1.1Einheitlichkeit und Disparatheit
Die vorliegende Untersuchung widmet sich den philosophiehistorischen PrÀmissen und der Genese der Existenzphilosophie, wobei SÞren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche als ihre Initialfiguren exponiert werden sollen. Dabei handelt es sich nicht um ein rein philosophiegeschichtliches Interesse, vielmehr trÀgt die Analyse der Entstehung einer philosophischen Strömung zu einer Verdeutlichung ihrer Konturen und Inhalte bei. Eine solche PrÀzisierung scheint mit Blick auf die Existenzphilosophie besonders geboten.
Die Existenzphilosophie bzw. der Existenzialismus2 bildet keine homogene, klar umrissene und von anderen Strömungen abgegrenzte philosophische Traditionslinie. So verurteilt schon Jean-Paul Sartre selbst den Versuch, den Existenzialismus zu definieren, zum Scheitern: âIch spreche nicht gern ĂŒber den Existenzialismus, denn es gehört ja gerade zum Wesen eines philosophischen BemĂŒhens, daĂ es sich einer genauen Bestimmung entzieht. Es benennen oder definieren wollen, hieĂe, es zum Stagnieren bringen.â3 Hinter dieser Aussage verbirgt sich bereits ein bestimmtes VerstĂ€ndnis von Philosophie, das richtungsweisend fĂŒr diese Strömung ist und zumindest der Auffassung von Philosophie als reiner Begriffsanalyse und Begriffsbestimmung entgegensteht. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Existenzphilosophie als Produkt einer nur unklar umrissenen Gruppe von Philosophen und Literaten, die sich selbst mehrheitlich von der Typisierung âExistenzphilosophâ distanzieren. FĂŒr Walter Kaufmann ist der Existenzialismus sogar sicherlich ânot a school of thought nor reducible to any set of tenets.â4 So stellt auch Franz Zimmermann in seiner EinfĂŒhrung in die Existenzphilosophie gleich zu Beginn klar, so etwas wie die Existenzphilosophie gebe es nicht, verstehe man darunter ein Denken, âdas an eine bestimmte Methode gebunden ist und einen durch sie explizierbaren, einheitlichen Gegenstand besitzt.â5 Und â um ein weiteres Beispiel anzufĂŒhren â Jacques Colette stellt die Einleitung seines Buches zum Existenzialismus unter die Ăberschrift: âLÊŒexistentialisme nÊŒest pas une doctrineâ.6 Um den Unterschied zu einer Schulphilosophie deutlich zu markieren, ist auch die Rede vom Existenzialismus als einer philosophischen Haltung7 bzw. einem geistesgeschichtlichen Klima. Die Existenzphilosophie wird demnach zuweilen explizit nicht als eine Schulphilosophie verstanden, da durch sie gerade die Unmöglichkeit einer solchen Art zu philosophieren offenbar wurde.8
Dennoch ist eine Vielzahl an Werken zur Existenzphilosophie erschienen, in denen zumindest Namen wie Kierkegaard, Jaspers, Heidegger, Sartre, de Beauvoir und Camus nahezu immer als Konstanten in der Diskussion erscheinen. Es hat mitunter den Anschein, als sei es leichter, fĂŒr die Existenzphilosophie relevante Denker zu nennen, anstatt eine einzelne These dezidiert dieser Strömung zuzuordnen.9 Aus systematischer Sicht erschwert dies eine Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie ungemein, da wir eher mit diversen Existenzphilosophinnen und -philosophen konfrontiert sind als mit einer einheitlichen Denktradition.10 Als ein gemeinsames Moment wird zwar stets der Bezug zu Kierkegaard â gemeinhin als âVaterâ der Existenzphilosophie apostrophiert â und zu seinem VerstĂ€ndnis von Existenz angefĂŒhrt. Nicht selten erfolgt dabei jedoch eine einseitige Festlegung auf Kierkegaard als die historische Referenzfigur, wobei jemand wie Nietzsche, der in dieser Arbeit einen zentralen Status einnehmen wird, oft nur am Rande ErwĂ€hnung findet.
Ein vollstĂ€ndiger Katalog mit essentiellen Charakteristika der Existenzphilosophie ist ebenso schwerlich anzulegen, das zeigt sich bereits an der Unterschiedlichkeit und Disparatheit der Versuche solcher Auflistungen in diversen Ăberblicksdarstellungen. FĂŒr manche Interpreten ist dieser Tatbestand keineswegs ĂŒberraschend, da zum Beispiel nach Robert C. Solomon dem Existenzialismus nichts ferner liege als Versuche, ihn zu definieren. Allerhöchstens könne lediglich wiederum ĂŒber ebendiese Versuche debattiert werden.11 Schauen wir uns zunĂ€chst exemplarisch einige einschlĂ€gige Definitions- und Konturierungsversuche aus der Forschungsliteratur an.
Das Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie kristallisiert so vier SĂ€ulen heraus, die allen existenzphilosophischen AnsĂ€tzen gemeinsam seien: Es werden Kierkegaard als gemeinsame Referenzfigur, die Konzentration auf den von ihm definierten Begriff der Existenz, die Abwendung von der traditionellen Metaphysik im Sinne der Wesensphilosophie â hier wird auch hĂ€ufig von der Existenzphilosophie als einem postmetaphysischen Denken gesprochen12 â und die Fokussierung auf das Individuum, den Einzelnen, aufgelistet.13 Auf diese Weise wird zwar grob umrissen, wo sich existenzphilosophisches Denken situieren lĂ€sst, letztlich bleibt eine solche Typisierung jedoch aufgrund ihrer Allgemeinheit recht vage und ist nicht einschlĂ€gig sowie trennscharf genug.
Dem Ansatz, die Existenzphilosophie ĂŒber ein Spektrum von Topoi und Anliegen zu charakterisieren, folgen zahlreiche Interpreten. Kevin Aho stellt so in seinem Buch Existentialism. An Introduction immerhin sieben gemeinsame Motive heraus, die es erlauben sollen, einige Denker ausgehend von ihrer gemeinsamen Sorge âfor the human situation as it is livedâ,14 die nicht durch ein abstraktes System erschlossen werden könne, unter die Ăberschrift ,Existenzialismusâ zu subsumieren. Genannt werden: â,Existence precedes Essenceâ, ,The Self as a Tensionâ, ,The Anguish of Freedomâ, ,The Insiderâs Perspectiveâ, ,Moods as Disclosiveâ, ,The Possibility for Authenticityâ, ,Ethics and Responsibilityâ.â15
Die Herausgeber des Continuum Companion to Existentialism wiederum, um ein weiteres Beispiel zu nennen, verzeichnen gleich acht âmajor overlapping thematic concernsâ16 und versuchen, den Existenzialismus unter Rekurs auf Wittgensteins Konzept der FamilienĂ€hnlichkeit zu explizieren. ResĂŒmierend lassen sich jene acht Motive wie folgt aufzĂ€hlen: die Fokussierung auf das konkrete Erleben in Abgrenzung zur akademischen Abstraktion; Freiheit; Tod, Endlichkeit und Sterblichkeit; ein Interesse an den Erfahrungen und Stimmungen der ersten Person; die Betonung der Verantwortung und AuthentizitĂ€t; die These, dass der Einzelne in der Menge untergeht bzw. verschwindet; die ZurĂŒckweisung jeglicher externen BegrĂŒndungen von Moral oder Werten; der Bezug zur PhĂ€nomenologie.17
Ebenso stĂŒtzt Thomas R. Flynn sich auf das Prinzip der FamilienĂ€hnlichkeit und rekonstruiert davon ausgehend folgende fĂŒnf Zentralthemen des Existenzialismus: Primat der Existenz vor der Essenz, Zeit, Humanismus, Freiheit und Verantwortung sowie eine Konzentration auf ethische Fragestellungen.18
Markus Wild bezeichnet seinerseits das Interagieren und Zusammenkommen von Philosophie, Literatur, Engagement und Existenz, welches er als âexistenzialistisches Quartettâ19 typisiert, als charakteristisch fĂŒr die Existenzphilosophie.
In einer Studie aus den 1990er Jahren gruppiert Thomas Seibert unterschiedliche Denker der Existenz (u.a. Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Sartre, Foucault) unter die gemeinsamen Motive Geschichtlichkeit, Nihilismus und Autonomie. Die Disparatheit wird auch dort deutlich und durch den im Untertitel angemerkten Plural âPhilosophie(n) der Existenzâ20 markiert.
Fritz Heinemann, der die EinfĂŒhrung des Begriffs ,Existenzphilosophieâ fĂŒr sich reklamiert und in seinem Buch Neue Wege der Philosophie von 1929 die Lage der Philosophie seiner Zeit zu rekonstruieren versucht, fĂŒhrt die Existenzphilosophie auf folgende Grundthese zurĂŒck: âDer in Resonanz mit Menschen, All und Gott stehende Mensch ist der SchlĂŒssel des VerstĂ€ndnisses der Menschenwelt, der Geschichte und des Alls selbst.â21 Hier deutet sich bereits an, dass die Genese der Existenzphilosophie mit einer Wende zum Menschen als einzelnem Subjekt und zwar in einem bestimmten Sinne, nĂ€mlich als Existierender in der Welt, der sich zu sich selbst, zu anderen und seiner Umwelt verhĂ€lt, verknĂŒpft ist. Nach den groĂen âWenden zum Subjektâ in der Philosophiegeschichte (Sophistik, Augustinus, Descartes) tritt eine Philosophie in Erscheinung, die den Menschen erneut zum âMaĂ aller Dingeâ erklĂ€rt und erhebt, ohne hier freilich die Problematik des protagoreischen homo-mensura-Satzes aufwerfen zu wollen. Somit reiht sie sich in die Reihe der SubjektivitĂ€tsphilosophien ein, wenn auch sicherlich nicht in die der rationalistischen Ausrichtung im Fahrwasser eines Descartes. Peter Wust stellt ein wesentliches Paradigma der Existenzphilosophie heraus, wenn er ihren Leitgedanken wie folgt formuliert: âMan wĂ€hle, so sage ich, den Menschen als Ausgangspunkt der Philosophie.â22 Diese eminente Fokussierung auf den Menschen als Instanz von SubjektivitĂ€t impliziert tiefgreifende metaphysische, erkenntnistheoretische, anthropologische und ethische Kehrtwenden, die uns vor allem bei Kierkegaard und seiner Anbindung der Wahrheit an die SphĂ€re der SubjektivitĂ€t begegnen werden. Dem Menschen wird somit wahrhaft eine metaphysische Bedeutung zugesprochen, da er in der Philosophie des DĂ€nen zum MaĂstab von Sein, Wahrheit und Stifter von Sinn wird;23 der Mensch wird zum âSchlĂŒsselâ, um Heinemanns Formulierung wieder aufzugreifen. Dieses Kierkegaardsche WahrheitsverstĂ€ndnis ist auch schon fĂŒr Karl Jaspers ein Grundzug, der allen Existenzialisten gemeinsam sei und âdie RĂŒckkehr aus einer Wahrheit, die nur gedacht wird als das andere, dem gegenĂŒber ich selbst gleichgĂŒltig bin, zur Wahrheit, die gelebt wird, zum Ernst, der im Menschsein liegt, das frei ist und ĂŒber sich selbst zu entscheiden hatâ,24 darstelle.
Jonathan Webber verfolgt in seinem 2018 erschienenen Buch mit dem programmatischen Titel Rethinking Existentialism den Anspruch, unter Rekurs auf de Beauvoir und Sartre ein neues Konzept existenzialistischen Denkens zu entwerfen. Der ,klassischeâ Existenzialismus seinerseits sei mit de Beauvoir und Sartre auf zwei zentrale Punkte zu bringen: den Grundsatz der Vorrangigkeit der Existenz vor der Essenz sowie die daraus resultierende Ethik, die zugleich an einem âmoral imperative and strong eudaimonist reasons to respect human freedomâ25 festhalte.
Diese wenigen Beispiele offenbaren, dass die Versuche, die Existenzphilosophie zu definieren und zu typisieren, unterschiedliche Ergebnisse zutage fördern, selbst wenn einige Sujets und Leitmotive wiederholt auftauchen. So zum Beispiel der von Sartre zum Grundsatz des Existenzialismus auserkorene Primat der Existenz vor der Essenz, den Steven Crowell als das Merkmal der Existenzphilosophie schlechthin beschreibt,26 und der Sartres Vortrag, âIst der Existenzialismus ein Humanismus?â, quasi zu einem ,Manifestâ des Existenzialismus erhebt. Die Sartre-Biographin Annie Cohen-Solal spricht gar von einer âexistentialistische[n] Bibelâ.27 Von einem allgemein anerkannten Katalog grundlegender Merkmale der Existenzphilosophie ist die Forschung jedoch weit entfernt. Angesichts der Tatsache, dass sich die Existenzphilosophie somit einer klassischen lexikalischen Definition zu entziehen scheint, intendieren beispie...