Die Macht des Definierens
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Die Macht des Definierens

Eine diskurslinguistische Typologie am Beispiel des Burnout-PhÀnomens

Theresa Schnedermann

  1. 614 pages
  2. German
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Die Macht des Definierens

Eine diskurslinguistische Typologie am Beispiel des Burnout-PhÀnomens

Theresa Schnedermann

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Wo verlĂ€uft die Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit, und wie wird diese im öffentlichen und fachlichen Diskurs ausgehandelt und definiert? Die vorliegende Arbeit untersucht am Beispiel des Burnout-Diskurses, mit welchen Sprachgebrauchsformen und kommunikativen Praktiken in Fach-, Medien- und Vermittlungstexten ein spezifikationsbedĂŒrftiges PhĂ€nomen des Bereichs psychischer Gesundheit und Krankheit definiert wird. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Macht diskursiver Praktiken des Definierens und die These, dass sich diese Praktiken nicht nur punktuell in bewussten Definitionshandlungen einzelner Textautor/-innen zeigen, sondern dass Definieren in einem Diskurs auch als teilweise unbewusster, ĂŒberindividueller, transtextueller Prozess begriffen und analysiert werden muss. Die Exemplifizierung dieser These mĂŒndet in ein 11-Punkte-Modell der diskursiven Praxis des Definierens. Durch den diskurslinguistisch-praxeologischen Ansatz eröffnet die Arbeit neue Perspektiven fĂŒr die linguistische Terminologie- und Definitionsforschung.

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Information

Publisher
De Gruyter
Year
2021
ISBN
9783110727876

1 EinfĂŒhrung

1.1 Problemaufriss

Über die Verborgenheit der Gesundheit
Es gilt, ĂŒber Dinge nachzudenken, die nicht nur den Arzt in seiner Berufsbildung und in seinen Berufsinteressen angehen, sondern die jeden mitbetreffen. Wer kennt nicht die ersten bestĂŒrzenden Erfahrungen im erwachenden Kindesalter? Da wird man plötzlich fĂŒr krank erklĂ€rt, unter der AutoritĂ€t der Eltern, und darf am Morgen nicht aufstehen. Im spĂ€teren Leben hĂ€ufen sich erst recht solche Erfahrungen, die deutlicher machen, daß das eigentlich Sonderbare nicht so sehr in der Krankheit liegt, als im Wunder der Gesundheit.
Hans-Georg Gadamer ([1991] 2010: 133)
Burnout-Kids, Vorwort
»Ich kann nicht mehr!«, sagt Bea, 14 Jahre alt. Sie kommt mit ihren Eltern in meine ­Sprechstunde und berichtet mit erstaunlich nĂŒchternen Worten, dass sie seit einem Jahr zunehmend mĂŒde ist. Sie fĂŒhlt sich bei der kleinsten Kleinigkeit angestrengt, erschöpft, ist danach niedergeschlagen und oft grundlos traurig. Seit Monaten hat sie keinen Appetit mehr, an Durchschlafen ist nicht zu denken. In der Schule kann sie nicht mehr aufpassen, von ihren Freundinnen hat sie sich zurĂŒckgezogen. Ihre Eltern sind hochgradig besorgt und ratlos.
Michael Schulte-Markwort (2015: 11, im Quellenverzeichnis (QV) unter 8.1.5)
Die beiden Eingangszitate werden einander zu Beginn dieser Arbeit gegenĂŒbergestellt, da sie den weiten Bezugsrahmen aufzeigen, in dem wir uns bewegen, wenn wir uns ĂŒber Gesundheit und Krankheit verstĂ€ndigen. In beiden Beispielen geht es darum, dass es einem Kind sichtlich nicht gut geht. Hans-Georg Gadamer beschreibt an spĂ€terer Stelle seines Aufsatzes „Über die Verborgenheit der Gesundheit“, dass die Krankheit das sei, „was sich aufdrĂ€ngt, als das Störende, das GefĂ€hrliche, mit dem es fertig zu werden gilt“ (Gadamer [1991] 2010: 135). Die Gesundheit hingegen „bietet sich nicht selbst an“ (ebd.: 138), sie werde meist von ihrem Gegenteil aus in den Blick genommen und stehe „immer in einem Horizont von Störung und GefĂ€hrdung“ (ebd.: 142).
Auch im Beispiel der vierzehnjĂ€hrigen Bea drĂ€ngen sich ZustĂ€nde auf, die stören und fĂŒr das Kind nicht ‘normal’ sind. Der Text von Michael Schulte-Markwort enthĂ€lt in einer erstaunlichen Dichte Sprachgebrauchsformen, die diese â€șAnormalitĂ€tâ€č explizit und implizit anzeigen, dadurch, dass sie Vorstellungen und Erwartungen von ihm selbst und seinen Leserinnen und Lesern1 zum Gesundheitszustand einer VierzehnjĂ€hrigen konterkarieren oder anzeigen, dass die geschilderten ZustĂ€nde in Opposition zu einem frĂŒheren Erlebenszustand der jungen Patientin stehen: Ich kann nicht mehr; berichtet mit erstaunlich nĂŒchternen Worten, dass sie seit einem Jahr mĂŒde ist; bei der kleinsten Kleinigkeit angestrengt; oft grundlos traurig; keinen Appetit mehr; hochgradig besorgt, ratlos.
Diese Beispiele fĂŒhren in medias res zu einer These, die hinter den noch auszufĂŒhrenden Erkenntnisinteressen dieser Arbeit steht und ĂŒberspitzt, mit Bezug auf Gadamer, lauten könnte: Kollektives Wissen ĂŒber Gesundheit (und Krankheit) ist semiotisch in der Sprache ‚verborgen‘.2
Mit anderen Worten geht es um die umfassende Frage, an welche sprachlichen Zeichen Vorstellungen ĂŒber Gesundheit und Krankheiten im heutigen Sprachgebrauch rĂŒckgebunden sind und in welcher Weise die Sprachgebrauchsformen wiederum die Vorstellungen prĂ€gen. Des Weiteren geht es um die Frage, wie Fach- und Diskursgemeinschaften ihrer Ratlosigkeit zum Beispiel in Bezug auf den spezifischen Fall der vierzehnjĂ€hrigen Bea begegnen bzw. im Allgemeinen auf den Umstand reagieren, dass Wissen zu einem beobachteten PhĂ€nomen im Erleben und Verhalten der eigenen Person oder anderer Personen ­„spezifikationsbedĂŒrftig“ ist.3 Hierbei gibt es grundsĂ€tzlich und insbesondere bei Themen rund um Gesundheit und Krankheit die Reaktionsmöglichkeiten von widerstreitenden Positionen und Einigung in Bezug auf die Frage, wie das Leiden der jeweiligen Person einzuordnen und zu bestimmen ist und wie man von fachlicher, gesellschaftlicher und privater Seite aus darauf reagieren kann und soll. Neben der Überzeugung, dass Wissen insbesondere „in massenmedial operierenden knowledgeable societies“ (Warnke 2009: 113 f.) immer machtgebunden ist und agonal ausgehandelt wird (vgl. Felder 2015; Mattfeldt 2018), wird in dieser Arbeit die Auffassung vertreten, dass es in jeder Gesellschaft oder Gruppe auch ein BedĂŒrfnis nach Koorientierung (vgl. Feilke 1996: 35) und damit nach stabilen, gemeinsamen Wissensinhalten und einer VerstĂ€ndigung ĂŒber diese gibt. Das bedeutet, dass es erstens neben den agonalen (sprachlichen) Praktiken auch konsensuale, unifizierende (sprachliche) Praktiken geben muss,4 die eine Reduzierung konfligierender Standpunkte und „geteilte Akzeptanz von Erkenntnis“ (Warnke 2009: 113) konstituieren, und zweitens, dass es aus GrĂŒnden der gegenseitigen Versteh- und Argumentierbarkeit eine Art sprachliches wiefach- und alltagsweltliches Basiswissen5 geben muss, auf dessen Grundlage die ­Perspektivierungs- und Argumentationsspiele stattfinden können. Dieses Basiswissen, welches nicht (vollstĂ€ndig) bewusst sein muss, kann zwischen den Zeilen bzw. Worten hindurchscheinen und damit Spuren an der Sprach- bzw. Diskurs­oberflĂ€che hinterlassen.6
Die vorliegende Arbeit fokussiert das eben genannte BedĂŒrfnis nach Koorientierung und diskursiver Spezifizierung und interessiert sich vor diesem Hintergrund besonders fĂŒr die folgenden Fragen:
  • Mit welchen Sprachgebrauchsformen und Praktiken wird in Fach-, Medien- und Vermittlungstexten ein spezifikationsbedĂŒrftiges PhĂ€nomen im Bereich psychischer Gesundheit oder Krankheit nĂ€her bestimmt bzw. definiert? In welcher Weise unterscheiden oder Ă€hneln sich medizinische/psychologische und fachexterne AnsprĂŒche an die TĂ€tigkeit des Definierens und Mittel und Praktiken des Definierens?
  • Mit welchen routinierten Sprachgebrauchsformen und Praktiken wird das zu spezifizierende PhĂ€nomen zwischen den Polen â€șgesundâ€č und â€șkrankâ€č verortet?
  • In welcher Weise geben Formen an der SprachoberflĂ€che Aufschluss ĂŒber die „kulturellen, sozialen und familiĂ€ren Normen und Werte[n]“ (Wittchen/Falkai/Stangier et al. 22018: 19), die bei der begrifflichen Fassung bzw. Definition von AuffĂ€lligkeiten im körperlichen oder psychischen Erleben und Verhalten eine Rolle spielen? Inwiefern könnten diese Erkenntnisse fĂŒr die psychologisch-psychiatrische Diagnostik interessant sein?
Der letzte Punkt schließt an Beobachtungen an, die die Herausgeber/innen der aktuellen deutschen Fassung des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V)“ beschreiben. Sie geben in der Einleitung zu diesem Klassifizierungshandbuch zu bedenken, dass die soziokulturellen Einbettungsbedingungen bei fachlichen Definitionen von psychischen Störungen stets reflektiert werden sollten:
Psychische Störungen werden in enger Beziehung zu kulturellen, sozialen und familiĂ€ren Normen und Werten definiert. Kulturelle Aspekte bieten einen Interpretationsrahmen, der das Erleben und die AusprĂ€gung von Symptomen, Beschwerden und Verhaltensweisen formt, die wir als Kriterien fĂŒr Diagnosen verwenden. Kulturelle Aspekte werden innerhalb von Familien, aber auch innerhalb anderer sozialer Systeme und Institutionen weitergegeben, verĂ€ndert oder erschaffen. Eine diagnostische Beurteilung muss daher immer berĂŒcksichtigen, ob sich das Erleben, die Symptome und die Verhaltensweisen Betroffener von den jeweiligen soziokulturellen Normen unterscheiden und zu Schwierigkeiten fĂŒhren, sich an die herrschende Kultur anzupassen oder in einem spezifischen sozialen und familiĂ€ren Kontext zurechtzukommen. Kulturelle SchlĂŒsselaspekte wurden, sofern sie fĂŒr die diagnostische Klassifikation und Beurteilung relevant sind, im Entwicklungsprozess des DSM-5 berĂŒcksichtigt.7 [
]
Die Grenze zwischen NormalitĂ€t und Pathologie variiert fĂŒr bestimmte Verhaltensweisen von Kultur zu Kultur. Es gibt ferner unterschiedliche Schwellen fĂŒr die Akzeptanz bzw. Toleranz spezifischer Symptome und Verhaltensweisen, die ebenfalls je nach Kultur, sozialer Bezugsgruppe oder familiĂ€rem Hintergrund variieren.
(Wittchen/Falkai/Stangier et al. 22018: 19, Unterstreichungen T.S.)
Die Herausgeber/innen des Manuals weisen in diesem Zitat darauf hin, dass „kulturelle Aspekte [
] innerhalb von Familien, aber auch innerhalb anderer sozialer Systeme und Institutionen weitergegeben, verĂ€ndert oder erschaffen“ (ebd.) werden, wobei der Sprache als Kommunikations- und Perspektivierungsmedium (vgl. Köller 2004) eine wichtige Rolle zukommt. Die hier wiedergegebene Passage verdeutlicht zudem, dass Definitionen psychischer Störungen immer im „Spannungsfeld von fachwissenschaftlicher Spezialisierung und menschlichen Alltagserf...

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