Praxis Krisenintervention
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Praxis Krisenintervention

Handbuch für helfende Berufe: Psychologen, Ärzte, Sozialpädagogen, Pflege- und Rettungskräfte

Wolf Ortiz-Müller, Stefan Gutwinski, Silke Birgitta Gahleitner, Wolf Ortiz-Müller, Stefan Gutwinski, Silke Birgitta Gahleitner

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  1. 286 pages
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Praxis Krisenintervention

Handbuch für helfende Berufe: Psychologen, Ärzte, Sozialpädagogen, Pflege- und Rettungskräfte

Wolf Ortiz-Müller, Stefan Gutwinski, Silke Birgitta Gahleitner, Wolf Ortiz-Müller, Stefan Gutwinski, Silke Birgitta Gahleitner

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About This Book

Practising crisis intervention & that short formulation sums up the purpose of this third edition. The 24 authors are based in practical work and have written for people involved in practical work in the field. All of them have many years= specialist experience, which they convey through well-founded approaches to the handling of crises. Case studies illustrate the procedures and make for stimulating reading. A wide range of professional groups is addressed, adapted to the many different settings involved & psychiatrists, psychologists, social workers and nurses in psychosocial care, as well as legal guardians and professionals in the fire, police and rescue services who deal with crises either daily or only occasionally. This is an indispensable reference work, especially for students, who can use it to quickly gain an overview of all the different fields in their future career choice.

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Information

Year
2021
ISBN
9783170355798
Edition
3

Teil II: Praxis – Mit den Nutzer*innen arbeiten

6 Freischwinger oder Wartebank? – Klient*innen zwischen Sozialpsychiatrischem Dienst und Krisendienst

Ilse Eichenbrenner und Detlev Gagel

Krisendienst und Sozialpsychiatrischer Dienst in Berlin unterscheiden sich nicht nur durch den Schwerpunkt ihrer Dienstzeiten, sondern auch durch Funktion und Angebot: Hier die empathische Beratung am Telefon oder in der freundlichen Sitzecke, dort das Warten im vollen Flur. Trotzdem haben viele Klient*innen, Angehörige und Nachbar*innen mit beiden Diensten zu tun. Die Kooperation zwischen Krisendienst und Sozialpsychiatrischem Dienst wird durch Datenschutz und Schweigepflicht eng begrenzt und bewegt sich auf einem schmalen Grat. Hilfreich ist hier die Entwicklung einer gemeinsamen Grundhaltung durch Vernetzung im Gemeindepsychiatrischen Verbund. Für die Weitergabe von Informationen und die Vermittlung an den jeweils anderen Dienst sind klare Regeln erforderlich.
Ratsuchende, die beide Dienste nutzen, können die Mitarbeiter*innen der Dienste gegeneinander ausspielen. Eine gemeinsame Kultur der Information und Reflektion kann diese Gefahr vermindern. Wie auch im Umgang mit unseren Klient*innen ist sowohl zu viel Abstand, als auch kumpelhafte Mauschelei schädlich: Beide Dienste sollten sich mit warmem Respekt begegnen und ergänzen.

6.1 Einführung

Als Sozialarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirks Charlottenburg hatte ich ab 1990 Gelegenheit, auch die Perspektive eines Krisendienstes kennenzulernen (Wienberg, 1993). Ausgehend von einer Initiative der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft war ein Psychiatrischer Notdienst aufgebaut worden, den ich zu koordinieren hatte. Mit je der Hälfte meiner Arbeitszeit war ich weiterhin mit den üblichen Betreuungsaufgaben im Sozialpsychiatrischen Dienst betraut, mit der anderen Hälfte war ich zuständig für die Organisation des Psychiatrischen Notdienstes, der unter Trägerschaft des Vereins Platane 19 e. V. stand. Die Dienstzeiten des Psychiatrischen Notdienstes wurden von ca. 30 Honorarkräften abgedeckt, die im Hauptberuf in unterschiedlichen Einrichtungen des Bezirks tätig waren. Nach jahrelangen Vorbereitungen konnte dann 1999 dieser Dienst in den Berliner Krisendienst übergehen, so dass damit meine Tätigkeit als Koordinatorin endete. Seither war ich wieder ausschließlich im Sozialpsychiatrischen Dienst tätig. Ich hatte also 9 Jahre lang Gelegenheit, die Kooperation der beiden Dienste quasi in Person zu verkörpern und beide Seiten kennenzulernen.

6.2 Das Arbeitsfeld

6.2.1 Der Sozialpsychiatrische Dienst

In allen deutschen Bundesländern sind Sozialpsychiatrische Dienste (SpDi) »zu den üblichen Bürozeiten« mit der Versorgung psychisch kranker Menschen beauftragt. Doch zwischen einem SpDi in Baden-Württemberg und einem SpDi in Berlin beispielsweise besteht ein riesiger Unterschied. Je nach Bundesland sind SpDi bei kommunalen oder freien Trägern angesiedelt; sie bieten selbst tagesstrukturierende Angebote oder Betreutes Wohnen an, oder organisieren diese Hilfen lediglich. Sie sind entweder nur für chronisch psychisch Kranke zuständig oder – wie in Berlin – für alle erwachsenen Menschen mit psychischen Störungen, also auch geistig Behinderte, Suchtkranke und Menschen mit altersbedingten Störungen. Fast immer sind die SpDi als einziger Dienstleister auch damit beauftragt, Menschen ungefragt, also auch ungebeten aufzusuchen. In den PsychKGs (Gesetze für Psychisch Kranke) bzw. den Unterbringungsgesetzen der einzelnen Länder ist festgelegt, ob die SpDi mit Hoheitsrechten beliehen, und somit auch zuständig für Zwangseinweisungen sind. In manchen Bundesländern ist dies Aufgabe der Ordnungsämter. Im Folgenden beziehe ich mich auf die SpDi Berlins, die in die Organisation und Verwaltung der 12 Bezirksämter fest eingebunden sind.

6.2.2 Klient*innen, Kund*innen, Nutzer*innen

Als Sozialarbeiterin bin ich für bestimmte Straßen zuständig; alle Anfragen und Meldungen, die aus diesem Gebiet eingehen, werden an mich weitergeleitet. In den Sprechstunden führe ich Beratungsgespräche mit den Klient*innen und deren Angehörigen aus meinem »Kiez«; häufig mache ich Hausbesuche, um vor allem bei älteren Menschen die notwendigen Hilfen zu organisieren.
Schätzungsweise ein Drittel aller Klient*innen der Berliner SpDi benötigen aufgrund ihres Alters Hilfe: Sie sind verwirrt, dement, depressiv. Wir vermitteln ambulante Hilfe, vor allem Hauspflege, und die entsprechende Finanzierung. Circa ein weiteres Drittel unserer Klient*innen leidet an einer Suchterkrankung, bzw. an ihren Folgen. Auch hier sind wir Sozialarbeiter*innen vor allem für materielle Hilfen zuständig, z. B. weil die Miete nicht gezahlt wurde und Wohnungsverlust droht, oder eine Reinigung und Entrümpelung organisiert und bezahlt werden muss. Menschen mit chronischen psychiatrischen Erkrankungen sind das »typische« Klientel des SpDi; für sie beteiligen wir uns an der Organisation des gemeindepsychiatrischen Verbunds, bestehend aus Hilfen im Bereich Wohnen, Tagesstruktur und Arbeit/Beschäftigung. Sie begleiten wir oft über viele Jahre, manchmal Jahrzehnte hinweg.
Neben den klassischen Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis begegnen wir immer häufiger Persönlichkeitsstörungen in ihren unterschiedlichen Varianten, und zunehmend jungen Menschen, die gerade erst volljährig geworden sind, und vor allem soziale Probleme haben. Wir Sozialarbeiter*innen beraten also erwachsene Menschen mit psychischen Störungen sowie deren Angehörige, Freunde und Nachbarn; wir vermitteln alle geeigneten Hilfen bzw. organisieren diese; innerhalb des Bezirksamtes sind wir der zuständige Sozialdienst für alle Erwachsenen, die psychisch gestört oder auffällig erscheinen. Deshalb werden viele Bürger*innen direkt vom Sozialamt zu uns geschickt, kommen als nicht unbedingt »aus freien Stücken«, sondern weil sie eine materielle Hilfe beantragt haben.

6.2.3 Der Alltag im Amt

Der SpDi arbeitet zu den üblichen Bürozeiten. In Berlin bedeutet dies zurzeit, dass der Dienst werktags von 8 Uhr – 16 Uhr präsent sein muss. In dieser Zeit ist ein Tagesdienst, der reihum abgedeckt wird, zuständig für die sogenannten »Meldungen«: Klient*innen sind akut auffällig, Nachbar*innen beschweren sich, Angehörige benötigen Hilfe. Der*die für die Straße zuständige Sozialarbeiter*in fährt – meist mit dem*der diensthabenden Ärzt*in – vor Ort. Gemeinsam wird abgeklärt, was zu tun ist. Häufig erwarten die Anrufer*innen die Durchführung einer Klinikeinweisung, notfalls auch gegen den Willen der Klient*innen. Nun wird genau geprüft: Ist der*die Klient*in bekannt? Gibt es eine Akte? Besteht eine rechtliche Betreuung, – wenn ja, für welche Wirkungskreise? Wie ist die Vorgeschichte? Jeder SpDi verfügt über einen riesigen Aktenfundus, der nach mehr oder weniger strengen Regeln zu führen ist. Über jeden Kontakt ist ein schriftlicher Vermerk zu fertigen, der vor allem zur Kontrolle, aber auch Absicherung der Mitarbeiter*innen dient: Folgte auf einen Anruf die notwendige Aktivität? Gab es Versäumnisse? Gleichzeitig verfügen die Sozialarbeiter*innen und Ärzt*innen in Form der Akten über weitgehende Informationen über viele psychisch kranke oder auch nur vorübergehend auffällige Menschen in ihrem Bezirk. Auch dieses Wissen hat zwei Aspekte: den negativen Beigeschmack vor allem für die Klient*innen, die sich vom Amt »abgestempelt« fühlen, aber auch die große Chance eines raschen Zugriffs auf notwendige Informationen, z. B. die Telefonnummern von Angehörigen oder Betreuer*innen, wichtige Vorzeichen existentieller Krisen aus der Vorgeschichte etc. Vor Ort entscheidet der*die Ärzt*in, ob die Voraussetzungen für eine Zwangseinweisung gemäß dem Berliner PsychKG vorliegen: akute Selbst- und Fremdgefährdung. Manchmal gelingt es, eine freiwillige Klinikaufnahme auszuhandeln, oder eine Alternative zu organisieren: den sofortigen Einsatz von Hauspflege, den Besuch von Angehörigen etc. Bei akuter Selbst- und Fremdgefährdung rufen wir in der Regel sofort einen Krankenwagen; juristisch möglich ist die Einweisung auch ohne Beteiligung der Polizei. Im Alltag bitten wir allerdings die Polizei sehr häufig um Amtshilfe.
Die hier beschriebene »Meldung«, das sofortige Aktivwerden des SpDi ist für viele Bürger*innen und Profis unsere wichtigste Funktion – sie prägt unser öffentliches Image. Tatsächlich wird die typische Meldung immer seltener, und die Kolleg*innen verbringen die Zeit mit der Auflistung der notwendigen Leistungskomplexe häuslicher Pflege, dem Abwimmeln drängender Nachbar*innen oder Hausverwaltungen und dem Beantworten mehr oder weniger sinnvoller Anfragen des Sozialamtes:
»Braucht die angeblich depressive Hausfrau (ärztliches Attest liegt bei) wirklich Teppichboden für ihre angeblich fußkalte Wohnung? Soll für Frau B. die beantragte Fußpflege übernommen werden? Kann dem minderbegabten und verhaltensauffälligen Peter Z. ausnahmsweise erlassen werden, die geforderten Nachweise von 30 Arbeitsbemühungen pro Monat beizubringen? Werden die folgenden Maßnahmen ärztlicherseits befürwortet: Drogenentzugstherapie für den in der Justizvollzugsanstalt einsitzenden Ali B? Sozialpädagogische Einzelfallhilfe, durchgeführt von einer Psychologin, für die geistig behinderte Manuela V.? Besuch der Tagesstätte für psychisch Kranke durch Heino X.? Der Werkstatt für Behinderte, der gerontopsychiatrischen Tagesstätte, der Entgiftung im Krankenhaus, da nicht krankenversichert? Ist die nicht pflegeversicherte Seniorin Karla Z. einem Pflegegrad zuzuordnen?« (Eichenbrenner, 2005, S. 117)
Mit diesem kleinen Einblick möchte ich nicht das Mitleid des Lesers für die erschöpften Mitarbeiter*innen des SpDi wecken (na gut, ein bisschen schon), sondern vor allem die Breite des Spektrums aufzeigen und Verständnis dafür wecken, dass die Sozialarbeiter*innen gut ausgelastet sind und nicht mal eben aus dem Stand einen langwierigen Hausbesuch einschieben können. Vor allem aber soll das Spannungsfeld deutlich werden: mit der linken Körperhälfte ist man empathische*r Zuhörer*in für Belastung und Leid, mit der rechten Prüfer*in, Entscheider*in und Sparkommissar*in des ausgedörrten öffentlichen Haushalts. Kein Wunder, dass viele Klient*innen sich gerne an eine neutrale, professionelle Instanz wenden und im Krisendienst anwaltliche Unterstützung suchen.
In der Fachliteratur wird dieses doppelte Mandat – Hilfe und Kontrolle – gerne die Janusköpfigkeit des SpDi genannt. Aber haben nicht auch Eltern zwei Gesichter? Sie gewähren und versagen, sie setzen Grenzen, sie sind fürsorglich, verständnisvoll und streng. Die Arbeit im SpDi verlangt von den Mitarbeiter*innen die beständige Reflektion ethischer und sozialer Normen; hier schaffen Supervision und Fortbildung Abhilfe, teilweise noch in zu geringem Umfang.

6.3 Die Zusammenarbeit der beiden Dienste: Freund*innen, Kolleg*innen, Kontrahent*innen?

6.3.1 »Bitte wenden Sie sich außerhalb dieser Zeiten an den Krisendienst!«

Ab 16 Uhr ist der Krisendienst zuständig. Damit beginnt nicht unser Feierabend, aber eine Zeit, in der wir Hausbesuche machen, oder ungestört unsere Aktenberge umwälzen. Bereits während unserer Dienstzeiten von 8 Uhr – 16 Uhr ist die Zentrale des Berliner Krisendienstes besetzt, und verweist bei Bedarf an die einzelnen SpDi. Während der gesamten Nacht, von 24 Uhr – 8 Uhr, steht dieser zentrale Dienst in Berlin-Mitte für Krisen und psychiatrische Notfälle zur Verfügung. Alle neun Standorte in den sechs Regionen, sind von 16 Uhr – 24 Uhr besetzt – dies ist unsere entscheidende Nahtstelle. Das »Weiterverweisen« an den Krisendienst ist für uns eine enorme Entlastung, und ermöglicht es uns, ein wenig abzuschalten, ins Wochenende zu gehen, oder auch mal jemanden wegzuschicken. In unserem Metier bleiben Fälle immer in der Schwebe, selten ist eine Betreuung oder Begleitung wirklich abgeschlossen. Wie oft können wir unzufriedene Anrufer*innen doch noch glücklich machen mit dem Verweis auf den Krisendienst und seine ungewöhnlichen Präsenzzeiten!

Fallbeispiel: Der*die zweite Expert*in

Im Tagesdienst, der heute besonders unruhig ist, werde ich von Frau S. angerufen. Ihre Tochter Manuela ist seit einigen Tagen völlig verändert. Die Schilderungen weisen darauf hin, dass Manuela im Rahmen einer Lebenskrise, vielleicht auch ausgelöst durch Drogenkonsum, erstmals psychotisch geworden ist. Sie ist ständig unterwegs, knüpft wahllos Kontakte, taucht nur ab und zu völlig konfus bei der Mutter auf. Ich höre kurz zu und weise sie dann auf die bestehenden Möglichkeiten hin: Besuch bei einem niedergelassenen Psychiater, Medikamenteneinnahme, stationäre Behandlung. Frau S. entgegnet, Manuela kenne das alles und lehne es ab – sie fühle sich super! Als ich die eingeschränkten Möglichkeiten für Zwangsmaßnahmen schildere, lacht Frau S. zunächst ungläubig, und s...

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