheuerlichen geometrischen Figur gleichend, die jemand mit Tinte auf das Papier wirft. Der übrige Teil des Zimmerplatzes, der aus Balken gebildete Estrich, war ein breites Bett, wo das Mondlicht schlief, kaum getrübt durch die schmalen Schattenstreifen, die die aufgehäuften Pfosten hineinwarfen. Diese im Lichte des Wintermondes in eisiger Stille daliegenden Haufen umgestürzter, unbeweglicher Mäste, die gleichsam erstarrt waren in Kälte und Schlaf, erinnerten an die Toten des ehemaligen Kirchhofes. Der junge Mensch warf auf diesen leeren Raum nur einen flüchtigen Blick; kein Wesen, kein Hauch, keine Gefahr, gesehen oder gehört zu werden. Die dunklen Flecke des Hintergrundes beunruhigten ihn mehr. Doch nach kurzer Betrachtung wagte er sich vor und durchschritt rasch den Zimmerplatz.
Sobald er sich in Schatten gehüllt wußte, verlangsamte er seine Schritte. Er befand sich jetzt auf dem grünen Wege längs der Mauer hinter den Bretterstößen. Hier vernahm er nicht mehr das Geräusch seiner Schritte; das gefrorene Gras knisterte kaum unter seinen Füßen. Ein Gefühl der Zufriedenheit schien ihn zu erfüllen. Ihm war, als müsse er diesen Ort lieben, weil er daselbst keine Gefahr zu fürchten, nur Gutes und Liebes zu suchen habe. Er verbarg seine Flinte nicht mehr. Der Weg zog sich gleich einem schattigen Graben dahin. Stellenweise glitt das Mondlicht zwischen zwei Bretterstößen hindurch und warf einen hellen Streifen auf das Gras. Dunkel und Helle lagen gleichmäßig in tiefem, traurigem Schlaf. Nichts war mit der Stille und Ruhe dieses Weges vergleichbar. Der junge Mensch durchschritt ihn in seiner ganzen Länge. An seinem Ende, dort wo die Mauern des Jas-Meiffren einen Winkel bilden, blieb er stehen und horchte, wie um zu hören, ob nicht von dem benachbarten Grundstück her ein Geräusch vernehmbar sei. Als er nichts hörte, bückte er sich, schob ein Brett zur Seite und versteckte seine Flinte unter einem Stoß Holz.
In diesem Winkel fand sich ein alter Grabstein, der bei der Übersiedlung des alten Kirchhofes hier vergessen worden und quer gelegt eine Art hoher Bank bildete. Der Regen hatte die Ränder des Steines zermürbt, und das Moos fraß sich nach und nach in ihn ein. Beim Mondschein konnte man noch einiges von der Grabschrift auf der dem Erdboden zugeneigten Fläche des Grabsteines lesen. »Hier ruht … Marie … gestorben … «, den Rest hatte die Zeit ausgelöscht.
Als der junge Mensch sein Gewehr verborgen hatte, horchte er von neuem, und da er nichts hörte, entschloß er sich, auf den Stein zu steigen. Die Mauer war niedrig; er stemmte die Ellenbogen auf die Mauerkappe. Allein jenseits der Reihe von Maulbeerbäumen, die längs der Mauer stand, sah er nichts als eine mondhelle Ebene; die Felder des Jas-Meiffren dehnten sich im Mondlichte flach und baumlos gleich einem ungeheuren Stück ungebleichter Leinwand aus. In einer Entfernung von etwa hundert Metern bildete das von dem Krautgärtner bewohnte Haus mit den Wirtschaftsgebäuden einen etwas helleren Fleck. Der junge Mensch blickte gespannt nach dieser Seite hin, als eine Turmuhr der Stadt in langsamen, tiefklingenden Schlägen die siebente Abendstunde kündete. Er zählte die Uhrschläge, dann stieg er von dem Steine herab, gleichsam überrascht und ärgerlich.
Er setzte sich auf die Bank wie jemand, der sich gefaßt macht, lange zu warten. Er schien die scharfe Kälte nicht zu spüren. Eine halbe Stunde verharrte er regungslos, die Augen nachdenklich auf eine Schattenmasse geheftet. Er hatte sich in einen dunklen Winkel gesetzt; aber allmählich erreichte ihn der höher steigende Mond, und sein Kopf war hell beleuchtet.
Es war ein Bursche mit aufgewecktem Gesichte, dessen feiner Mund und noch zarte Haut die Jugend verrieten. Er war etwa siebzehn Jahre alt und von einer charakteristischen Schönheit. Sein mageres, langes Gesicht war wie von dem Daumenstrich eines mächtigen Bildhauers geformt; die hügelige Stirne, die vorspringenden Bogen der Augenbrauen, die Adlernase, das breite, flache Kinn, die Wangen mit den vorspringenden Backenknochen verliehen dem Kopfe einen eigenartigen Ausdruck von Kraft und Energie. Mit dem Alter mußte dieser Kopf einen ausgesprochen knochigen Charakter, die Magerkeit eines fahrenden Ritters annehmen. Allein in dieser Zeit erwachender Mannbarkeit, an Kinn und Wangen kaum mit einem schwachen Flaum bedeckt, wurde die Rauheit dieses Kopfes durch gewisse einnehmende Weichheiten gemildert, durch gewisse Winkel des Gesichtes, die noch einen unbestimmten, kindlichen Ausdruck haben. Die Augen von zartschwarzer Färbung, noch in die Unschuld der Jugend getaucht, verliehen diesem energischen Gesicht ebenfalls einen Zug von Sanftmut. Nicht alle Frauen würden diesen Knaben geliebt haben; denn er war weit entfernt von dem, was man einen hübschen Jungen nennt; allein das Ganze seiner Züge zeigte eine so feurige, anziehende Lebendigkeit, eine solche Schönheit der Begeisterung und der Kraft, daß die Dirnen der Gegend, diese heißblütigen Töchter des Südens, wohl von ihm zu träumen begannen, wenn er an schwülen Juliabenden an ihrer Haustüre vorbeikam.
Auf dem Grabstein sitzend, sann er und sann, ohne zu merken, daß er jetzt ganz im Mondlichte saß. Er war von mittlerer, etwas gedrungener Gestalt. Am Ende seiner stark entwickelten Arme saßen Arbeiterhände, die schon durch die Arbeit abgehärtet waren; die kräftigen Füße staken in groben Bundschuhen. Die Gelenke und die Glieder, die schwerfällige Haltung des Körpers kennzeichneten ihn als Sohn des Volkes; allein in der aufrechten Haltung seines Halses und in dem denkenden Ausdruck der Augen lag gleichsam eine stille Auflehnung gegen die Verrohung durch das Tagewerk, das ihn schon zu Boden zu drücken begann. Es mußte eine verständige Natur sein, ertränkt in der Schwerfälligkeit seines Stammes und seines Berufes; einer jener fein gearteten und auserlesenen Geister, die sich im Fleische selbst kundgeben und darunter leiden, daß sie nicht siegreich und strahlend ihre plumpe Hülle verlassen können. Trotz seiner Kraft schien er schüchtern und zaghaft zu sein; er schämte sich gleichsam unbewußt, sich so unvollständig zu fühlen und nicht zu wissen, wie er sich vervollständigen solle. Ein wackeres Kind, dessen Unwissenheit sich in Begeisterung verwandelt hatte; ein Mannesherz, unterstützt durch die Vernunft eines Knaben, der Hingebung fähig wie ein Weib und dabei mutig wie ein Held. An diesem Abend war er mit Beinkleid und Jacke von grünem Wollsammet bekleidet; ein Hut von weichem Filz, der ihm leicht auf dem Hinterkopfe saß, warf einen Schattenstreif auf seine Stirn.
Als die benachbarte Turmuhr die halbe Stunde schlug, fuhr er plötzlich aus seiner Träumerei auf. Er sah sich in voller Beleuchtung und schaute sich besorgt um. Mit einer hastigen Bewegung zog er sich in das Dunkel des Schattens zurück, aber er konnte den Faden seiner Träumerei nicht wiederfinden. Er fühlte jetzt, daß seine Hände und Füße froren, und die Unruhe bemächtigte sich seiner von neuem. Er klomm wieder hinan, um einen Blick nach den Jas-Meiffren zu werfen, der still und öde dalag. Als er dann nicht mehr wußte, wie er die Zeit totschlagen solle, holte er unter dem Bretterhaufen seine Flinte hervor und begann, mit dem Hahn zu spielen. Es war ein langer und schwerer Karabiner, der einst ohne Zweifel irgendeinem Schmuggler gehört hatte; an dem dicken Kolben und der starken Schwanzschraube des Laufes erkannte man die einstige Steinschloßflinte, die ein Büchsenmacher der Gegend zu einer modernen Schießwaffe umgewandelt hatte. Auf den Pachthöfen findet man noch solche Karabiner über den Kaminen hängen. Der junge Mensch tändelte mit seiner Waffe; er ließ wohl zwanzigmal den Hahn spielen, fuhr mit dem kleinen Finger in den Lauf und prüfte aufmerksam den Kolben. Allmählich flammte seine jugendliche Begeisterung auf, in die sich ein Zug von Kinderei mengte. Er legte den Karabiner an die Wange und zielte ins Leere wie ein Rekrut, der sich einübt.
Bald mußte die achte Stunde schlagen. Der junge Mensch hielt seit einer Minute seine Waffe angelegt, als eine Stimme, leise wie ein Hauch, müde und keuchend, aus dem Jas-Meiffren herüber vernehmbar wurde.
Bist du da, Silvère? fragte die Stimme.
Silvère ließ das Gewehr fallen und war mit einem Satze auf dem Grabstein.
Ja, ja, erwiderte er, ebenfalls mit gedämpfter Stimme … Warte, ich will dir behilflich sein.
Noch hatte er den Arm nicht ausgestreckt, als der Kopf eines jungen Mädchens über der Mauer erschien. Mit seltenerBehendigkeit hatte das Kind den Stamm eines Maulbeerbaumes ergriffen und war emporgeklettert wie ein Kätzchen. An der Sicherheit und Leichtigkeit ihrer Bewegungen konnte man sehen, daß sie mit diesem seltsamen Wege wohl vertraut war. In einem Nu saß sie auf der Mauerkappe. Nun nahm Silvère sie in seine Arme und stellte sie auf die Bank. Allein sie wehrte sich.
Laß doch, sagte sie mit munterem Lächeln … Ich kann allein hinab.
Als sie auf dem Steine stand, fragte sie:
Wartest du schon lange? … Ich bin gelaufen … bin ganz atemlos.
Silvère antwortete nichts. Er schien zum Lachen nicht gelaunt und betrachtete das Kind mit bekümmerter Miene. Dann setzte er sich zu ihr und sagte:
Ich wollte dich sehen, Miette, und würde selbst die ganze Nacht auf dich gewartet haben. Morgen mit Tagesanbruch ziehe ich fort.
Miette hatte inzwischen die im Grase liegende Waffe bemerkt. Sie ward sogleich sehr ernst und flüsterte:
Ach, es ist also entschieden! … da ist deine Flinte.
Sie schwiegen eine Weile.
Ja, ich gehe, sagte Silvère mit schwankender Stimme … das ist mein Gewehr … Ich hielt es für besser, es schon heute abend aus dem Hause zu schaffen; morgen würde Tante Dide vielleicht bemerkt haben, daß ich es wegnehme, und es würde sie beunruhigt haben. Ich will es hier verstecken, und ehe wir aufbrechen, will ich mir es holen.
Da es schien, als könne Miette die Augen nicht mehr wegwenden von der Waffe, die er törichterweise im Grase hatte lieg...

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