1. Krebs â Wissenschaft â Ideologie oder: Medizingeschichte als Provokation
Einladung zur âEuthanasieâ
Frauenklinik der UniversitĂ€t TĂŒbingen, Herbst 19411: Klinikchef Prof. Dr. med.2 August Mayer (1876-1968) soll Herr ĂŒber Leben und Tod spielen â er wird gebeten, âSterbehilfeâ fĂŒr eine Krebskranke, die bis dahin nicht zu seinen Patientinnen zĂ€hlte, zu leisten. Eine âĂrztin aus der heutigen Ostzoneâ3, erinnert sich der GynĂ€kologe ein Vierteljahrhundert spĂ€ter an dieses âeindrucksvolle( ) Erlebnisâ, âbrachte mir [...] ihre an weit fortgeschrittenem, jauchendem4 Kollumkarzinom (GebĂ€rmutterhalskrebs, M. W.) leidende Mutter nach TĂŒbingen mit der Bitte, sie zu operieren, damit sie an der (infolge Aszites5, M. W.) höchstwahrscheinlich auftretenden postoperativen Peritonitis (= BauchfellentzĂŒndung, M. W.) sterbe6 und damit vom ,wertlosen Lebenâ erlöst sei! [...] Die Wertlosigkeit des Lebens ihrer Mutter begrĂŒndete die Ărztin mit dem fortgeschrittenen, unheilbaren Kollumkarzinom, mit Siechtum und HilfsbedĂŒrftigkeit. Daher hielt sie sich fĂŒr berechtigt, eine Art Todesurteil ĂŒber ihre Mutter auszusprechen, und ich war zum Vollstrecker oder âScharfrichterâ ausersehen. [...] In schreiendem Gegensatz zur Ansicht der Ă€rztlichen Tochter hatte die Mutter mich flehentlich gebeten, alles zu tun, um ihr Leben zu verlĂ€ngern: Als Bezieherin einer Rente konnte sie ihrer 17jĂ€hrigen7 zweiten Tochter noch eine Berufsausbildung geben und war als Mutter gerne bereit, ein qualvolles Leiden auf sich zu nehmen, um dem jĂŒngeren Kind den Weg ins Leben zu erleichtern. Angesichts dieser hohen MĂŒtterlichkeit sank die Ă€rztliche Tochter noch mehr in meiner Achtung, als es schon vorher der Fall war. Mit Hilfe von Radium und Röntgenstrahlen gelang es mir, das Leben der Mutter noch um eine Anzahl von Jahren zu verlĂ€ngern.â (Mayer [1966], S. 786).
Eine verstörende Episode8, die herausfordert zu ergrĂŒnden, wie das Geschilderte âmöglichâ war, d.h. vor welchem geschichtlichen Hintergrund es sich ereignete. Die Szenerie weiter auszuleuchten, bieten sich zu allererst die beteiligten Personen an. Da weder die krebskranke Mutter noch die ihr das Lebensrecht absprechende Tochter persönlich identifizierbar sind, gilt die Aufmerksamkeit dem Arzt August Mayer. Darf man dem flammenden Katholiken9 seine Empörung ĂŒber diese âZumutung an michâ (Mayer [1966], S. 786) und seine âschwere MiĂbilligungâ (ebd.) ohne weiteres abnehmen? War er wirklich âim höchsten MaĂe ĂŒberraschtâ (ebd.), dass die Ă€rztliche Kollegin ausgerechnet ihn bat, das Leben der krebskranken Mutter abzukĂŒrzen, und deswegen den weiten Weg vom Sachsenins Schwabenland auf sich genommen hatte? Konfrontiert man Mayers Erinnerung an das Jahr 1941 mit eigenen ĂuĂerungen aus derselben Zeit, bekommt das von ihm nachtrĂ€glich gezeichnete Bild Risse. Mayer bekennt, dass er der âunter den Qualen ihres Karzinoms schwer leidende(n) Frau [...] Erlösung vom Leben gewĂŒnscht hĂ€tteâ, doch sie selbst habe ihn âeindringlichâ gebeten, âalles zur VerlĂ€ngerung ihres Lebens zu tunâ (Mayer [1941], S. 27).10 Die Schilderung ist eingebettet in eine allgemeine Reflexion Mayers ĂŒber die âVernichtung von lebensunwertem Lebenâ. Dieser âGedankeâ erschien ihm âverlockend [...] vom rein rationalen Standpunktâ (ebd., S. 26), ohne dass der TĂŒbinger GynĂ€kologe diesen Standpunkt begrĂŒndet. An anderer Stelle spricht er beilĂ€ufig vom âInteresse der Allgemeinheitâ, hat aber dann vorrangig die leidenden Patienten im Blick, deren âkörperliche Qual durch die Schmerzenâ sie nach Erlösung verlangen lasse. Zugleich meldet Mayer âernste Bedenkenâ (ebd., S. 27) an, dem behandelnden Arzt âdie Feststellung, daĂ das Leben lebensunwert ist, und [...] die DurchfĂŒhrung der Lebensvernichtungâ (ebd., S. 26) aufzubĂŒrden: âDie Vollstreckung des Urteils [...] wĂŒrde das Vertrauen der Kranken zu den Ărzten und KrankenhĂ€usern wohl sehr stark beeintrĂ€chtigen.â Auch wenn manche Krebskranke âihr Todesurteil selbst aussprechenâ, widerstreite die âErlösung vom Lebenâ dem âtiefsten Sinn unserer Sendung. Diese ist: ,Leben erhaltenâ, nicht: ,Leben zerstörenââ. Zudem geht Mayer davon aus, die allermeisten Kranken wĂŒrden bei entsprechender Bedenkfrist in ihrem Entschluss wankend und zögen ihren âAntrag zur Lebensvernichtungâ zurĂŒck, zeigten nicht âdie zum konsequenten Durchhalten nötige SeelengröĂeâ (ebd., S. 27). So ĂŒberwiegen bei Mayer die Kontra-Argumente, auch wenn er sich nicht zu einem klaren Nein zur âEuthanasieâ durchringt, sondern die vagere Formulierung âproblematischâ (ebd., S. 26) bevorzugt.
Dem Verfasser ist keine Quelle bekannt, wonach Mayer ausdrĂŒcklich fĂŒr âtherapeutisches Tötenâ11 â eben dies wurde von ihm verlangt â plĂ€diert hĂ€tte, noch ein Dokument, das geeignet wĂ€re, ihn persönlich der sogenannten Euthanasie zu bezichtigen. Trotzdem kann kaum verwundern, dass man sich in diesem Belang an ihn wandte. SchlieĂlich stand der TĂŒbinger GynĂ€kologe im Ruf eines politischen Mediziners12 â und das nicht erst zu Zeiten des âDritten Reichesâ13. So hatte Mayer, Jahre bevor am 1. Januar 1934 das âGesetz zur VerhĂŒtung erbkranken Nachwuchsesâ in Kraft trat, ein Sterilisierungsgesetz insbesondere zu eugenischen14 Zwecken gefordert15 und, ohne dessen Verabschiedung abzuwarten, eigene Patienten operativ sterilisiert und Abtreibungen vorgenommen (BrĂ€ndle [1982], S. 151).16 Dass Mayer die âVernichtung werdenden Lebensâ (Wuttke [1984], S. 146) entschieden ablehnte, sobald der Paragraph 218, soziale Indikation, im Spiel war17, gerĂ€t zu seiner âmedizinischenâ Abtreibungspraxis nur scheinbar in Widerspruch. Die âFortpflanzung von Minderwertigenâ (Mayer [1936], S. 953) war kompromisslos zu unterbinden, nach versĂ€umter Sterilisierung eben wĂ€hrend der Schwangerschaft.18 Schutz verdiente allein die Leibesfrucht âerbgesunderâ Eltern, die Mayer in der Pflicht sah, dem deutschen Volk Nachwuchs zu schenken; andernfalls drohe âfurchtbare Selbstentvölkerungâ (UniversitĂ€tsarchiv TĂŒbingen 150/1: Zwölfseitiges Schreibmaschinenmanuskript ohne Titel vom 15. 1. 1943, S. 6).
Als die Nationalsozialisten schlieĂlich regierten, preschte der âTĂŒbinger Faschistâ19 weiter vor, als erwĂŒnscht war. Mayer machte sich im September 1935 dafĂŒr stark, die Zwangssterilisierung von Behinderten und Geisteskranken zu zentralisieren, und regte an, zu diesem Zweck in ausgedienten GebĂ€uden der TĂŒbinger Frauenklinik, die er seit Januar 1918 leitete, eine âErbgesundheitsklinikâ einzurichten. Im Berliner Reichsministerium des Innern fand man Mayers Vorschlag zu heikel. Ministerialdirektor Dr. med. Arthur Julius GĂŒtt (1891-1949), ein ĂŒberzeugter Nationalsozialist20, zog es vor, die SterilisierungsmaĂnahmen dezentral fortzusetzen, statt sie zu institutionalisieren, damit sie weiter öffentlicher Aufmerksamkeit entzogen blieben. GĂŒtts Hauptargument: â(J)eder Todesfall21 wird in dieser Klinik voraussichtlich mehr Beachtung finden, als in einem allgemeinen Krankenhausâ.22
In der Bundesrepublik angekommen, schweigt sich Mayer in seinen rĂŒckblickenden Betrachtungen zur âEuthanasieâ ĂŒber die selbstgewĂ€hlte Rolle im âDritten Reichâ aus. Er lenkt vom Diktum des âwertlosen Lebensâ ab und ĂŒberblendet es mit dem Ethos der Barmherzigkeit: âZur BegrĂŒndung (des âEuthanasieâwunsches, M. W.) gab die Ărztin (= die Tochter der Krebskranken, M. W.) an, ich sei weithin bekannt als ,besonders humaner Arztâ und deswegen habe sie geglaubt, daĂ ich am ehesten bereit sei, ihrer unheilbaren Mutter ,Sterbehilfeâ zu leisten. Ich belehrte sie zunĂ€chst darĂŒber, daĂ nach meiner Auffassung die Aufgabe des ,humanen Arztesâ vor allem darin bestehe, ein vorhandenes Siechtum zu lindern, aber keinesfalls darin, die Kranken einfach umzubringen.â (Mayer [1966], S. 786)
Wenn Mitleidsmotive vorschiebbar sind, um Krankenmorde zu rechtfertigen (nicht: Erlösung der Kranken, sondern: Erlösung von Kranken), erweist sich das Konzept âHumanitĂ€tâ als zu labil, Ă€rztliches Handeln auf eine ethisch verbindliche Norm festzulegen, da sowohl synchron (koexistente Diskurse23) als auch diachron (kultureller, gesellschaftlicher, politischer Wandel) unterschiedliche Auffassungen ĂŒber das, was âhumanâ sei, konkurrieren bzw. einander ablösen. Mayer selbst fĂŒhrt das Beispiel an, in der Weimarer Republik hĂ€tten die âAbtreiberâ im âVolkâ als âdie ,humanenââ Ărzte gegolten (Stichwort: soziale Indikation) â und zieht sie aus seiner Perspektive als inhuman wegen âverminderter Ehrfurcht vor dem keimenden Lebenâ (Mayer [1965], S. 1294).24 Allenfalls die christliche Religion vermochte in unserem Kulturkreis das Humanum, indem sie es mit Glaubensgehalt auflud, begrifflich so zu stabilisieren, dass ihm etwas Zeitloses anhaftet. Eben diesen Effekt macht sich der Katholik Mayer in seiner RĂŒckschau zunutze, um Distanz zum Nationalsozialismus zu suggerieren, obwohl er in âDritten Reichâ noch âmit Recht an die Ă€rztliche Ethik besondere AnsprĂŒcheâ25 gestellt sah â und ihnen vielfach zu genĂŒgen bereit war.
Leitfragen zur Krebsmedizin im âDritten Reichâ
Der Exkurs zu August Mayer, der hiermit beendet sei, hat die eingangs geschilderte Episode (âTochter bestimmt krebskranke Mutter zum vorgezogenen Sterbenâ) auf individualpsychologischer Ebene transparenter gemacht und zur Quellenkritik befĂ€higt. Der Verfasser der vorgelegten Arbeit will Mayer jedoch als Kronzeugen fĂŒr âEuthanasieâ nicht ĂŒberstrapazieren. Zum einen gilt es, der âGefahr der Ăberbewertung von Einzelbelegenâ zu entgehen (Gerhard Baader in: Institut fĂŒr Zeitgeschichte [1988], S. 72), zum anderen ist an dieser Stelle der Untersuchung gar nicht beabsichtigt, Spekulationen ĂŒber Ă€rztliche Morde an Krebskranken im âDritten Reichâ auf ihren RealitĂ€tsgehalt abzuklopfen (darĂŒber Aufschluss gibt Kapitel 5 der vorgelegten Arbeit). Der initiale Fokus wird hier vielmehr auf die an Mayer ergangene âEinladung zur Euthanasieâ gerichtet, um zu fragen, welche geschichtlich-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einen derartigen Tabubruch ermöglichten, oder zutreffender: aufgrund welcher historischen GroĂwetterlage ein solches Ansinnen ohne die Empfindung, ein Tabu zu brechen, vorgetragen werden konnte. Es geht mit anderen Worten darum, die zur Rechtfertigung der âEuthanasieâ Krebskranker aufgebotenen zeitbedingten26 âArgumenteâ zu ermitteln27 und zu problematisieren, wovon deren (intellektuelle und moralische) Anerkennung abhing28. Auf diese Fragen zu antworten, setzt voraus, zusĂ€tzliche Fragen zu stellen, welche den Wechselbeziehungen von (Krebs)medizin, Politik und Gesellschaft im âDritten Reichâ gelten:
- Was beinhaltet die Formel vom âwertlosenâ (gelĂ€ufiger: âlebensunwertenâ) Leben? Wie wird im âDritten Reichâ ihre Anwendung auf Krebskranke gerechtfertigt, und wurden jene, die als âunheilbarâ galten, unter Missachtung des hippokratischen Eids29 tatsĂ€chlich umgebracht?
- Unter welchen Voraussetzungen wird seinerzeit bei Krebs die Prognose âunheilbarâ gestellt, und wie wird sie abgesichert?
- Ăber welche therapeutischen Optionen, krebskranke Patienten zu heilen bzw. behandeln, verfĂŒgen Ărzte zu Zeiten des âDritten Reichesâ ĂŒberhaupt?
- Welche Theorien ĂŒber Ătiologie und Pathogenese der Krebskrankheit konkurrieren im âDritten Reichâ miteinander, und in welchen therapeutischen Konzepten finden sie jeweils ihren Niederschlag? Wie unterscheiden sich diesbezĂŒglich Schulmediziner von nicht-approbierten Therapeuten (Heilpraktikern, Laienbehandlern)?
- Wie beeinflussen sich medizinische und auĂermedizinische Krebsdiskurse? Welchen Aufschluss gibt die nichtmedizinische Krebsmetaphorik ĂŒber das vorwissenschaftliche VerstĂ€ndnis der Krebskrankheit insbesondere des Nationalsozialismus (âNS-Krebskonzeptâ)? Und wie lĂ€sst sich mit Blick auf den Krebs die sogenannte NS-Medizin30 nĂ€her charakterisieren bzw. was rechtfertigt die Rede vom Nazi-Arzt?
Medizin und Kulturgeschichte
oder: Zur sozialen Konstruktion naturwissenschaftlicher Faktenâ
Mit den zuletzt aufgeworfenen Fragen stöĂt die vorgelegte Arbeit unmittelbar ins Zentrum ihrer Aufgabenstellung vor, verweilt nicht, wie man meinen könnte, an der Peripherie. Ohne der NS-Ideologie geltende Analysen ermangelten nĂ€mlich AusfĂŒhrungen zur Krebstherapie im âDritten R...