Das Tempus gehört zu den meist diskutierten PhĂ€nomenen der deutschen Sprache. Zu kaum einem anderen Forschungsgebiet sind so viele Publikationen entstanden (Mugler 1988: 11 und Rödel 2007: 9). Das hat zur Folge, dass die meisten Arbeiten zu diesem Thema mit einer Rechtfertigung beginnen (Hennig 2000: 1 und Rödel 2007: 9). Allerdings gibt es fast keine Arbeiten, die sich mit den Vergangenheitstempora im alemannischen Sprachraum auseinandersetzen.1 Der Grund hierfĂŒr könnte die vorherrschende Meinung sein, das PrĂ€teritum sei im Alemannischen (genau wie im gesamten oberdeutschen Sprachraum) bis auf Relikte verschwunden (vgl. Rowley 1983: 164â165 und Fischer 2018: 37â39). Lediglich die PrĂ€teritalformen von sein wĂŒrden vereinzelt noch verwendet werden (vgl. Rowley 1983: 165, Fischer 2018: 38â39 und Fischer 2021: 347). Diese Ansicht stĂŒtzt sich vor allen Dingen auf Georg Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs (1888â1923) (vgl. Fischer 2018: 15) und die Ortsgrammatiken des alemannischen Sprachraums (vgl. Rowley 1983: 164â165 und Fischer 2018: 37â39). Mit dem Schwund des PrĂ€teritums mĂŒsste demzufolge auch das Plusquamperfekt verschwunden sein, da es zur Bildung die PrĂ€teritalformen der Verben sein und haben benötigt. Glaubt man dieser EinschĂ€tzung, bleiben fĂŒr den Untersuchungsbereich nur noch das Perfekt und das Doppelperfekt. Die intuitive Unterscheidung dieser beiden Tempora â Perfekt fĂŒr einfache Vergangenheit, Doppelperfekt fĂŒr Vorvergangenheit â lassen eine Untersuchung auf den ersten Blick wenig reizvoll erscheinen.
Allerdings ist es durchaus fraglich, ob das PrĂ€teritum im Alemannischen tatsĂ€chlich völlig ungebrĂ€uchlich ist. In den folgenden Beispielen (1â2) wird aus der Laienperspektive ein Sprachwandel vom Perfekt zum PrĂ€teritum beim Verb sein beschrieben.
GP1_1172 erzĂ€hlt hier, sie sei als Jugendliche von ihrem Vater immer verbessert worden, wenn sie die PrĂ€teritalform des Verbs sein verwendet habe. Stattdessen sei die Perfektform korrekt (Z. 01â02).
(1) Herten (REDI+FLARS (dt.))
01 GP1_1172: also ds WEISS Ich- 02 won_ich (.) so vierzeh fuchzeh war dass mi: (.) vaddr JE:desmal mich verbEssert het- â 03 wenn_ich gsAIt hab (.) ich WAR; (.) â 04 des hEIĂt ich bin GSI; das heiĂt ich bin gewesen2
Die Informantin im nĂ€chsten Beispiel (2) hat ebenfalls einen Sprachwandel im Alemannischen bemerkt (Z. 01â02) und deutet zudem einen funktionalen Unterschied zwischen Perfekt und PrĂ€teritum an, indem sie sagt, es komme auf die Situation an, was man sagen möchte (Z. 05â06).
(2) Schopfheim (REDI+FLARS (dt.))
â 01 GP1_1105: ich mein es isch e so HĂT (.) heiĂt_s immer (.) es wA:r; (-) â 02 ja (.) des ham_ma (.) Ă€h un frĂŒher het_s Ă€h immer khEIĂe (.) es ISCH gsi; 03 EX1_1051: ja; 04 GP1_1105: es Isch halt eifach so GSI, 05 un da chUnt_s etz (.) menchmal halt auf_d sitior de (.) situaTIOne a: und da kommt es jetzt manchmal halt auf die sitior die situationen an 06 wAs ma grad SAge will- 07 oder wAs ma grad verZĂLLT, oder was man gerade erzĂ€hlt 08 na cha_ma scho mal sAge (-) jo_s WAR; dann kann man schon mal sagen ja es war 09 s WAR halt nid so wArm;
Die beiden GesprĂ€chsausschnitte lassen die Vermutung zu, dass die PrĂ€teritalform die Perfektform des Verbs sein zumindest partiell ersetzt hat. Die Aussagen in (1) und (2) ĂŒber eine PrĂ€teritumverwendung beschrĂ€nken sich zwar auf das Verb sein, dessen Gebrauch im PrĂ€teritum von Rowley (1983) durchaus anerkannt wird. Dennoch legt die Tatsache, dass ein Sprachwandel vom Perfekt zum PrĂ€teritum von GewĂ€hrspersonen ĂŒberhaupt thematisiert wird, die Vermutung nahe, dass auch andere Verben diese Entwicklung durchlaufen haben könnten.
Es gilt also zu erörtern, ob es einen Sprachwandel im Alemannischen Deutschlands gibt, bei dem PrÀteritalformen wieder hÀufiger Verwendung finden. Dabei stellt sich die Frage, welche Verben von einem möglichen Wandel betroffen sind und welche Gemeinsamkeiten diese Verben haben.
Es stellt sich auĂerdem die Frage, ob das PrĂ€teritum durch den Einfluss des Standarddeutschen wieder in das Alemannische eingedrungen ist oder ob es nie völlig aus dem Dialekt verschwunden ist. Um dies zu ĂŒberprĂŒfen, untersuche ich, ob die PrĂ€teritum-Belege Standard- oder Dialektformen sind. Sollten sie aus dem Standard entlehnt worden sein, ist zu erwarten, dass sie keine oder nur eine sehr geringe Assimilation an das Alemannische erfahren haben. Umgekehrt sprĂ€chen Dialektformen des PrĂ€teritums (z. B. der Indikativ PrĂ€teritum von sein als was, wie er im SchwĂ€bischen Wörterbuch (Fischer 1920: 1330) und in der Mundartgrammatik von Memmingen (Hufnagl 1967: 132) als alte und erhaltene Form beschrieben wird) dafĂŒr, dass das PrĂ€teritum im Alemannischen nie völlig ungebrĂ€uchlich wurde, sondern nur nicht erfasst wurde. Neben dem Alemannischen im deutschen Staatsgebiet untersucht diese Arbeit auch das Alemannische des Elsass. Aufgrund des fehlenden Einflusses des Standarddeutschen ist ein Vergleich im Elsass zum restlichen Untersuchungsgebiet lohnenswert. Dabei ist zu fragen, ob im Elsass die Tempora PrĂ€teritum und Plusquamperfekt trotz des fehlenden standarddeutschen Einflusses existieren.
Perfekt und PrĂ€teritum können auf Vergangenes referieren. Sollten zwei Tempora mit derselben Funktion koexistieren, ist anzunehmen, dass Perfekt und/oder PrĂ€teritum eine Spezialisierung erfahren (haben). Diese Arbeit soll daher ermitteln, ob es semantische oder kontextuelle Unterschiede zwischen den beiden Tempora gibt. Nimmt man den Einfluss des Standarddeutschen als Grund fĂŒr das Wiedereindringen des PrĂ€teritums in den Dialekt an, lĂ€sst dies vermuten, dass auch die sekundĂ€ren Funktionen der Perfekt-PrĂ€teritum-Distinktion mit in den Dialekt ĂŒbernommen wurden. Daher soll in dieser Arbeit ĂŒberprĂŒft werden, inwiefern sich die Erkenntnisse aus dem Standard auf das Alemannische ĂŒbertragen lassen.
Die Existenz der PrĂ€teritalform des Verbs sein schafft darĂŒber hinaus die Voraussetzung, dass auch das Plusquamperfekt dialektal Verwendung finden könnte, da mit der PrĂ€teritalform von sein das notwendige sprachliche Material fĂŒr die Bildung des Plusquamperfekts vorhanden ist. Ich werde daher der Frage nachgehen, ob das Plusquamperfekt im Alemannischen Deutschlands und im Elsass verwendet wird. Dabei ist auch zu untersuchen, ob neben dem Plusquamperfekt mit sein-selegierenden Verben auch ein Plusquamperfekt mit haben-selegierenden Verben gebildet wird. Voraussetzung dafĂŒr wĂ€re das Vorhandensein der PrĂ€teritalform von haben.
Es scheint mit dem Doppelperfekt bereits ein Tempus im Oberdeutschen (und damit auch im Alemannischen) zu geben, das dieselbe Funktion besitzt wie das Plusquamperfekt im Standarddeutschen. Die klassische Theorie zur Genese des Doppelperfekts besagt, dass es einen direkten, kausalen Zusammenhang zwischen oberdeutschem PrĂ€teritumschwund (und dem daraus folgenden Verlust des Plusquamperfekts) und Entstehung des Doppelperfekts gibt. Dementsprechend seien Doppelperfekt und Plusquamperfekt funktionsgleich, weshalb ersteres als Substitution fĂŒr letzteres im Oberdeutschen gebraucht werde (vgl. u. a. Behaghel 1924: 271â272). Ich möchte in dieser Arbeit ĂŒberprĂŒfen, ob Doppelperfekt und Plusquamperfekt im Alemannischen Deutschlands und im Elsass tatsĂ€chlich funktionsgleich sind. Sollten die beiden Tempora funktionsgleich sein, stellt sich auch hier die Frage, ob ein VerdrĂ€ngungsprozess zu beobachten ist oder ob die Tempora eine Spezialisierung erfahren (haben).
Im Gegensatz zum Plusquamperfekt erhielt das Doppelperfekt in den vergangenen Jahren mehr und mehr Aufmerksamkeit in wissenschaftlichen Untersuchungen (u. a. Hug 2009, Hundt 2011, Buchwald-Wargenau 2012, Zybatow 2015, Brandner et al. 2016, HaĂ 2016, Postler 2018 und Zybatow/Weskott 2018). Die meisten Grammatiken und Untersuchungen, die sich mit dem PhĂ€nomen Doppelperfekt im Standarddeutschen beschĂ€ftigen, versuchen es vom Plusquamperfekt abzugrenzen. Dem Plusquamperfekt bleibt in diesen Arbeiten allerdings zumeist nur die Rolle des Sparringspartners, dem der Ausdruck von Vorvergangenheit unterstellt wird. Eigene Untersuchungen der Funktionen des Plusquamperfekts fehlen auch fĂŒr den Standard gröĂtenteils (eine Ausnahme bildet dabei die Arbeit von Breuer/Dorow 1996).
1.1 Ziele der Arbeit
Diese Arbeit verfolgt das Ziel, das Vorkommen, die Funktionen und die Verwendungsweisen der Vergangenheitstempora im Alemannischen Deutschlands und im Elsass zu dokumentieren beziehungsweise zu analysieren. Somit ergeben sich folgende Teilziele:
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Dokumentation des Sprachwandels: Nimmt die Verwendung des PrÀteritums und des Plusquamperfekts und die areale Ausbreitung des PrÀteritums zu?
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Dokumentation der FormenbestÀnde: Welche Verben werden im PrÀteritum gebraucht? Wird das Plusquamperfekt gebildet?
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ErklÀrung...