Schreiben im Ersten Weltkrieg
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Schreiben im Ersten Weltkrieg

Französische Briefe und TagebĂŒcher wenig geĂŒbter Schreiber aus der deutsch-französischen Grenzregion

Lena Sowada

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  1. 663 pages
  2. German
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Schreiben im Ersten Weltkrieg

Französische Briefe und TagebĂŒcher wenig geĂŒbter Schreiber aus der deutsch-französischen Grenzregion

Lena Sowada

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Wie schreiben Französinnen und Franzosen, die ĂŒber eine geringe Routine und wenig Erfahrung im Schreiben verfĂŒgen? Wie gestaltet sich ihr schriftlicher Sprachgebrauch in privater Kommunikation auf den unterschiedlichen sprachlichen Ebenen? Die Arbeit behandelt den Schriftsprachgebrauch weniger geĂŒbter Schreiber zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der deutsch-französischen Grenzregion auf der Grundlage authentischer, bisher unveröffentlichter französischer Textzeugnisse.

Neben orthographischen Kompetenzen umfasst der Prozess des Schreibens lexikalisches, morphosyntaktisches und diskurstraditionelles Wissen, das in den Briefen, Postkarten und TagebĂŒchern mit unterschiedlichen Funktionen individuell aktualisiert wird. Dabei bilden die im Wesentlichen aus der deutsch-französischen Grenzregion stammenden Schreiber die ihren Alltag prĂ€gende Mehrsprachigkeit, zum Teil verbunden mit Biliteralismus, auch im Geschriebenen ab. Der Gebrauch epistolĂ€rer Formeln verdeutlicht zugleich individuelle Routinen und ökonomische Versprachlichungsmuster.

Vor dem biographischen Hintergrund der Schreiber leistet die Analyse einen Beitrag zur Untersuchung verschiedener Schriftsprachgebrauchsnormen in privater nÀhesprachlicher Kommunikation.

Diese Arbeit wurde ausgezeichnet mit dem Manfred LautenschlÀger-Preis zur Förderung der Geistes- und Kulturwissenschaften (2022) der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

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Information

Publisher
De Gruyter
Year
2021
ISBN
9783110719352
Edition
1

1 Einleitung

Über einhundert Jahre sind seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vergangen. Die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags jĂ€hrte sich 2019 zum 100. Mal. Diejenigen, die diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts1 miterlebt haben, sind uns lĂ€ngst nur noch in Erinnerungen und ErzĂ€hlungen, aber auch in geschriebenen Texten prĂ€sent. Viele Erfahrungen wurden in Briefen und TagebĂŒchern festgehalten, die uns heute ausschnittartig einen Zugang zur RealitĂ€t des Ersten Weltkriegs ermöglichen.
FĂŒr weite Teile der Bevölkerung bedeutet der Erste Weltkrieg einen gravierenden Umbruch in der gewohnten Lebenswelt. Die MĂ€nner werden zum MilitĂ€r eingezogen und an die Front geschickt oder zum Arbeitseinsatz abkommandiert. Sie verlassen ihre Familien, ihr gewohntes Umfeld und ihren Arbeitsplatz. Die Frauen mĂŒssen oftmals Aufgaben ihrer MĂ€nner ĂŒbernehmen und sich um Haus und Hof kĂŒmmern. Das einzige Mittel, das ihnen bleibt, um den Kontakt aufrechtzuerhalten, ist das Schreiben. WĂ€hrend der beinahe fĂŒnf Jahre dauernden Kriegshandlungen werden unzĂ€hlige Briefe, Postkarten und PĂ€ckchen versandt, die nicht nur die materiellen BedĂŒrfnisse der Soldaten stillen, sondern auch und insbesondere eine psychische StĂŒtze sind. Von 1914 bis 1918 werden Millionen von Briefen und Postkarten redigiert, von der Front in die Heimat und von dort an die Front, in denen sich die Schreiber2 ihrer guten Gesundheit versichern, den bisweilen lĂ€hmenden Alltag in den SchĂŒtzengrĂ€ben wĂ€hrend des Stellungskriegs beschreiben, in denen die Entwicklung der Kinder und alltĂ€gliche Anekdoten berichtet, aber auch Informationen ĂŒber gefallene Familienmitglieder, Bekannte und Freunde weitergegeben sowie Nachfragen formuliert und Hoffnungen ausgedrĂŒckt werden. Um den Grausamkeiten des Kriegs zu begegnen und ihnen wenigstens ansatzweise etwas entgegensetzen zu können, beginnen viele Soldaten ihre Erlebnisse in TagebĂŒchern festzuhalten.
Der Krieg betrifft alle und so greifen nun auch Menschen zu Stift und Papier, die in ihrem Vorkriegsalltag kaum mit dem Schreiben in BerĂŒhrung kommen. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive sind diese SchriftstĂŒcke von besonderem Wert, bilden sie doch den sprachlichen Ausdruck von denjenigen Mitgliedern einer Gesellschaft ab, die in der Geschichte eher wenig schriftliche Spuren hinterlassen haben. Aus dieser Perspektive ist der Erste Weltkrieg nicht nur ein historisch-politisches Ereignis, sondern auch ein kommunikatives.3
Die vorliegende Arbeit widmet sich eben diesen Menschen und ihrem sprachlichen Ausdruck. Sie versteht sich als ein Beitrag zur Sprachgeschichtsschreibung des Französischen, der den informellen Sprachgebrauch eines Ausschnitts der französischen Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1919 auf Grundlage authentischer, noch nicht untersuchter Textzeugnisse in den Blick nimmt. Die Autoren der Ego-Dokumente des Analysekorpus sind keine prominenten Persönlichkeiten oder politisch einflussreichen Akteure, sie sind Arbeiter, Handwerker und Landwirte aus zumeist einfachen VerhÀltnissen.
Diese Untersuchung der Ego-Dokumente legt den Fokus auf das sprachlich handelnde Individuum in einem spezifischen Kontext, unter dem Einfluss verschiedener historischer, sozialer und politischer Faktoren. Der theoretische Rahmen der historischen Soziolinguistik zielt darauf ab, Korrelationen zwischen sprachlichem Ausdruck und sozialen Variablen in einer gegebenen Sprachgemeinschaft aus historischer Perspektive zu etablieren. In einem ersten Schritt wird daher die historische Soziolinguistik in ihrer konzeptionellen und methodologischen Ausrichtung skizziert (Kapitel 2). Innerhalb dieses Rahmens des historisch-soziolinguistischen Zugriffes sind fĂŒr die vorliegende Arbeit insbesondere die Konzepte der Sprachgeschichte «von unten» und des die Schreiber betreffenden Charakteristikums der peu lettrĂ© relevant.
Die Bezeichnung der Texte des Analysekorpus als Ego-Dokumente macht eine weitere theoretische Fundierung nötig (Kapitel 3). Das Konzept Ego-Dokument wird in seiner Herausbildung in der geschichtswissenschaftlichen Forschung sowie in seiner methodologischen und konzeptionellen Entwicklung vorgestellt. Ausgehend von seiner Anwendung in neueren sprachwissenschaftlichen Arbeiten wird das Konzept in dem fĂŒr die vorliegende Arbeit relevanten VerstĂ€ndnis definiert. Außerdem werden die das Analysekorpus konstituierenden Texte in ihrer nĂ€hesprachlichen AffinitĂ€t beschrieben.
In Kapitel 4 wird die Komposition des Korpus, das die Grundlage fĂŒr die folgenden drei Analysekapitel 5 bis 7 bildet, geschildert. Hier werden zum einen in synthetischer Form die primĂ€ren Schreiber der verschiedenen Textfonds vorgestellt und zum anderen die verschiedenen Phasen der Konstitution des Korpus sowie die Kriterien der Selektion der aufgenommenen Texte erlĂ€utert.
Die erste Analyse untersucht den schriftsprachlichen Ausdruck der weniger geĂŒbten Schreiber des Korpus auf den sprachlichen Ebenen der Orthographie, des Lexikons, der Morphosyntax und der diskursiven Organisation (Kapitel 5). Der individuelle Schriftsprachausdruck wird hierbei sowohl aus dem Blickwinkel des Schriftspracherwerbs mit seinen verschiedenen konstitutiven Phasen als auch aus der Perspektive einer Schreibsozialisation innerhalb einer sprachlichen Gemeinschaft beschrieben. Unter BerĂŒcksichtigung von am Schriftspracherwerb beteiligten mentalen Prozessen wird die Analyse um eine kognitive Dimension bereichert. Diese Analyse fragt nach den Motivationen fĂŒr die von den Schreibern gewĂ€hlten Varianten sowie den Strategien, die die Schreiber bei der Verschriftlichung mobilisieren.
Der geographischen Ausrichtung des Korpus ist die zweite Analyseperspektive geschuldet, die den in einem Ausschnitt der Texte dokumentierten Sprachkontakt zwischen dem Französischen und dem Deutschen und in geringerem Ausmaß auch des Französischen mit dem Italienischen und dem Englischen untersucht (Kapitel 6). Die Texte der zweisprachigen Schreiber bilden kontaktinduzierte Formen aus einer historischen Perspektive medial schriftlich ab.
Neben orthographischen, lexikalischen und morphosyntaktischen Kenntnissen mĂŒssen die Schreiber des Analysekorpus bei der Redaktion der Briefe ĂŒber textsortenspezifisches Wissen verfĂŒgen. Die Modellierung dieses Wissens und die Auswertung des formelhaften Sprachgebrauchs bilden den Gegenstand des dritten Analysekapitels (Kapitel 7).
Die vorliegende Untersuchung erhebt keinen Anspruch auf statistische ReprĂ€sentativitĂ€t und auch nicht darauf, den Sprachgebrauch bestimmter sozialer Gruppen exhaustiv abzubilden.4 Dies liegt jedoch auch nicht im Ziel der Analysen. Vielmehr zielt diese Betrachtung des Sprachgebrauchs weniger geĂŒbter Schreiber darauf ab, den schriftsprachlichen Ausdruck dieser Personen systematisch und in seinem sozio-historischen Kontext zu analysieren. Diese Arbeit versteht sich als eine Momentaufnahme des Schriftsprachgebrauchs eines Teils der Französischsprechenden und gewissermaßen als ein Stein in einem großen Mosaik der französischen Sprachgeschichte. Gemeinsam mit anderen Steinen soll sie dazu beitragen, ein ganzheitlicheres Bild der Geschichte des Französischen in seiner sozialen, stilistischen und regionalen Vielfalt zu zeichnen.

2 Historische Soziolinguistik und Sprachgeschichtsschreibung

2.1 Der Forschungsansatz der historischen Soziolinguistik

Das Konzept der historischen Soziolinguistik wurde in den 1980er Jahren aus dem Paradigma der Soziolinguistik heraus als eine Idee «which should fundamentally be possible» (Willemyns/Vandenbussche 2006, 146) entwickelt.
Als wegweisende Arbeit in der methodologischen und praktischen Etablierung der historischen Soziolinguistik wird gemeinhin Romaines Socio-Historical Linguistics (1982) angefĂŒhrt, in der die entscheidende Verbindung von historischer Linguistik und Soziolinguistik verfestigt wird (cf. auch Conde Silvestre 2007, 32; Conde Silvestre/HernĂĄndez Campoy 2012, 1; Willemyns/Vandenbussche 2006, 146). Romaines Forschungsziel besteht in der VerschrĂ€nkung beider Disziplinen in einem sozio-historischen sprachwissenschaftlichen Ansatz, der sprachliche Variation in ihren unterschiedlichen AusprĂ€gungen und in ihrer Entwicklung in einer bestimmten Sprachgemeinschaft im Laufe der Zeit untersucht und erklĂ€rt (Romaine 1982, x).
Der Terminus historische Soziolinguistik wird zum ersten Mal 1987/88 im von Ammon, Dittmar und Mattheier herausgegebenen Handbuch Soziolinguistik erwÀhnt, obwohl bereits zuvor historische soziolinguistische Studien angefertigt werden (Willemyns/Vandenbussche 2006, 146).
Die historische Soziolinguistik ist eigentlich keine radikal neue Disziplin, sie wird ausgeĂŒbt, seitdem sich die Forschung mit Sprachgeschichte und mit den Interaktionen von Sprache als System und der Sprachgemeinschaft, in der sie ausgeĂŒbt wird, beschĂ€ftigt (Mattheier 1999, 1; Nevalainen/Raumolin-Brunberg 2012, 23). HistorizitĂ€t ist bereits in Labovs ersten soziolinguistischen Studien angelegt, da er sich in seiner Argumentation auf die historische Dimension bezieht. Eine historische Perspektive ist gleichfalls in soziolinguistischen Studien, die sich mit aktuellen SprachstĂ€nden befassen, prĂ€sent, da vielfach die aktuelle Situation einer VarietĂ€t oder einer Variable als Teil einer soziolinguistischen Entwicklung begriffen wird (Mattheier 1999, 1). Ähnlich wie Mattheier sieht auch Conde Silvestre (2007, 31) die UrsprĂŒnge der historischen Soziolinguistik bereits in frĂŒheren soziolinguistischen Arbeiten angelegt und betrachtet den Artikel Empirical Foundations for a Theory of Language Change (1968) von Weinreich, Labov und Herzog als eine der begrĂŒndenden Forschungsarbeiten der historischen Soziolinguistik. Diese Studie korreliert Sprachwandelprozesse durch Beobachtung und Beschreibung der geordneten HeterogenitĂ€t, die lebenden Sprachen inhĂ€rent ist, mit sozialen Variablen (Weinreich/Labov/Herzog 1968, 99–101 und 188). Wenngleich VariabilitĂ€t nicht zwangslĂ€ufig zu Sprachwandel fĂŒhrt, impliziert jeder Sprachwandel synchrone Variation oder HeterogenitĂ€t in einer Sprachgemeinschaft (Weinreich/Labov/Herzog 1968, 188). «A basic premise of historical sociolinguistics is that language is both a historical and social product, and must therefore be explained with reference to the historical and social forces which have shaped its use» (Romaine 2005, 1696).
In den 30 Jahren nach Romaines Veröffentlichung (1982) reift die Disziplin der historischen Soziolinguistik, sowohl in Bezug auf die theoretische PrÀzisierung des Untersuchungsfeldes als auch hinsichtlich der Anwendung von methodischen GrundsÀtzen und Resultaten der aktuellen Soziolinguistik auf historische Daten. Dadurch wird der Fokus der Disziplin erweitert, sodass nicht mehr nur Variation und Sprachwandel Gegenstand historisch soziolinguistischer Untersuchungen sind, sondern ebenso Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt, Sprechereinstellungen oder auch Standardisierung (Conde Silvestre/Hernåndez Campoy 2012, 1).
Zwischen Soziolinguistik und historischer Soziolinguistik besteht demzufolge eine enge wechselseitige Beziehung. Der Transfer soziolinguistischer Methoden, die fĂŒr zeitgenössische Situationen entwickelt wurden, auf vergangene SprachstĂ€nde trĂ€gt zur historischen Rekonstruktion einer Sprache in ihrem sozialen Kontext bei. Einem Pendel Ă€hnlich wird die historische RealitĂ€t wiederum auf die aktuelle projiziert und kann so das VerstĂ€ndnis von im Prozess begriffenem Sprachwandel erhellen, wodurch die historische Soziolinguistik zu einem generellen VerstĂ€ndnis von Sprachwandel beitrĂ€gt (Conde Silvestre 2007, 34). Mattheier sieht die Differenz lediglich in den jeweils untersuchten Daten: «La â€čsociolinguistique historiqueâ€ș ne se distingue pas de la sociolinguistique contemporaine par sa mĂ©thodologie thĂ©orique mais par ses bases de donnĂ©es» (Mattheier 1999, 2). Die simultane Konzeption von synchroner und diachroner Untersuchungsperspektive unterstĂŒtzt auch Aitchison (2012, 19), wenn sie schreibt: «diachrony and synchrony are not irreconcilable. They are essentially overlapping processes, and one cannot be understood without the other».1
Die Dominanz methodischer und methodologischer Herausforderungen in der Diskussion der historischen Soziolinguistik bis in die frĂŒhen 2000er Jahre stellt heraus, dass es sich um eine noch sehr junge Disziplin handelt (Willemyns/Vandenbussche 2006, 146). Zugleich sind die in dieser Zeit entstehenden international sichtbaren Studien im Wesentlichen auf das Englische und das Deutsche beschrĂ€nkt. Studien zu anderen Sprachen werden zwar angefer...

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