Bei der Betrachtung der gegenwĂ€rtigen philosophischen Debatte lĂ€sst sich ein wiederaufkeimendes Interesse an der Gesellschaftstheorie von Karl Marx registrieren, welches nicht nur auf die Feuilletons beschrĂ€nkt bleibt, sondern sich auch auf den akademischen Bereich erstreckt.1 Die Auseinandersetzung mit seiner Theorie oder spezifischen Denkmotiven hieraus erfolgt dabei zumeist in einer direkten AnknĂŒpfung an aktuelle gesellschaftspolitische oder soziale Fragestellungen, die vor dem Hintergrund des Krisengeschehens einer globalisierten Wirtschaft und ihrer Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang erwachsen. Mit der AnknĂŒpfung an die Marxâsche Gesellschaftstheorie verbindet sich die Hoffnung, ein kritisches VerstĂ€ndnis des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu gewinnen, zugleich aber auch den Blick fĂŒr âAlternativen zum Kapitalismusâ freizulegen.2 Entsprechend strukturiert stellt sich dann auch die Interpretations- und Rezeptionslandschaft dar, deren Schwerpunkte die ökonomische Kapitalanalyse, Politik, Ideologiekritik und Entfremdungsproblematik bilden.3 Augenscheinlich wenig Aufmerksamkeit dagegen genieĂt die Auseinandersetzung mit dem Recht im Werk Marxens, das, sofern es ĂŒberhaupt eine explizite Thematisierung erfĂ€hrt, bestenfalls im Klangschatten ökonomischer oder sozialphilosophischer Betrachtungen tangiert wird. Deutlich wird dies nicht zuletzt anhand der Zeitschriftenartikel und SammelbĂ€nde, die in jĂŒngerer Zeit erschienen sind.4 Dieses Bild fĂŒgt sich nahtlos in die gesamte Rezeptionsgeschichte ein, in der das Recht nie ĂŒber die ihm anheimfallende Rolle eines âStiefkind[es]â der Marx-Forschung hinauszugelangen vermochte.5 Bemerkenswert ist dies vor allem vor dem Hintergrund von Forschungsmeinungen, die gerade eine NĂ€he bzw. Zusammengehörigkeit zwischen der ökonomischen Kapital- und der Staatskritik explizit herausstellen, d. h. also jenem Werkteil, der auch die Auseinandersetzung mit dem Recht beinhaltet, zumal sich die AnknĂŒpfung an eine kritische Gesellschaftstheorie stets auch Rechenschaft ĂŒber die institutionellen Konsequenzen sollte geben können, die ihr Verfasser mit seiner Kritik verbunden hat.6 Zu berĂŒcksichtigen wĂ€re schlussendlich auch, dass Marx zunĂ€chst ein Studium der Jurisprudenz aufnahm und sich erst im weiteren Verlauf dieses Studiums der Philosophie und anderen Wissenschaften zuzuwenden begann. Ungeachtet dieser Punkte tritt eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Rechtsdenken Marxens in der Forschung jedoch hinter das Primat der Ăkonomiekritik zurĂŒck und beschrĂ€nkt die Betrachtung des Rechts auf eine bloĂe Randnotiz. GrĂŒnde fĂŒr diese defizitĂ€re Forschungslage sind zum einen darin zu sehen, dass Marx selbst keine systematische Rechts- und Staatstheorie hinterlassen hat. Vielmehr kommt seinen Erörterungen des Rechts ein nur fragmentarischer Charakter zu, da sie als einzelne Textstellen ĂŒber die Publikationen und Exzerpte des gesamten Oeuvres verstreut liegen.7 Zum anderen sind auch die theoretischen Schwierigkeiten zu nennen, die eine Auseinandersetzung mit dem âKernstĂŒck marxistischer Rechtstheorieâ bereitet, der auf dem Primat der Ăkonomiekritik aufbauenden âBasis-Ăberbau-Lehreâ.8 Zu guter Letzt bilden Recht und Staat dann gerade die Werkteile, die am ehesten mit dem Kainsmal realsozialistischer Instrumentalisierungen behaftet sind.9 Des Weiteren wird in der Forschung aber auch immer wieder herausgestellt, dass sich mit dem Wegfall des zentralen weltanschaulichen Schismas der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts erstmals auch die Chance einer von diesen ideologischen Blockaden unabhĂ€ngigen Rezeption der Theorie bietet, die eine Freisetzung ihrer âkritische[n] Kraftâ und âgesellschaftskritischen Potentialeâ ermöglicht.10 In Bezug auf das Rechtsdenken bei Marx steht die Ergreifung dieser Chance bislang noch aus.
Eine umfassende Rekonstruktion des Rechtsdenkens, die den verschiedenen Aspekten seiner Thematisierung im Werk von Marx Rechnung tragen will, muss die werkbiographisch relevante Bedeutung der Philosophie Hegels einbeziehen, das VerhĂ€ltnis zwischen den tendenziell eher rechts- und staatstheoretischen FrĂŒhschriften und der spĂ€teren ökonomie- und politiklastigeren Werkphase bestimmen sowie auch die Werkteile an der Peripherie einbeziehen (Zeitungsartikel, politische Korrespondenz etc.), deren Beachtung aufgrund der ohnehin wenig reichhaltigen Quellenlage unverzichtbar scheint.11 Um sicherzustellen, dass diese Faktoren im Rahmen einer Rekonstruktion auch BerĂŒcksichtigung finden, drĂ€ngt sich eine entwicklungsgeschichtliche Methode auf, die den Weg der Herausbildung und der Weiterentwicklung der Auseinandersetzung mit dem Recht ausgehend von der frĂŒhesten Phase des rechtswissenschaftlichen Studiums bis zur spĂ€teren Werkphase des Londoner Exils nachzeichnet. Eine solche bislang noch nicht vorliegende Rekonstruktion bietet zum einen die Möglichkeit eine alternative Perspektive auf die im Rahmen der Forschung zur Marx'schen Rechtstheorie auftretenden Fragestellungen einzunehmen sowie ĂŒberhaupt erst Fragen aufzuwerfen, die noch keinen Einzug in die Debatte haben finden können: Wie ist die Entwicklung des Rechtsdenkens im Ausgang vom Hegel'schen RechtsverstĂ€ndnis zu sehen? Verficht Marx in seinem Werkverlauf einen Rechtsbegriff, der sich an den rechtsphilosophischen Bestimmungen Hegels orientiert? Welche Rolle kommt der rechtsphilosophischen Vermittlung Eduard Gans' dabei zu? LĂ€sst sich eine KontinuitĂ€t des Rechtsdenkens im Gesamtwerk feststellen? In welchem VerhĂ€ltnis steht das Rechtsdenken zur Ăkonomiekritik? Ist die Rechtsauffassung Marxens auf eine bloĂe Kritik des Rechts reduzierbar? Welche Position vertritt Marx in Bezug auf das moderne Recht? HĂ€lt er an der Vorstellung institutionalisierter Individualrechte fest? Bietet das Rechtsdenken die rechtsphilosophische Grundlage fĂŒr eine hierauf zu entwickelnde normative Rechtstheorie? Zum anderen vermeidet eine umfassende Zusammenstellung die Gefahr, disjecta membra vereinzelter Rechtserörterungen im Werk zur Grundlage des gesamten RechtsverstĂ€ndnisses zu verklĂ€ren. Erst unter dieser Voraussetzung eröffnet sich der Weg zu einem unverfĂ€lschten und vollstĂ€ndigen Bild des gesamten Rechtsdenkens Marxens. Das Fehlen einer solchen Rekonstruktion gilt bislang noch als âDesideratâ.12
Die bisherige Forschungslage zum Recht im Werk von Marx bleibt auf unvollstĂ€ndige oder systematische Rekonstruktionen beschrĂ€nkt, die auf einer selektiven Rezeptionspraxis aufbauen. Eine holistische Perspektive auf die KomplexitĂ€t des Marx'schen Rechtsdenkens wird so aber von vornherein ausgeschlossen und Raum fĂŒr interpretative âMiĂbildungenâ geschaffen, die seinem RechtsverstĂ€ndnis einen nur instrumentellen Charakter zusprechen oder gar einen âRechtsnihilismusâ attestieren.13 Vor allem aber mangelt es an einer umfassenden Rekonstruktion des Rechtsdenkens, die eine dezidierte VerhĂ€ltnisbestimmung der Rechtsbetrachtungen Marxens zur Rechtsphilosophie Hegels beinhaltet.
Ausgangspunkt und prĂ€gendes Signum der Rezeptionsgeschichte bildet die Auseinandersetzung mit dem Recht bei Marx, die im Kontext der erfolgreichen Oktoberrevolution in den 1920er und 30er Jahren in der Sowjetunion erfolgte. Wichtigster Vertreter und âHaupt der sowjetischen Rechtstheorieâ war Eugen Paschukanis, dessen 1924 erschienenes Hauptwerk Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe die Debatte maĂgeblich beeinflussen sollte.14 Locus classicus und Orientierungspunkt seiner Betrachtungen bildete die von Lenin 1917 veröffentlichte Schrift Staat und Revolution.15 In Anlehnung an populĂ€re Textstellen aus den Schriften von Friedrich Engels wird hier der These vom Absterben des Staates auf einer höheren Entwicklungsstufe der kommunistischen Gesellschaft im Kontext politischer UmwĂ€lzungsprozesse eine breite Wahrnehmung eröffnet.16 Dieses Postulat eines institutionellen Suizids, den eine gesellschaftliche VerĂ€nderung auf kommunistischer Basis in den Augen Lenins zu vollziehen habe, beinhaltet letztlich einen Zustand gesellschaftlichen Zusammenlebens, der einer Notwendigkeit rechtlicher Normierungen vollends entbehrt.17 Hieran anknĂŒpfend entwickelt Paschukanis seine marxistische Theorie des Rechts, die vor allem dessen ideologische Funktion in ihren Fokus rĂŒckt und auf dieser Grundlage einen Versuch begrĂŒndet, die Rechtsform parallel zur Entwicklung der Warenform im Kapital herauszuarbeiten.18 Mit der konsequenten Ableitung des Rechts aus der Ăkonomie bleibt seine Theorie aber auf die kritische Dimension der Rechtsbetrachtung Marxens beschrĂ€nkt und mĂŒndet letztlich in jener vollstĂ€ndigen Negation der Institution des Rechts, die bereits in Staat und Revolution postuliert wurde.19 Genauer betrachtet verfĂ€llt die reduktionistische Theorie Paschukanis' in einen rechtlichen Ăkonomismus, dessen Abnabelung von der philosophischen Grundlage des Marx'schen Rechtsdenkens nicht nur einer affirmativen Bezugnahme zum Recht jeden Raum nimmt, sondern eine vollstĂ€ndige Entwurzelung des Individuums als Rechtsperson vollzieht.20
Mit Beginn der sechziger Jahre setzte in den westlichen LĂ€ndern eine kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Rechtstheorie ein. Ungeachtet dieser Kritik verblieb das Augenmerk der Auseinandersetzung weiterhin auf dem Schwerpunkt der ideologischen Rechtskritik im Kontext der ökonomischen Schriften. Bedeutung erlangte vor allem die im Zuge der theoretischen Neuinterpretation des âstrukturalen Marxismusâ Louis Althussers durch Nicos Poulantzas in seinen Arbeiten bewirkte Lesart des VerhĂ€ltnisses von Ăkonomie und Recht.21 Aufbauend auf einem epistemologischen Bruch, den Marx im Ăbergang zum Historischen Materialismus gegenĂŒber seiner an Hegel ausgerichteten philosophischen FrĂŒhphase vollzogen habe, wird durch die strukturale Rekonstruktion der Theorie eine Perspektive geschaffen, die Poulantzas als relative Autonomie des Rechts begreift und die eine vollstĂ€ndige Reduktion des Rechts auf die Ăkonomie nicht mehr zulĂ€sst.22 Ungeachtet dieser Flexibilisierung des VerhĂ€ltnisses von Ăkonomie und Recht fĂŒhrt die Fokussierung auf die Rechtskritik der Kapitalanalyse und die Annahme eines vollstĂ€ndigen Bruchs mit den rechtsphilosophischen Ăberlegungen der frĂŒhen Schriften Marxens zu einer nur verkĂŒrzten Betrachtung seines Rechtsdenkens, die die positive Bestimmung und normative Bedeutung des Rechts fĂŒr das Individuum gar nicht erst in den Blick zu nehmen vermag.23 Gleiches gilt fĂŒr die AnsĂ€tze Oskar Negts und Alessandro Barattas, die ausgehend vom ökonomischen SpĂ€twerk eine materialistische Rechtstheorie zur Bestimmung des ökonomischen Klasseninhalts des Rechts zu entwickeln versuchen, die zugleich die ideologische Funktion des bĂŒrgerlichen Rechts offenlegt.24 Zwar verweist Negt entgegen dem Absterbepostulat auf eine Fortdauer des Rechts auch unter postbĂŒrgerlichen Produktionsbedingungen, schafft es mangels des Einbezugs der frĂŒhen Schriften aber nicht, eine positive Rechtsbestimmung der Marx'schen Theorie zu rekonstruieren.25 Im Ergebnis verzichten sowohl Poulantzas als auch Negt und Baratta auf eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung des Marx'schen Rechtsdenkens und beschrĂ€nken sich ganz auf eine systematische Analyse spezifischer Werkausschnitte, die den Zugriff auf das kritische Potenzial der an Hegel anknĂŒpfenden rechtsphilosophischen Grundlagen bereits im Ansatz blockiert.
Eine weitere Richtung dieser Zeit reprĂ€sentieren die AnsĂ€tze, die die Rekonstruktion einer marxistischen Rechtstheorie mit der kritisch reflektierteren Marx-Interpretation JĂŒrgen Habermas' verbinden.26 Zentral hierbei zeigt sich der Rekonstruktionsversuch der Rechtstheorie Marxens, den Wolf Paul als ei...