Teil II: Praxis â Mit den Nutzer*innen arbeiten
6 Freischwinger oder Wartebank? â Klient*innen zwischen Sozialpsychiatrischem Dienst und Krisendienst
Ilse Eichenbrenner und Detlev Gagel
Krisendienst und Sozialpsychiatrischer Dienst in Berlin unterscheiden sich nicht nur durch den Schwerpunkt ihrer Dienstzeiten, sondern auch durch Funktion und Angebot: Hier die empathische Beratung am Telefon oder in der freundlichen Sitzecke, dort das Warten im vollen Flur. Trotzdem haben viele Klient*innen, Angehörige und Nachbar*innen mit beiden Diensten zu tun. Die Kooperation zwischen Krisendienst und Sozialpsychiatrischem Dienst wird durch Datenschutz und Schweigepflicht eng begrenzt und bewegt sich auf einem schmalen Grat. Hilfreich ist hier die Entwicklung einer gemeinsamen Grundhaltung durch Vernetzung im Gemeindepsychiatrischen Verbund. FĂŒr die Weitergabe von Informationen und die Vermittlung an den jeweils anderen Dienst sind klare Regeln erforderlich.
Ratsuchende, die beide Dienste nutzen, können die Mitarbeiter*innen der Dienste gegeneinander ausspielen. Eine gemeinsame Kultur der Information und Reflektion kann diese Gefahr vermindern. Wie auch im Umgang mit unseren Klient*innen ist sowohl zu viel Abstand, als auch kumpelhafte Mauschelei schÀdlich: Beide Dienste sollten sich mit warmem Respekt begegnen und ergÀnzen.
6.1 EinfĂŒhrung
Als Sozialarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirks Charlottenburg hatte ich ab 1990 Gelegenheit, auch die Perspektive eines Krisendienstes kennenzulernen (Wienberg, 1993). Ausgehend von einer Initiative der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft war ein Psychiatrischer Notdienst aufgebaut worden, den ich zu koordinieren hatte. Mit je der HĂ€lfte meiner Arbeitszeit war ich weiterhin mit den ĂŒblichen Betreuungsaufgaben im Sozialpsychiatrischen Dienst betraut, mit der anderen HĂ€lfte war ich zustĂ€ndig fĂŒr die Organisation des Psychiatrischen Notdienstes, der unter TrĂ€gerschaft des Vereins Platane 19 e. V. stand. Die Dienstzeiten des Psychiatrischen Notdienstes wurden von ca. 30 HonorarkrĂ€ften abgedeckt, die im Hauptberuf in unterschiedlichen Einrichtungen des Bezirks tĂ€tig waren. Nach jahrelangen Vorbereitungen konnte dann 1999 dieser Dienst in den Berliner Krisendienst ĂŒbergehen, so dass damit meine TĂ€tigkeit als Koordinatorin endete. Seither war ich wieder ausschlieĂlich im Sozialpsychiatrischen Dienst tĂ€tig. Ich hatte also 9 Jahre lang Gelegenheit, die Kooperation der beiden Dienste quasi in Person zu verkörpern und beide Seiten kennenzulernen.
6.2 Das Arbeitsfeld
6.2.1 Der Sozialpsychiatrische Dienst
In allen deutschen BundeslĂ€ndern sind Sozialpsychiatrische Dienste (SpDi) »zu den ĂŒblichen BĂŒrozeiten« mit der Versorgung psychisch kranker Menschen beauftragt. Doch zwischen einem SpDi in Baden-WĂŒrttemberg und einem SpDi in Berlin beispielsweise besteht ein riesiger Unterschied. Je nach Bundesland sind SpDi bei kommunalen oder freien TrĂ€gern angesiedelt; sie bieten selbst tagesstrukturierende Angebote oder Betreutes Wohnen an, oder organisieren diese Hilfen lediglich. Sie sind entweder nur fĂŒr chronisch psychisch Kranke zustĂ€ndig oder â wie in Berlin â fĂŒr alle erwachsenen Menschen mit psychischen Störungen, also auch geistig Behinderte, Suchtkranke und Menschen mit altersbedingten Störungen. Fast immer sind die SpDi als einziger Dienstleister auch damit beauftragt, Menschen ungefragt, also auch ungebeten aufzusuchen. In den PsychKGs (Gesetze fĂŒr Psychisch Kranke) bzw. den Unterbringungsgesetzen der einzelnen LĂ€nder ist festgelegt, ob die SpDi mit Hoheitsrechten beliehen, und somit auch zustĂ€ndig fĂŒr Zwangseinweisungen sind. In manchen BundeslĂ€ndern ist dies Aufgabe der OrdnungsĂ€mter. Im Folgenden beziehe ich mich auf die SpDi Berlins, die in die Organisation und Verwaltung der 12 BezirksĂ€mter fest eingebunden sind.
6.2.2 Klient*innen, Kund*innen, Nutzer*innen
Als Sozialarbeiterin bin ich fĂŒr bestimmte StraĂen zustĂ€ndig; alle Anfragen und Meldungen, die aus diesem Gebiet eingehen, werden an mich weitergeleitet. In den Sprechstunden fĂŒhre ich BeratungsgesprĂ€che mit den Klient*innen und deren Angehörigen aus meinem »Kiez«; hĂ€ufig mache ich Hausbesuche, um vor allem bei Ă€lteren Menschen die notwendigen Hilfen zu organisieren.
SchĂ€tzungsweise ein Drittel aller Klient*innen der Berliner SpDi benötigen aufgrund ihres Alters Hilfe: Sie sind verwirrt, dement, depressiv. Wir vermitteln ambulante Hilfe, vor allem Hauspflege, und die entsprechende Finanzierung. Circa ein weiteres Drittel unserer Klient*innen leidet an einer Suchterkrankung, bzw. an ihren Folgen. Auch hier sind wir Sozialarbeiter*innen vor allem fĂŒr materielle Hilfen zustĂ€ndig, z. B. weil die Miete nicht gezahlt wurde und Wohnungsverlust droht, oder eine Reinigung und EntrĂŒmpelung organisiert und bezahlt werden muss. Menschen mit chronischen psychiatrischen Erkrankungen sind das »typische« Klientel des SpDi; fĂŒr sie beteiligen wir uns an der Organisation des gemeindepsychiatrischen Verbunds, bestehend aus Hilfen im Bereich Wohnen, Tagesstruktur und Arbeit/BeschĂ€ftigung. Sie begleiten wir oft ĂŒber viele Jahre, manchmal Jahrzehnte hinweg.
Neben den klassischen Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis begegnen wir immer hĂ€ufiger Persönlichkeitsstörungen in ihren unterschiedlichen Varianten, und zunehmend jungen Menschen, die gerade erst volljĂ€hrig geworden sind, und vor allem soziale Probleme haben. Wir Sozialarbeiter*innen beraten also erwachsene Menschen mit psychischen Störungen sowie deren Angehörige, Freunde und Nachbarn; wir vermitteln alle geeigneten Hilfen bzw. organisieren diese; innerhalb des Bezirksamtes sind wir der zustĂ€ndige Sozialdienst fĂŒr alle Erwachsenen, die psychisch gestört oder auffĂ€llig erscheinen. Deshalb werden viele BĂŒrger*innen direkt vom Sozialamt zu uns geschickt, kommen als nicht unbedingt »aus freien StĂŒcken«, sondern weil sie eine materielle Hilfe beantragt haben.
6.2.3 Der Alltag im Amt
Der SpDi arbeitet zu den ĂŒblichen BĂŒrozeiten. In Berlin bedeutet dies zurzeit, dass der Dienst werktags von 8 Uhr â 16 Uhr prĂ€sent sein muss. In dieser Zeit ist ein Tagesdienst, der reihum abgedeckt wird, zustĂ€ndig fĂŒr die sogenannten »Meldungen«: Klient*innen sind akut auffĂ€llig, Nachbar*innen beschweren sich, Angehörige benötigen Hilfe. Der*die fĂŒr die StraĂe zustĂ€ndige Sozialarbeiter*in fĂ€hrt â meist mit dem*der diensthabenden Ărzt*in â vor Ort. Gemeinsam wird abgeklĂ€rt, was zu tun ist. HĂ€ufig erwarten die Anrufer*innen die DurchfĂŒhrung einer Klinikeinweisung, notfalls auch gegen den Willen der Klient*innen. Nun wird genau geprĂŒft: Ist der*die Klient*in bekannt? Gibt es eine Akte? Besteht eine rechtliche Betreuung, â wenn ja, fĂŒr welche Wirkungskreise? Wie ist die Vorgeschichte? Jeder SpDi verfĂŒgt ĂŒber einen riesigen Aktenfundus, der nach mehr oder weniger strengen Regeln zu fĂŒhren ist. Ăber jeden Kontakt ist ein schriftlicher Vermerk zu fertigen, der vor allem zur Kontrolle, aber auch Absicherung der Mitarbeiter*innen dient: Folgte auf einen Anruf die notwendige AktivitĂ€t? Gab es VersĂ€umnisse? Gleichzeitig verfĂŒgen die Sozialarbeiter*innen und Ărzt*innen in Form der Akten ĂŒber weitgehende Informationen ĂŒber viele psychisch kranke oder auch nur vorĂŒbergehend auffĂ€llige Menschen in ihrem Bezirk. Auch dieses Wissen hat zwei Aspekte: den negativen Beigeschmack vor allem fĂŒr die Klient*innen, die sich vom Amt »abgestempelt« fĂŒhlen, aber auch die groĂe Chance eines raschen Zugriffs auf notwendige Informationen, z. B. die Telefonnummern von Angehörigen oder Betreuer*innen, wichtige Vorzeichen existentieller Krisen aus der Vorgeschichte etc. Vor Ort entscheidet der*die Ărzt*in, ob die Voraussetzungen fĂŒr eine Zwangseinweisung gemÀà dem Berliner PsychKG vorliegen: akute Selbst- und FremdgefĂ€hrdung. Manchmal gelingt es, eine freiwillige Klinikaufnahme auszuhandeln, oder eine Alternative zu organisieren: den sofortigen Einsatz von Hauspflege, den Besuch von Angehörigen etc. Bei akuter Selbst- und FremdgefĂ€hrdung rufen wir in der Regel sofort einen Krankenwagen; juristisch möglich ist die Einweisung auch ohne Beteiligung der Polizei. Im Alltag bitten wir allerdings die Polizei sehr hĂ€ufig um Amtshilfe.
Die hier beschriebene »Meldung«, das sofortige Aktivwerden des SpDi ist fĂŒr viele BĂŒrger*innen und Profis unsere wichtigste Funktion â sie prĂ€gt unser öffentliches Image. TatsĂ€chlich wird die typische Meldung immer seltener, und die Kolleg*innen verbringen die Zeit mit der Auflistung der notwendigen Leistungskomplexe hĂ€uslicher Pflege, dem Abwimmeln drĂ€ngender Nachbar*innen oder Hausverwaltungen und dem Beantworten mehr oder weniger sinnvoller Anfragen des Sozialamtes:
»Braucht die angeblich depressive Hausfrau (Ă€rztliches Attest liegt bei) wirklich Teppichboden fĂŒr ihre angeblich fuĂkalte Wohnung? Soll fĂŒr Frau B. die beantragte FuĂpflege ĂŒbernommen werden? Kann dem minderbegabten und verhaltensauffĂ€lligen Peter Z. ausnahmsweise erlassen werden, die geforderten Nachweise von 30 ArbeitsbemĂŒhungen pro Monat beizubringen? Werden die folgenden MaĂnahmen Ă€rztlicherseits befĂŒrwortet: Drogenentzugstherapie fĂŒr den in der Justizvollzugsanstalt einsitzenden Ali B? SozialpĂ€dagogische Einzelfallhilfe, durchgefĂŒhrt von einer Psychologin, fĂŒr die geistig behinderte Manuela V.? Besuch der TagesstĂ€tte fĂŒr psychisch Kranke durch Heino X.? Der Werkstatt fĂŒr Behinderte, der gerontopsychiatrischen TagesstĂ€tte, der Entgiftung im Krankenhaus, da nicht krankenversichert? Ist die nicht pflegeversicherte Seniorin Karla Z. einem Pflegegrad zuzuordnen?« (Eichenbrenner, 2005, S. 117)
Mit diesem kleinen Einblick möchte ich nicht das Mitleid des Lesers fĂŒr die erschöpften Mitarbeiter*innen des SpDi wecken (na gut, ein bisschen schon), sondern vor allem die Breite des Spektrums aufzeigen und VerstĂ€ndnis dafĂŒr wecken, dass die Sozialarbeiter*innen gut ausgelastet sind und nicht mal eben aus dem Stand einen langwierigen Hausbesuch einschieben können. Vor allem aber soll das Spannungsfeld deutlich werden: mit der linken KörperhĂ€lfte ist man empathische*r Zuhörer*in fĂŒr Belastung und Leid, mit der rechten PrĂŒfer*in, Entscheider*in und Sparkommissar*in des ausgedörrten öffentlichen Haushalts. Kein Wunder, dass viele Klient*innen sich gerne an eine neutrale, professionelle Instanz wenden und im Krisendienst anwaltliche UnterstĂŒtzung suchen.
In der Fachliteratur wird dieses doppelte Mandat â Hilfe und Kontrolle â gerne die Janusköpfigkeit des SpDi genannt. Aber haben nicht auch Eltern zwei Gesichter? Sie gewĂ€hren und versagen, sie setzen Grenzen, sie sind fĂŒrsorglich, verstĂ€ndnisvoll und streng. Die Arbeit im SpDi verlangt von den Mitarbeiter*innen die bestĂ€ndige Reflektion ethischer und sozialer Normen; hier schaffen Supervision und Fortbildung Abhilfe, teilweise noch in zu geringem Umfang.
6.3 Die Zusammenarbeit der beiden Dienste: Freund*innen, Kolleg*innen, Kontrahent*innen?
6.3.1 »Bitte wenden Sie sich auĂerhalb dieser Zeiten an den Krisendienst!«
Ab 16 Uhr ist der Krisendienst zustĂ€ndig. Damit beginnt nicht unser Feierabend, aber eine Zeit, in der wir Hausbesuche machen, oder ungestört unsere Aktenberge umwĂ€lzen. Bereits wĂ€hrend unserer Dienstzeiten von 8 Uhr â 16 Uhr ist die Zentrale des Berliner Krisendienstes besetzt, und verweist bei Bedarf an die einzelnen SpDi. WĂ€hrend der gesamten Nacht, von 24 Uhr â 8 Uhr, steht dieser zentrale Dienst in Berlin-Mitte fĂŒr Krisen und psychiatrische NotfĂ€lle zur VerfĂŒgung. Alle neun Standorte in den sechs Regionen, sind von 16 Uhr â 24 Uhr besetzt â dies ist unsere entscheidende Nahtstelle. Das »Weiterverweisen« an den Krisendienst ist fĂŒr uns eine enorme Entlastung, und ermöglicht es uns, ein wenig abzuschalten, ins Wochenende zu gehen, oder auch mal jemanden wegzuschicken. In unserem Metier bleiben FĂ€lle immer in der Schwebe, selten ist eine Betreuung oder Begleitung wirklich abgeschlossen. Wie oft können wir unzufriedene Anrufer*innen doch noch glĂŒcklich machen mit dem Verweis auf den Krisendienst und seine ungewöhnlichen PrĂ€senzzeiten!
Fallbeispiel: Der*die zweite Expert*in
Im Tagesdienst, der heute besonders unruhig ist, werde ich von Frau S. angerufen. Ihre Tochter Manuela ist seit einigen Tagen völlig verĂ€ndert. Die Schilderungen weisen darauf hin, dass Manuela im Rahmen einer Lebenskrise, vielleicht auch ausgelöst durch Drogenkonsum, erstmals psychotisch geworden ist. Sie ist stĂ€ndig unterwegs, knĂŒpft wahllos Kontakte, taucht nur ab und zu völlig konfus bei der Mutter auf. Ich höre kurz zu und weise sie dann auf die bestehenden Möglichkeiten hin: Besuch bei einem niedergelassenen Psychiater, Medikamenteneinnahme, stationĂ€re Behandlung. Frau S. entgegnet, Manuela kenne das alles und lehne es ab â sie fĂŒhle sich super! Als ich die eingeschrĂ€nkten Möglichkeiten fĂŒr ZwangsmaĂnahmen schildere, lacht Frau S. zunĂ€chst unglĂ€ubig, und s...