Das GlĂŒck der Familie Rougon
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Das GlĂŒck der Familie Rougon

Emile Zola

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  1. 336 pages
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Das GlĂŒck der Familie Rougon

Emile Zola

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Menschliche Schicksale und historische Ereignisse, so kunstvoll wie in keinem anderen Werk des großen Naturalisten ist hier beides miteinander verwoben. Ein französisches ProvinzstĂ€dtchen wird zum Brennspiegel, in dem sich die Geschicke der Nation an einem Wendepunkt ihrer Geschichte bĂŒndeln.

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Informations

Année
2017
ISBN
9783961891122

Kapitel 1

Wenn man Plassans durch das Römertor verlĂ€ĂŸt, das auf der SĂŒdseite der Stadt liegt, findet man rechts von der Straße nach Nizza hinter den ersten HĂ€usern der Vorstadt ein wĂŒstes StĂŒck Land, das in der Gegend unter dem Namen »der Saint-Mittre-Grund« bekannt ist.
Der Saint-Mittre-Grund ist ein lĂ€ngliches Viereck in ziemlicher Ausdehnung, das sich in gleicher Höhe mit dem Fußsteig der Straße hinzieht, von der er nur durch einen Streifen dĂŒrren Rasens getrennt ist. Auf einer Seite des GrundstĂŒckes, rechts, zieht sich ein SackgĂ€ĂŸchen hin mit einer Reihe von HĂŒtten. Links und im Hintergrunde ist das Gebiet durch zwei von Moos zerfressene Mauern abgeschlossen, ĂŒber die hinweg man die MaulbeerbĂ€ume des Jas-Meiffren erblickt, eines grĂ¶ĂŸeren Besitztumes, zu dem der Eingang weiter unten in der Vorstadt zu finden ist. So von drei Seiten eingeschlossen, ist der »Saint-Mittre-Grund« eigentlich ein großer Platz, der nirgends hinfĂŒhrt und daher nur von SpaziergĂ€ngern aufgesucht wird.
Einst war hier ein Kirchhof, der unter dem Schutze des Saint-Mittre stand, eines provençalischen Heiligen, der in dieser Gegend sehr verehrt wurde. Die Ă€lteren Leute erinnerten sich im Jahre 1851 noch, die Mauern dieses Kirchhofes, der Jahre hindurch geschlossen geblieben, gesehen zu haben. Der Boden, den man seit mehr denn einem Jahrhundert mit Leichen vollstopfte, atmete den Tod aus, und man war genötigt, am anderen Ende der Stadt einen neuen Gottesacker zu eröffnen. Nachdem er aufgelassen worden, schwand der ehemalige Friedhof mit jedem jungen Jahre mehr und bedeckte sich mit einem ĂŒppigen Pflanzenwuchs. Dieser fette Boden, in den die TotengrĂ€ber keinen Spatenstich mehr tun konnten, ohne Menschenknochen aufzuwerfen, war von einer ungeheuren Fruchtbarkeit. Nach den Mairegen und den sonnigen Tagen des Juni sah man von der Straße aus die Spitzen der GrĂ€ser ĂŒber die Mauern hinausragen; im Innern war ein Meer von tiefem, sattem GrĂŒn, da und dort blĂŒhten breite Blumen von seltsamem Farbenglanze. Im Schatten der eng zusammenstehenden Stengel roch man das feuchte Erdreich, das von gĂ€renden SĂ€ften strotzte.
Eine MerkwĂŒrdigkeit dieses GrundstĂŒckes waren zu jener Zeit die BirnbĂ€ume mit den verkrĂŒmmten Zweigen und unförmigen Knoten, nach deren riesigen FrĂŒchten keine Hausfrau von Plassans Verlangen trug. Man sprach in der Stadt von diesen Birnen nur mit Ekel; aber die Vorstadtjungen waren nicht so heikel; sie erklommen des Abends scharenweise die Mauern, um die Birnen zu stehlen, noch ehe sie völlig reif waren.
Das blĂŒhende, reich sprießende Leben der GrĂ€ser und BĂ€ume hatte bald den Tod des ehemaligen Kirchhofes von Saint-Mittre bewĂ€ltigt. Der menschliche Moder wurde gierig von den Blumen und FrĂŒchten aufgesogen, und kam man an diesem Orte vorbei, so spĂŒrte man nur mehr den scharfen Duft der wilden Nelken. Wenige Sommer hatten dies zustandegebracht.
Um jene Zeit kam die Stadt auf den Gedanken, von diesem bisher brach gelegenen Gemeindebesitz Nutzen zu ziehen. Man riß die lĂ€ngs der Straße und des SackgĂ€ĂŸchens stehenden Mauern nieder und beseitigte GrĂ€ser und BirnbĂ€ume; dann verlegte man den Kirchhof. Der Boden ward bis zu einer Tiefe von mehreren Metern aufgegraben, und man warf in einem Winkel die Gebeine zuhauf, die sich in der Erde vorfanden. Die Jungen, die ĂŒber den Verlust der BirnbĂ€ume untröstlich waren, spielten fast einen Monat Ball mit den SchĂ€deln; es fanden sich Leute, die sich den schlechten Spaß machten, nĂ€chtlicherweile Schenkel- und Schienbeine an die TĂŒrglocken der Stadt zu hĂ€ngen. Dieses Ärgernis, das in Plassans heute noch unvergessen ist, hörte nicht eher auf, als bis man sich entschloß, die Gebeine in einer Grube auf dem neuen Kirchhofe zu verscharren. Allein, in der Provinz werden die Arbeiten mit bedĂ€chtiger Langsamkeit ausgefĂŒhrt, und die Bewohner des Ortes sahen eine Woche hindurch von Zeit zu Zeit einen einzigen Leichenkarren mit menschlichen Resten dahinziehen, als ob er Kalk fĂŒhrte. Das Schlimmste dabei war, daß dieser Karren Plassans in seiner ganzen LĂ€nge passieren mußte und daß er, auf dem schlechten Pflaster forthumpelnd, bei jedem Stoße KnochenstĂŒcke und HĂ€uflein fetter Erde als Spur zurĂŒckließ. Keinerlei kirchliche Zeremonie, nur eine langsame, rohe Abfuhr. Niemals fand in einer Stadt ein so widerliches Schauspiel statt.
Mehrere Jahre hindurch blieb der ehemalige Kirchhof von Saint-Mittre ein Gegenstand des Schreckens. Am Rande einer großen Straße fĂŒr alle Welt offen daliegend, blieb der Ort öde und verlassen, abermals eine Beute wilden Wachstumes. Die Stadt, die ohne Zweifel das GrundstĂŒck verĂ€ußern wollte, damit es mit HĂ€usern bebaut werde, fand keinen KĂ€ufer; vielleicht war es die Erinnerung an den Knochenhaufen und an den vereinzelt durch die Straßen ziehenden, an einen hartnĂ€ckigen, bösen Traum gemahnenden Leichenkarren, welche die Leute zurĂŒckschreckte; vielleicht auch erklĂ€rt sich die Tatsache durch die LĂ€ssigkeit der Provinz, durch jenes Widerstreben, das sie gegen alles Niederreißen und Wiederaufbauen hat. Die Stadt behielt das GrundstĂŒck, und schließlich geriet der Wunsch, es zu verkaufen, ganz in Vergessenheit. Man unterließ sogar, das Gebiet mit einem Pfahlzaun einzufrieden; jedermann konnte ungehindert ein und aus gehen. Nach und nach gewöhnte man sich im Laufe der Jahre an diesen öden Winkel; man ließ sich auf das Gras am Raine nieder; man ging wohl auch quer ĂŒber das StĂŒck Feld, kurz: der Ort belebte sich immer mehr. Als die FĂŒĂŸe der SpaziergĂ€nger den Rasenteppich abgenĂŒtzt hatten und der festgestampfte Boden grau und hart geworden war, glich der ehemalige Kirchhof einem schlecht geebneten öffentlichen Platze. Um jede peinliche Erinnerung völlig zu tilgen, gewöhnten sich die Bewohner, fast ohne es zu merken, allmĂ€hlich daran, die Benennung des Gebietes zu Ă€ndern; man begnĂŒgte sich damit, bloß den Namen des Heiligen zu behalten und legte diesen auch dem GĂ€ĂŸchen bei; man sagte: das »Saint-Mittre-Feld« und das »Saint-Mittre-GĂ€ĂŸchen«.
All dies ist schon lange her. Seit mehr denn dreißig Jahren hat das Saint-Mittre-Feld sein eigenartiges Aussehen. Die Stadt, viel zu lĂ€ssig und sorglos, um das GrundstĂŒck auszunĂŒtzen, hat es gegen ein geringes Entgelt an die Wagner der Vorstadt verpachtet, die daselbst einen Zimmerplatz eingerichtet haben. Heute noch liegen stellenweise Haufen von riesigen Balken, zehn bis fĂŒnfzehn Meter lang, herum, gleich umgestĂŒrzten hohen Pfeilern. Diese Balkenhaufen, diese parallel hingelegten Maste, die sich fortsetzen von einem Ende des Feldes bis zum anderen, sind die ewige Freude der Jungen. Einzelne Balken sind herabgeglitten, so daß stellenweise der Boden mit einer Art Parkett, aus runden StĂŒcken bestehend, bedeckt ist, auf dem man nur mit dem Aufgebot halsbrecherischer BalancierkĂŒnste dahinschreiten kann. Den ganzen Tag sind Scharen von Kindern da, die sich dieser LeibesĂŒbung hingeben. Man sieht sie ĂŒber die großen Bohlen springen, die schmalen Kanten entlang schreiten, rittlings dahinrutschen, all die verschiedenen Spiele treiben, die gewöhnlich mit einer Keilerei, mit Geheul und Gezeter endigen; oder auch es setzen sich ihrer je ein halbes Dutzend, eng aneinander gedrĂ€ngt, auf die beiden Enden eines quer ĂŒber die anderen gelegten Balkens und schaukeln sich stundenlang. Das Saint-Mittre-Feld ist ein Unterhaltungsplatz geworden, auf dem die Vorstadtjungen seit einem Vierteljahrhundert die Hosen zerreißen.
Was diesem verlorenen Winkel vollends einen seltsamen Charakter verliehen hat, ist der alte Brauch der durchziehenden Zigeuner, hier ihre Zelte aufzuschlagen. Sobald eines dieser HĂ€user auf RĂ€dern, das einen ganzen Stamm enthĂ€lt, in Plassans eintrifft, lĂ€ĂŸt es sich im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes nieder. Der Platz ist denn auch niemals leer; es findet sich stets eine dieser Banden mit ihrem seltsamen Treiben, eine Truppe von braunen MĂ€nnern und furchtbar dĂŒrren Weibern, zwischen denen ganze Scharen schmutziger Rangen sich am Boden wĂ€lzen. Dieses Volk lebt ohne Scham im Freien vor aller Welt, kocht seine Suppe, nĂ€hrt sich von namenlosen Dingen, breitet seine Lumpen aus, schlĂ€ft, prĂŒgelt sich, kĂŒĂŸt sich, stinkt von Schmutz und Elend.
Das öde Leichenfeld, wo einst die Drohnen allein die dickblĂ€tterigen Blumen in der stillen, schwĂŒlen Sonnenglut umsummten, ist ein gerĂ€uschvoller Ort geworden, erfĂŒllt von dem Gezanke der Zigeuner und dem Geschrei der jungen Vorstadt-Taugenichtse. Eine SĂ€gerei, die in einem Winkel die Balken des Zimmerplatzes zerlegt, liefert mit ihrem Kreischen eine bestĂ€ndige dumpfe Begleitung zu den hellen menschlichen Stimmen. Die SĂ€gerei ist ganz einfach; das StĂŒck Holz wird quer auf zwei erhöhte Böcke gelegt, und zwei Brettschneider, der eine oben auf dem Balken sitzend, der andere unten, geblendet durch den herabfallenden SĂ€gestaub erhalten eine starke und breite SĂ€ge in fortwĂ€hrender auf- und absteigender Bewegung. Stundenlang neigen sich diese MĂ€nner so hin und her gleich Gliederpuppen mit der RegelmĂ€ĂŸigkeit und Starrheit von Maschinen. Das von ihnen zu Brettern gesĂ€gte Holz ist im Hintergrunde lĂ€ngs der Mauer zwei bis drei Meter hoch aufgeschichtet und gleichmĂ€ĂŸig in Kubikform gelegt. Diese MĂŒhlsteinen Ă€hnlichen Vierecke, die manchmal mehrere Jahre lang hier liegen bleiben, bis sie von Moos und Unkraut ĂŒberwuchert werden, sind mit ein Reiz des Saint-Mittre-Feldes. Es ziehen sich zwischen ihnen verschwiegene, stille Pfade hin, die zu einem etwas breitern Wege fĂŒhren, der zwischen den HolzstĂ¶ĂŸen und der Mauer freigelassen blieb. Es ist dies ein verlassener Winkel, ein schmaler grĂŒner Fleck, von welchem aus man nur schmale Streifen des Himmels sieht. Auf diesem Wege, dessen WĂ€nde mit Moos ĂŒberzogen sind und dessen Boden mit einem Wollteppich belegt zu sein scheint, herrscht noch der ĂŒppige Pflanzenwuchs und die fröstelnde Stille des ehemaligen Kirchhofes. Man verspĂŒrt da den lauen, unbestimmten Hauch der Wollust des Todes, wie er aus den im Sonnenbrande glĂŒhenden alten GrĂ€bern aufsteigt. Es gibt in der Umgebung von Plassans keinen Ort, wo man so sehr wie hier durch die Einsamkeit und Stille zur Liebe gestimmt wĂŒrde. Hier ist es köstlich zu lieben. Als der Kirchhof gerĂ€umt ward, mußte man in diesem Winkel die Gebeine aufhĂ€ufen; heute noch kommt es vor, daß man, den feuchten Boden mit dem Fuße aufwĂŒhlend, SchĂ€delstĂŒcke zutage fördert.
Übrigens denkt niemand mehr an die Toten, die einst unter diesem Rasen geschlummert. Bei Tage spielen die Kinder Verstecken zwischen diesen HolzstĂ¶ĂŸen. Der grĂŒne Weg bleibt unbekannt und unbenutzt. Man sieht nichts als den staubgrauen Zimmerplatz mit den umherliegenden Pfosten. Des Morgens und Nachmittags, wenn die Sonne ihre Glut herniedersendet, wimmelt das Feld von Menschen; und ĂŒber all dem regen Treiben, ĂŒber den Straßenjungen, die zwischen den Hölzern spielen, und den Zigeunern, die das Feuer unter ihren Suppenkesseln anfachen, hebt sich das dĂŒrre Schattenbild des SĂ€gearbeiters, der hoch auf seinem Balken sitzt, scharf vom Himmel ab, wie er sich auf- und abwĂ€rts bewegt mit der RegelmĂ€ĂŸigkeit eines Pendels, wie um das fröhliche, neue Leben zu regeln, das hier auf dem ehemaligen Totenacker erstanden. Nur die Alten, die auf den Balken ausruhen und sich in der Abendsonne wĂ€rmen, reden noch manchmal untereinander von den Gebeinen, die sie ehemals auf dem sagenhaften Leichenkarren durch die Straßen von Plassans hatten fĂŒhren sehen.
Wenn die Nacht hereinbricht, leert sich das Saint-Mittre-Feld und gleicht dann einer tiefen, schwarzen Grube. Im Hintergrunde ist nichts als der matte Schein der Feuerstellen der Zigeuner. Von Zeit zu Zeit sieht man stille Schatten durch die dichte Finsternis huschen. Im Winter hat der Ort ein besonders dĂŒsteres Aussehen.
An einem Sonntag abends, gegen sieben Uhr, verließ ein junger Mensch die Saint-Mittre-Gasse und schlich immer die Mauern entlang bis zu den Balken des Zimmerplatzes. Es war in den ersten Dezembertagen des Jahres 1851, und es herrschte eine trockene KĂ€lte. Das Mondlicht hatte die den Wintermonden eigentĂŒmliche Klarheit. Der Zimmerplatz glich diese Nacht nicht einer dunklen Höhle wie in den regnerischen NĂ€chten; durch breite Lichtfelder des weißen Mondes erhellt, lag er, den Beschauer zu sanfter Schwermut stimmend, in winterlicher Stille und Unbeweglichkeit da.
Der junge Mensch blieb, vorsichtig sich umschauend, einige Augenblicke am Rande des Feldes stehen. Unter seiner Jacke hielt er den Kolben einer langen Flinte fest, deren zu Boden gesenkter Lauf im Mondlicht glĂ€nzte. Er drĂŒckte die Waffe fest an sich und warf einen scharf prĂŒfenden Blick auf die Schattenvierecke, die die BretterstĂ¶ĂŸe im Hintergrunde des Feldes warfen. Es war wie ein Damebrett aus Licht und Schatten mit scharf geschnittenen Feldern. Mitten im Felde standen auf einem kahlen, grauen Fleck die Böcke der SĂ€gearbeiter eng aneinander gereiht, einer ungeheuerlichen geometrischen Figur gleichend, die jemand mit Tinte auf das Papier wirft. Der ĂŒbrige Teil des Zimmerplatzes, der aus Balken gebildete Estrich, war ein breites Bett, wo das Mondlicht schlief, kaum getrĂŒbt durch die schmalen Schattenstreifen, die die aufgehĂ€uften Pfosten hineinwarfen. Diese im Lichte des Wintermondes in eisiger Stille daliegenden Haufen umgestĂŒrzter, unbeweglicher MĂ€ste, die gleichsam erstarrt waren in KĂ€lte und Schlaf, erinnerten an die Toten des ehemaligen Kirchhofes. Der junge Mensch warf auf diesen leeren Raum nur einen flĂŒchtigen Blick; kein Wesen, kein Hauch, keine Gefahr, gesehen oder gehört zu werden. Die dunklen Flecke des Hintergrundes beunruhigten ihn mehr. Doch nach kurzer Betrachtung wagte er sich vor und durchschritt rasch den Zimmerplatz.
Sobald er sich in Schatten gehĂŒllt wußte, verlangsamte er seine Schritte. Er befand sich jetzt auf dem grĂŒnen Wege lĂ€ngs der Mauer hinter den BretterstĂ¶ĂŸen. Hier vernahm er nicht mehr das GerĂ€usch seiner Schritte; das gefrorene Gras knisterte kaum unter seinen FĂŒĂŸen. Ein GefĂŒhl der Zufriedenheit schien ihn zu erfĂŒllen. Ihm war, als mĂŒsse er diesen Ort lieben, weil er daselbst keine Gefahr zu fĂŒrchten, nur Gutes und Liebes zu suchen habe. Er verbarg seine Flinte nicht mehr. Der Weg zog sich gleich einem schattigen Graben dahin. Stellenweise glitt das Mondlicht zwischen zwei BretterstĂ¶ĂŸen hindurch und warf einen hellen Streifen auf das Gras. Dunkel und Helle lagen gleichmĂ€ĂŸig in tiefem, traurigem Schlaf. Nichts war mit der Stille und Ruhe dieses Weges vergleichbar. Der junge Mensch durchschritt ihn in seiner ganzen LĂ€nge. An seinem Ende, dort wo die Mauern des Jas-Meiffren einen Winkel bilden, blieb er stehen und horchte, wie um zu hören, ob nicht von dem benachbarten GrundstĂŒck her ein GerĂ€usch vernehmbar sei. Als er nichts hörte, bĂŒckte er sich, schob ein Brett zur Seite und versteckte seine Flinte unter einem Stoß Holz.
In diesem Winkel fand sich ein alter Grabstein, der bei der Übersiedlung des alten Kirchhofes hier vergessen worden und quer gelegt eine Art hoher Bank bildete. Der Regen hatte die RĂ€nder des Steines zermĂŒrbt, und das Moos fraß sich nach und nach in ihn ein. Beim Mondschein konnte man noch einiges von der Grabschrift auf der dem Erdboden zugeneigten FlĂ€che des Grabsteines lesen. »Hier ruht 
 Marie 
 gestorben 
 «, den Rest hatte die Zeit ausgelöscht.
Als der junge Mensch sein Gewehr verborgen hatte, horchte er von neuem, und da er nichts hörte, entschloß er sich, auf den Stein zu steigen. Die Mauer war niedrig; er stemmte die Ellenbogen auf die Mauerkappe. Allein jenseits der Reihe von MaulbeerbĂ€umen, die lĂ€ngs der Mauer stand, sah er nichts als eine mondhelle Ebene; die Felder des Jas-Meiffren dehnten sich im Mondlichte flach und baumlos gleich einem ungeheuren StĂŒck ungebleichter Leinwand aus. In einer Entfernung von etwa hundert Metern bildete das von dem KrautgĂ€rtner bewohnte Haus mit den WirtschaftsgebĂ€uden einen etwas helleren Fleck. Der junge Mensch blickte gespannt nach dieser Seite hin, als eine Turmuhr der Stadt in langsamen, tiefklingenden SchlĂ€gen die siebente Abendstunde kĂŒndete. Er zĂ€hlte die UhrschlĂ€ge, dann stieg er von dem Steine herab, gleichsam ĂŒberrascht und Ă€rgerlich.
Er setzte sich auf die Bank wie jemand, der sich gefaßt macht, lange zu warten. Er schien die scharfe KĂ€lte nicht zu spĂŒren. Eine halbe Stunde verharrte er regungslos, die Augen nachdenklich auf eine Schattenmasse geheftet. Er hatte sich in einen dunklen Winkel gesetzt; aber allmĂ€hlich erreichte ihn der höher steigende Mond, und sein Kopf war hell beleuchtet.
Es war ein Bursche mit aufgewecktem Gesichte, dessen feiner Mund und noch zarte Haut die Jugend verrieten. Er war etwa siebzehn Jahre alt und von einer charakteristischen Schönheit. Sein mageres, langes Gesicht war wie von dem Daumenstrich eines mĂ€chtigen Bildhauers geformt; die hĂŒgelige Stirne, die vorspringenden Bogen der Augenbrauen, die Adlernase, das breite, flache Kinn, die Wangen mit den vorspringenden Backenknochen verliehen dem Kopfe einen eigenartigen Ausdruck von Kraft und Energie. Mit dem Alter mußte dieser Kopf einen ausgesprochen knochigen Charakter, die Magerkeit eines fahrenden Ritters annehmen. Allein in dieser Zeit erwachender Mannbarkeit, an Kinn und Wangen kaum mit einem schwachen Flaum bedeckt, wurde die Rauheit dieses Kopfes durch gewisse einnehmende Weichheiten gemildert, durch gewisse Winkel des Gesichtes, die noch einen unbestimmten, kindlichen Ausdruck haben. Die Augen von zartschwarzer FĂ€rbung, noch in die Unschuld der Jugend getaucht, verliehen diesem energischen Gesicht ebenfalls einen Zug von Sanftmut. Nicht alle Frauen wĂŒrden diesen Knaben geliebt haben; denn er war weit entfernt von dem, was man einen hĂŒbschen Jungen nennt; allein das Ganze seiner ZĂŒge zeigte eine so feurige, anziehende Lebendigkeit, eine solche Schönheit der Begeisterung und der Kraft, daß die Dirnen der Gegend, diese heißblĂŒtigen Töchter des SĂŒdens, wohl von ihm zu trĂ€umen begannen, wenn er an schwĂŒlen Juliabenden an ihrer HaustĂŒre vorbeikam.
Auf dem Grabstein sitzend, sann er und sann, ohne zu merken, daß er jetzt ganz im Mondlichte saß. Er war von mittlerer, etwas gedrungener Gestalt. Am Ende seiner stark entwickelten Arme saßen ArbeiterhĂ€nde, die schon durch die Arbeit abgehĂ€rtet waren; die krĂ€ftigen FĂŒĂŸe staken in groben Bundschuhen. Die Gelenke und die Glieder, die schwerfĂ€llige Haltung des Körpers kennzeichneten ihn als Sohn des Volkes; allein in der aufrechten Haltung seines Halses und in dem denkenden Ausdruck der Augen lag gleichsam eine stille Auflehnung gegen die Verrohung durch das Tagewerk, das ihn schon zu Boden zu drĂŒcken begann. Es mußte eine verstĂ€ndige Natur sein, ertrĂ€nkt in der SchwerfĂ€lligkeit seines Stammes und seines Berufes; einer jener fein gearteten und auserlesenen Geister, die sich im Fleische selbst kundgeben und darunter leiden, daß sie nicht siegreich und strahlend ihre plumpe HĂŒlle verlassen können. Trotz seiner Kraft schien er schĂŒchtern und zaghaft zu sein; er schĂ€mte sich gleichsam unbewußt, sich so unvollstĂ€ndig zu fĂŒhlen und nicht zu wissen, wie er sich vervollstĂ€ndigen solle. Ein wackeres Kind, dessen Unwissenheit sich in Begeisterung verwandelt hatte; ein Mannesherz, unterstĂŒtzt durch die Vernunft eines Knaben, der Hingebung fĂ€hig wie ein Weib und dabei mutig wie ein Held. An diesem Abend war er mit Beinkleid und Jacke von grĂŒnem Wollsammet bekleidet; ein Hut von weichem Filz, der ihm leicht auf dem Hinterkopfe saß, warf einen Schattenstreif auf seine Stirn.
Als die benachbarte Turmuhr die halbe Stunde schlug, fuhr er plötzlich aus seiner TrĂ€umerei auf. Er sah sich in voller Beleuchtung und schaute sich besorgt um. Mit einer hastigen Bewegung zog er sich in das Dunkel des Schattens zurĂŒck, aber er konnte den Faden seiner TrĂ€umerei nicht wiederfinden. Er fĂŒhlte jetzt, daß seine HĂ€nde und FĂŒĂŸe froren, und die Unruhe bemĂ€chtigte sich seiner von neuem. Er klomm wieder hinan, um einen Blick nach den Jas-Meiffren zu werfen, der still und öde dalag. Als er dann nicht mehr wußte, wie er die Zeit totschlagen solle, holte er unter dem Bretterhaufen seine Flinte hervor und begann, mit dem Hahn zu spielen. Es war ein langer und schwerer Karabiner, der einst ohne Zweifel irgendeinem Schmuggler gehört hatte; an dem dicken Kolben und der starken Schwanzschraube des Laufes erkannte man die einstige Steinschloßflinte, die ein BĂŒchsenmacher der Gegend zu einer modernen Schießwaffe umgewandelt hatte. Auf den Pachthöfen findet man noch solche Karabiner ĂŒber den Kaminen hĂ€ngen. Der junge Mensch tĂ€ndelte mit seiner Waffe; er ließ wohl zwanzigmal den Hahn spielen, fuhr mit dem kleinen Finger in den Lauf und prĂŒfte aufmerksam den Kolben. AllmĂ€hlich flammte seine jugendliche Begeisterung auf, in die sich ein Zug von Kinderei mengte. Er legte den Karabiner an die Wange und zielte ins Leere wie ein Rekrut, der sich einĂŒbt.
Bald mußte die achte Stunde schlagen. Der junge Mensch hielt seit einer Minute seine Waffe angelegt, als eine Stimme, leise wie ein Hauch, mĂŒde und keuchend, aus dem Jas-Meiffren herĂŒber vernehmbar wurde.
Bist du da, SilvĂšre? fragte die Stimme.
Silvùre ließ das Gewehr fallen und war mit einem Satze auf dem Grabstein.
Ja, ja, erwiderte er, ebenfalls mit gedÀmpfter Stimme 
 Warte, ich will dir behilflich sein.
Noch hatte er den Arm nicht ausgestreckt, als der Kopf eines jungen MĂ€dchens ĂŒber der Mauer erschien. Mit seltenerBehendigkeit hatte das Kind den Stamm eines Maulbeerbaumes ergriffen und war emporgeklettert wie ein KĂ€tzchen. An der Sicherheit und Leichtigkeit ihrer Bewegungen konnte man sehen, daß sie mit diesem seltsamen Wege wohl vertraut war. In einem Nu saß sie auf der Mauerkappe. Nun nahm SilvĂšre sie in seine Arme und stellte sie auf die Bank. Allein sie wehrte sich.
Laß doch, sagte sie mit munterem LĂ€cheln 
 Ich kann allein hinab.
Als sie auf dem Steine stand, fragte sie:
Wartest du schon lange? 
 Ich bin gelaufen 
 bin ganz atemlos.
SilvĂšre antwortete nichts. Er schien zum Lachen nicht gelaunt und betrachtete das Kind mit bekĂŒmmerter Miene. Dann setzte er sich zu ihr und sagte:
Ich wollte dich sehen, Miette, und wĂŒrde selbst die ganze Nacht auf dich gewartet haben. Morgen mit Tagesanbruch ziehe ich fort.
Miette hatte inzwischen die im Grase liegende Waffe bemerkt. Sie ward sogleich sehr ernst und flĂŒsterte:
Ach, es ist also entschieden! 
 da ist deine Flinte.
Sie schwiegen eine Weile.
Ja, ich gehe, sagte SilvĂšre mit schwankender Stimme 
 das ist mein Gewehr 
 Ich hielt es fĂŒr besser, es schon heute abend aus dem Hause zu schaffen; morgen wĂŒrde Tante Dide vielleicht bemerkt haben, daß ich es wegnehme, und es wĂŒrde sie beunruhigt haben. Ich will es hier verstecken, und ehe wir aufbrechen, will ich mir es holen.
Da es schien, als könne Miette die Augen nicht mehr wegwenden von der Waffe, die er törichterweise im Grase hatte lieg...

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