Der Umschlag von allem in nichts
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Der Umschlag von allem in nichts

Theorie tragischer Erfahrung

Asmus Trautsch

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Der Umschlag von allem in nichts

Theorie tragischer Erfahrung

Asmus Trautsch

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Information

Publisher
De Gruyter
Year
2020
ISBN
9783110550801

1 Globale Karriere einer Ausnahme: die Entgrenzung des Tragödienbegriffs und das moderne Interesse an der antiken Form

„Unlust und Lust sind auch in Klagegedichten und Tragödien gemischt, nicht denen auf der BĂŒhne nur, sondern auch in der gesamten Tragödie und Komödie des Lebens“.1
„Before we were introduced to Antigone's story, we felt alone. [
] Then we realised these tragedies keep happening throughout history and it gave us the courage to speak out. Together we feel stronger and more confident.“2

1.1 Kulturelle, mediale und pragmatische Entgrenzung eines griechischen Begriffs

Griechische Tragödien wurden seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. fĂŒr zunĂ€chst einmalige AuffĂŒhrungen bei öffentlichen Festspielen in Athen geschrieben und inszeniert. Seit der BlĂŒtezeit der klassischen Tragödie im 5. Jahrhundert v. Chr. ist der Begriff der Tragödie in mindestens drei Dimensionen vom spezifischen rituellen AuffĂŒhrungskontext im Theater entgrenzt worden.
Zum einen liegt eine geographisch-kulturelle Entgrenzung vor: Griechische Tragödien werden mittlerweile auf BĂŒhnen weltweit inszeniert, nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika, in Nord-, Mittel- und SĂŒdamerika, Asien und Ozeanien.3 Historisch hat zum einen der europĂ€ische Kolonialismus zur Verbreitung der als paneuropĂ€isch und ĂŒberlegen apostrophierten Kunstform in Mittel- und SĂŒdamerika, Afrika und Asien beigetragen.4 In postkolonialer Perspektive hat indessen lĂ€ngst – meist einhergehend mit der UnabhĂ€ngigkeit der ehemaligen Kolonien – eine eigenstĂ€ndige Aneignung und Transformation dieser Kunstform in den einst weitgehend von europĂ€ischen MĂ€chten beherrschten Kontinenten begonnen, und sowohl Übersetzungen und literarische Adaptionen als auch theatrale Inszenierungen eröffnen eine jeweils eigene Perspektive auf die griechische Tragödie in den nicht-europĂ€ischen Regionen. Entsprechend wird auch in der neueren Inszenierungs- und Bearbeitungsgeschichte in Europa kein paneuropĂ€isch-klassizistisches Erbe mehr beschworen, sondern die Fremdheit und Archaik der antiken Tragödie gegenĂŒber der eigenen Gegenwart hervorgehoben. Nicht ein Ideal historischer AuffĂŒhrungspraxis, wie sie etwa die Potsdamer Antigone-AuffĂŒhrung von 1841 im Geist des Historismus trotz nur (und bis heute) lĂŒckenhafter Kenntnis der antiken AuffĂŒhrungsbedingungen auszeichnete,5 oder die Optik des bĂŒrgerlichen Theaters der Neuzeit sind dabei maßgeblich, sondern Regisseurinnen und Regisseure setzen sich individuell mit dem Erbe der Tragödie auseinander. Dabei verhandeln die AuffĂŒhrungen, Adaptionen und Reflexionen antiker StĂŒcke aktuelle Themen, die im SelbstverstĂ€ndigungsprozess gegenwĂ€rtiger Gesellschaften eine zentrale Rolle spielen – insbesondere politische, soziale, ökonomische, kulturelle, geschlechtliche und symbolische Machtrelationen, UnterdrĂŒckung und BefreiungskĂ€mpfe, Krieg, Vertreibung, Flucht, Fremdheitserfahrungen und strukturelle Wert- und IdentitĂ€tskonflikte zwischen sozialen Gruppen oder Institutionen und Einzelnen oder Familien und zwischen positivem Recht und individueller Selbstbestimmung.6 Wie die Rezeption, Aneignung und Transformation der griechischen Tragödie seit den 1960er Jahren vor Augen fĂŒhrt, haben die an die Festspiele in Athen und an Theaterbauten, Sprachform, Masken und KostĂŒme gebundenen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides „nearly all boundaries, created by time, space, and cultural tradition“ 7, ĂŒberschritten, als sei der bei den Griechen ĂŒberall erscheinende und alle Grenzen außer Kraft setzende Gott Dionysos tatsĂ€chlich ihr weltweit aktiver Patron. Die griechische Tragödie, deren Inszenierungen in Kamerun wie China, den Philippinen wie Kanada, Mexiko wie Jordanien, SĂŒdafrika wie der TĂŒrkei aktuelle Probleme verhandeln und ihre Zuschauerinnen und Zuschauer bewegen, ist so zu einer universell wirksamen, auf die jeweilige historisch und sozial besondere Situation bezugsoffenen Kunstform geworden. Diese transkulturelle ProduktivitĂ€t der antiken Tragödie, deren UniversalitĂ€t gegen ihre ehemals kolonialistische Vereinnahmung und rassistische Ideologien der Überlegenheit der europĂ€ischen ‚Rasse‘ und Kultur erstritten worden ist, ermöglicht ihr, Resonanzen, BrĂŒche und verfremdende Spiegelungen zwischen den antiken und gegenwĂ€rtigen Erfahrungen zu verhandeln. Die Kunstform der zerreißenden Konflikte ist somit zu einem „globalem Medium“8 transkulturell verbindender Reflexion geworden.
Die zweite moderne Entgrenzung des Tragödienbegriffs ist eine formal-mediale: Der gegenwĂ€rtigen „Explosion“9 der AuffĂŒhrung griechischer Tragödien nicht nur in Europa geht ihre schon lĂ€nger sich vollziehende Transgression ĂŒber die Grenzen der theatralen Kunstform voraus. Die Stoffe und Formen der antiken Tragödie sind seit der Antike auch in anderen literarischen Genres sowie in neuen Kunstformen wie der Oper oder dem Film fort- und umgeschrieben worden. Das Attribut ‚tragisch‘ wurde nach der Antike nicht mehr auf die theatrale Tragödie begrenzt. Diese seit 1800 zunehmende formale und mediale Erweiterung des Tragödienbegriffs ist in der antiken Geschichte der Gattung selbst vorgeprĂ€gt. Denn sie verĂ€ndert sich formal – etwa in der Rolle des Chors – bereits innerhalb der klassischen Zeit zwischen dem frĂŒhen Aischylos und dem spĂ€ten Euripides und gewinnt in der römischen Tragödie eine neue Gestalt.10 Diese Transformationsgeschichte setzt sich nicht erst in der Neuzeit fort, etwa in der Auflösung des Chores in die Form bei William Shakespeare,11 sondern bereits im Mittelalter, das Tragödien, an eine römische Tradition seit Vergil und Ovid anschließend, vor allem in Form von tragischen Geschichten kannte.12 Die Tragödie des elisabethanischen Zeitalters, der französischen Klassik ebenso wie das bĂŒrgerliche Trauerspiel in Deutschland verĂ€nderten die antike Form weiter, sodass die neueren Gattungen, etwa wegen der nun marginalisierten oder getilgten Rolle des Chors, poetologisch von der griechischen Tragödie unterschieden wurden, von der und ihrer Poetik bei Aristoteles sich im Querelle des Anciens et des Modernes die Modernen bewusst abgrenzten.13 Erst im 19. Jahrhundert wandert die Tragödie als bestimmende Kraft auch in andere literarische Gattungen wie die Lyrik oder in wissenschaftliche Disziplinen, insbesondere die Philosophie ein, die sich, vor allem bei Nietzsche, selbst als tragisch versteht.14 Die Oper war bereits wĂ€hrend ihrer Erfindung in der Renaissance von der Florentiner Camerata als Fortsetzung der antiken Tragödie begriffen worden und nahm seitdem immer wieder tragische Mythen der Antike auf;15 doch erst im 19. Jahrhundert gewannen in der bĂŒrgerlichen Oper die tragischen Stoffe eine das VerstĂ€ndnis der Gattung bis heute prĂ€gende Rolle.16 Zudem galt die griechische Tragödie Richard Wagner und Friedrich Nietzsche als Vorbild fĂŒr die Konzeption des Musikdramas als neuem Gesamtkunstwerk.17 DarĂŒber hinaus wurde ab 1800 selbst reine Instrumentalmusik von Komponisten als ‚tragisch‘ ausgewiesen.18 Im 20. Jahrhundert öffnete sich dann das neue Medium des Films, das Narration, theatrales Darstellen, Musik und Sprache verbindet, fĂŒr tragische Stoffe im Allgemeinen und Adaptionen griechischer Tragödien im Besonderen. Bis heute ist das Kino ein höchst produktives Medium fĂŒr die Tragödie geblieben – nicht zuletzt in Griechenland selbst.19
Die dritte Dimension der Entgrenzung betrifft den Wortgebrauch: Die Verwendung der Wörter, mit denen die Griechen ihre wichtigste dramatische Form bezeichneten, hat sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in den europĂ€ischen Sprachen nicht nur von der Form des Theaters, sondern ĂŒberhaupt von Formen kĂŒnstlerischer Darstellung gelöst. Als Substantiv („Tragödie“) sowie als Adjektiv bzw. Adverb („tragisch“ oder „tragödienartig“) sind die poetischen Wörter in den Wortschatz der Sprachen der Welt gewandert und werden mittlerweile wie selbstverstĂ€ndlich im öffentlichen Diskurs verwendet, wenn es um die Interpretation unerwarteter und seltener fataler ZusammenhĂ€nge geht, in denen Menschen – unabhĂ€ngig von ihrem sozialen Status – ernsthaft zu Schaden kommen, ohne dass dieser sich ihnen allein als Strafe fĂŒr ein schuldhaftes Vergehen zurechnen ließe. Zugleich sind auch in diesem unspezifischen Wortgebrauch, wie er in den Medien zu beobachten ist, ‚Tragödien‘ oft mit Verantwortung oder Schuld von Menschen verbunden, sei es derjenigen, die zu Schaden gekommen sind, oder derjenigen, die sie zu Schaden kommen ließen – doch auch völlig schuldloses Zu-Schaden-Kommen wird als ‚Tragödie‘ tituliert.20 In den Medien werden die Worte auch rhetorisch eingesetzt, um das meist unerwartete negative Geschehen auf die Opfer hin zu fokussieren und Anteilnahme zu erzeugen. Ob es um die bei einem GrubenunglĂŒck in China verschĂŒtteten Kumpel, die bei einem Flugzeugabsturz in Kolumbien umgekommenen Passagiere, um einen tödlichen Streit in einer dĂ€nischen Familie, den sehr hohen Anteil an Aborigines in australischen GefĂ€ngnissen, den tödlichen Angriff auf ein islamisches Kulturzentrum in Kanada oder die Rekrutierung und Abrichtung von Kindersoldaten im Kongo geht – die Begriffe ‚Tragödie‘ und ‚tragisch‘ werden wie semantisch evidente Vokabeln in der medialen Berichterstattung und dem lebensweltlichen Sprachgebrauch gebraucht, um ein Extrem an nicht oder nicht gĂ€nzlich verschuldetem Schrecken, Leid und UnglĂŒck zu bezeichnen – gerade wenn es um grĂ¶ĂŸere historische ZusammenhĂ€nge wie Kriege geht. Das gilt nicht nur fĂŒr den Journalismus, sondern auch fĂŒr die Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften.21 Zudem werden individuelle Lebens- oder Familiengeschichten oft nach dem Modell von Aufstieg und Fall als Tragödien bezeichnet, 22 was auch in zunehmender Trivialisierung auf Institutionen und Dinge ĂŒbertragen wird.23
Dieser entgrenzte Wortgebrauch in den Medien und öffentlichen Diskursen, der „Tragik als Eigenschaft sozialer PhĂ€nomene, als Teil des individuellen und kollektiven Lebens“24 betrachtet, ist nicht nur fĂŒr die im Zuge des modernen Kolonialismus weltweit verbreiteten indoeuropĂ€ischen Sprachen, zu deren Lexik die griechischen Worte bereits seit dem Mittelalter gehörten, sondern auch fĂŒr Sprachen, die die Begriffe der ‚Tragödie‘ oder der ‚Tragik‘ nicht aufgrund kolonialer Besatzung in ihr Vokabular und ihre öffentlichen Diskurse integriert haben.25
Mittlerweile muss man aufgrund der globalen medialen PrĂ€senz der Begriffe ‚Tragödie‘ und ‚Tragik‘ davon ausgehen, dass sich in den meisten Kulturen eine gewisse, wenn auch sehr rudimentĂ€re Standardvorstellung von dem durchgesetzt hat, was Tragödien und tragische Ereignisse sind. Die unterstellte UniversalitĂ€t tragischer Katastrophen beruht dabei weniger auf einer genaueren Kenntnis der antiken oder neuzeitlichen Tragiker – wenngleich deren Popularisierung auch den lebensweltlichen Sprachgebrauch zu befördern scheint – als offenbar auf der UniversalitĂ€t des Schreckens und der menschlichen LeidensfĂ€higkeit, die den allgemeinen Gebrauch der altgriechischen Begriffe, so divers die Ereignisse auch sind, zu rechtfertigen scheinen.
Dieser Sachverhalt ist keineswegs selbstverstĂ€ndlich, zumal die Griechen des 5. Jahrhunderts v. Chr., in dem sich die Tragödie zu ihrer bis heute maßgeblichen Gestalt in Athen entwickelte, diese Karriere der Begriffe gewiss nicht im Sinn gehabt hatten.26 Tragödien waren eine lokal aus dem Kult zu Ehren des Gotts Dionysos entstandene dramatisch-theatrale Form, die von tragischen Dichtern verfasst und von BĂŒrgern gemeinsam an kultisch organisierten Festspielen in Athen und spĂ€ter auch an anderen Orten in Griechenland aufgefĂŒhrt wurden. Wer heute davon spricht, dass etwas tragisch sei, denkt dagegen selten an das Theater und sicher kaum an Dionysos, an in Verse gebundene Rede, die Rolle des Chors oder ein Spiel mit Masken.
Hat das, was heute unter dem Stichwort ‚Tragödie‘ firmiert, ĂŒberhaupt noch in einem signifikanten Sinne etwas mit der antiken Herkunft des Begriffs zu tun? Die in diesem Buch leitende Überzeugung geht davon aus, dass in allen Wandlungen und Entgrenzungen des Begriffs einige zentrale Elemente, die eine FamilienĂ€hnlichkeit der Begriffe durch die Geschichte ihrer Wandlungen und kreativen Neubestimmungen begrĂŒnden, der antiken Tragödie entstammen, in der sie zum ersten Mal und in einer bis heute maßgeblichen Weise wirksam geworden sind. Ein Indikator dafĂŒr ist, dass sich die Tragödie als literarische Genrekategorie global als lebensweltlicher Begriff durchsetzen konnte und in der Regel nicht durch semantisch verwandte Vokabeln ausgetauscht wird. Die Tragödie hat keine Synonyme.27

1.2 Das verlorene und neuerdings wiedergewonnene Interesse an der Tragödie

Vor einiger Zeit schien sich ein philosophisches oder kulturwissenschaftliches Interesse an der Tragödie noch erklĂ€ren zu mĂŒssen. Offenbar wirkte die Tragödie so unmodern und unzeitgemĂ€ĂŸ, dass eine BeschĂ€ftigung außerhalb der fĂŒr sie zustĂ€ndigen Altphilologie extra zu rechtfertigen war oder selbstbewusst betont werden musste.28 Heute ist die Betonung des UnzeitgemĂ€ĂŸen selbst zu einem koketten Topos geworden, der angesichts der neueren FĂŒlle an Literatur anachronistisch wirkt.29
Auch in der Philosophie ist das Thema in den letzten Dekaden populÀrer geworden, wenngleich es keinen zusammenhÀngenden Diskurs d...

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