Fall 1: Angetrunkener Fußballfan
Schwerpunkte: Platzverweis, Generalklausel, Gewahrsam, Dauer des Gewahrsams zum Zwecke der Identitätsfeststellung, Zwang, Sofortvollzug und gestrecktes Verfahren
Sachverhalt:
Der Busbahnhof von A-Stadt ist regelmäßig Treffpunkt für jugendliche Fußballfans aus A-Stadt und Umgebung. Im Bereich des Busbahnhofes – wo es häufig zu Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fangruppen kommt – sind zahlreiche Polizeibeamte eingesetzt. Im Zusammenhang mit zurückliegenden Spielen hatten Fans wiederholt Pyrotechnik gezündet. Mehrere Personen waren verletzt worden.
PK A und PK B werden während des (Fußball-)Einsatzes im Vorfeld des Spiels von dem Busfahrer F um Hilfe gebeten. In seinem Bus randaliert der 19-jährige angetrunkene Z, der trotz mehrfacher Aufforderung des F nicht bereit ist, den Bus zu verlassen. Als PK A den Z auffordert, den Bus zu verlassen, wird er von ihm unvermittelt tätlich angegriffen. Mittels eines Sprühstoßes aus seinem Reizstoffsprühgerät (RSG) kann er den Angriff abwehren. Anschließend wird Z gewaltsam aus dem Bus transportiert. Während der Busfahrer seine Fahrt fortsetzt, randaliert Z weiter und ist nicht zu beruhigen. So pöbelt er Passanten an und fordert gegnerische Fans zum „Streetfight“ heraus. Z soll daraufhin dem Polizeigewahrsam zugeführt werden. Er ist nicht bereit, der Maßnahme Folge zu leisten und weigert sich vehement, sich in den Streifenwagen zu begeben.
Z wird daraufhin von den Beamten kräftig an den Armen gepackt und in den Streifenwagen gezerrt. Im Streifenwagen erkennt er die Aussichtslosigkeit seiner Aktionen und „fügt sich seinem Schicksal“.
Aufgabe:
Beurteilen Sie rechtsgutachtlich die von der Polizei getroffenen Maßnahmen.
– Aufforderung an Z zum Verlassen des Busses
– Abwehr des Angriffs (Z) mittels eines RSG durch PK A
– Gewaltsames Transportieren des Z aus dem Bus
– Gewahrsam
– Zwang (Durchsetzung Gewahrsam)
Hinweis: Die örtliche Zuständigkeit als formelles Erfordernis kann unterstellt werden.
Lösung:
A. Aufforderung an Z zum Verlassen des Busses
I. Ermächtigungsgrundlage
Ein Platzverweis ist ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit).1 Nach a. A. handelt es sich um einen Eingriff in die körperliche Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG).2 Ein Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) wird indes abgelehnt, weil von den Adressaten nicht verlangt wird, an einem bestimmten Ort zu verbleiben und deshalb nicht in die Fortbewegungsfreiheit eingegriffen wird.3 Nicht eingegriffen wird vorliegend in das Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG).4 Zielrichtung ist die Gefahrenabwehr. Es handelt sich um eine präventiv-polizeiliche Maßnahme (§ 1 PolG NRW), die sich als Verwaltungsakt darstellt (§ 35 Satz 1 VwVfG NRW).5 § 34 PolG NRW ist eine sog. Befehlsermächtigung. Derlei (Befehls-)Ermächtigungen rechtfertigen den Erlass eines Ge- oder Verbots (= Verwaltungsakt).
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Die Maßnahme dient der Gefahrenabwehr. Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Satz 1, 2 PolG NRW i. V. m. § 11 Abs. 1 Nr. 1 POG NRW. Gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW hat die Polizei die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Gefahrenabwehr). Relevant sind nur solche Gefahren, die der öffentlichen Sicherheit drohen. Die Sicherheitsgüter lassen sich in kollektive (Integrität der Rechtsordnung und Funktionsfähigkeit des Staates) und in die individuellen Sicherheitsgüter (Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum, Vermögen) einteilen.6 Gefahr ist eine Sachlage, die einen Schaden für die öffentliche Sicherheit erwarten lässt. Das ist insbesondere gegeben, wenn ein tatsächliches Geschehen den Schluss rechtfertigt, dass möglicherweise individuelle Rechte wie Leib, Leben, Gesundheit usw. einer Person oder das Sicherheitsgut „Rechtsordnung“ zu Schaden kommen könnten. Die Gefahr besteht hier für andere Businsassen und für die Rechtsordnung (Körperverletzung, Hausfriedensbruch). Die Abwehr von Gefahren für die Rechtsordnung liegt grundsätzlich im öffentlichen Interesse (Rechtsordnung als Sicherheitsgut der Allgemeinheit). Die Verhütung von Straftaten ist eine originäre polizeiliche Aufgabe (§ 1 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW). Soweit Polizeibeamte gestützt auf § 34 PolG NRW Verwaltungsakte erlassen, sind die allgemeinen Regeln des VwVfG NRW zu berücksichtigen, insbesondere die §§ 28, 37 Abs. 2 VwVfG NRW). Der Verwaltungsakt ist entsprechend § 41 Abs. 1 VwVfG NRW bekannt zu geben. Gem. § 37 Abs. 2 VwVfG NRW kann ein Verwaltungsakt schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden.
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Tatbestandliche Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage
Der Platzverweis ist in § 34 Abs. 1 PolG NRW geregelt. Er dient der Abwehr der im Einzelfall bestehenden (konkreten) Gefahr. Z randaliert im Bus. Er ist trotz mehrfacher Aufforderung des Busfahrers (F) nicht bereit, den Bus zu verlassen. Dadurch begeht er einen Hausfriedensbruch gem. § 123 Abs. 1 2. Alt. StGB.7 Die Gefahr besteht also für die Rechtsordnung als Sicherheitsgut der Allgemeinheit, d. h. die Rechtsordnung wird bei weiterem Verweilen des Z im Bus weiterhin verletzt, und zwar auch dann, wenn kein Strafantrag gestellt wird; dieser ist nur Verfahrensvoraussetzung. Die Gefahr ist konkret. Die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW liegen demnach vor.
2. Besondere Form-/Verfahrensvorschriften
Das Gesetz hat keine speziellen Form- und Verfahrensvorschriften vorgesehen.
3. Adressatenregelung
Die Verfügung hat sich gegen den richtigen Adressaten gerichtet. Z hat durch sein Verhalten die Gefahr unmittelbar verursacht (§ 4 Abs. 1 PolG NRW).8
4. Rechtsfolge der konkret herangezogenen Ermächtigungsgrundlage
a) Rechtsfolge entspricht der Ermächtigungsgrundlage
Zugelassene Rechtsfolge ist das vorübergehende Verweisen einer Person von einem Ort bzw. ein vorübergehendes Zutrittsverbot. Der Platzverweis ist vorliegend nur vorübergehend, d. h. Z hat – im Rahmen des geltenden Rechts (!) – die theoretische Möglichkeit der Rückkehr.
b) Bestimmtheit (§ 37 Abs. 1 VwVfG NRW)
§ 37 Abs. 1 VwVfG NRW enthält mit dem Bestimmtheitserfordernis in Abs. 1 ein materiell-rechtliches Erfordernis. Verstöße sind hier nicht ersichtlich.
c) Ermessen (§ 3 PolG NRW)
Rechtsfehler hinsichtlich der pflichtgemäßen Ermessensausübung, insbesondere eine Missachtung der Grundsätze aus § 40 VwVfG NRW sowie des Differenzierungsge- und -verbotes sind dem Sachverhalt nicht zu entnehmen.
d) Übermaßverbot (§ 2 PolG NRW)
aa) Geeignetheit
Eine Maßnahme ist geeignet, wenn sie objektiv zwecktauglich ist, das polizeiliche Ziel zu erreichen. Geeignet ist die Maßnahme, die rechtlich und tatsächlich möglich ist und den erstrebten Erfolg herbeiführt oder zumindest fördert. Die Verfügung muss die Gefahr (voraussichtlich) vollständig beseitigen können. Dass die Verfügung letztendlich nicht befolgt wurde, spielt keine Rolle. Es ist nicht erforderlich, dass die Maßnahme den gewünschten Erfolg sicher herbeiführt. Die Beamten konnten aber von der objektiven Zwecktauglichkeit der Verfügung ausgehen. Das ist ausreichend. Hätte Z die Verfügung befolgt, also den Bus auf Aufforderung der Beamten verlassen, wäre die Gefahr beseitigt gewesen.
bb) Erforderlichkeit
Der Grundsatz der Erforderlichkeit beinhaltet, dass von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenigen zu wählen sind, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen. Eine Maßnahme als polizeiliche Verfügung entspricht bereits einer sehr geringen Eingriffsqualität. Eine andere – ebenso mögliche und geeignete – Maßnahme ist hier nicht denkbar.
cc) Verhältnismäßigkeit i. e. S.
Die Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. Die Beurteilung setzt eine Güterabwägung voraus, d. h. das eingeschränkte Grundrecht darf objektiv nicht höher einzustufen sein als das Recht, das geschützt werden soll. Eingeschränkt wird durch den Platzverweis die allgemeine Handlungsfreiheit des Z. Andererseits wird dadurch die Rechtsordnung geschützt. Der Schutz der Rechtsordnung, die das Zusammenleben im Staat ermöglicht, hat zudem einen erheblichen Stellenwert.9 Eine Abwägung führt daher nicht zu einem Missverhältnis, d. h. die Maßnahme steht nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck.
IV. Ergebnis
Die Platzverweisung war rechtmäßig.
Parallelnormen zu § 34 PolG NRW (Platzverweis): § 38 BPolG; § 54 BKAG; § 27a Abs. 1 BWPolG; Art. 16 BayPAG; § 29 ASOG Bln; § 16 BbgPolG; § 14 BremPolG; § 12a HambSOG; § 31 HSOG; § 52 MVSOG; § 17 NdsSOG; § 13 RhPfPOG; § 12 SPolG; § 21 SächsPolG; § 36 LSASOG; § 201 SchlHLVwG; § 18 ThürPAG
B. Abwehr des Angriffs (Z) mit...