1 Hinführung
1.1 Zum Thema der Abhandlung
1.1.1 Allgemeine Bemerkungen und Grundfragestellung
Das vorliegende Buch ist eine philologische Untersuchung mit starker kulturhistorischer Dimension. Mit Berücksichtigung dieser Letzteren können die Umstände seiner Entstehung und sein Anliegen besser verstanden werden.1 Nicht die Zitationstechniken und auch nicht die Frage, in welcher Form Werke der griechischen Klassiker den frühchristlichen Autoren bekannt wurden, werden behandelt. Es geht auch nicht darum, ein Altphilologe würde hier versuchen, die Verwurzelung des Christentums in seinem nichtjüdischen Erbe zu untermauern, sondern eher um das Gegenteil.
Einer der besten Kenner des antiken Judentums und des Urchristentums, Martin Hengel, schrieb: „Was an, paganen Einflüssen‘im Urchristentum vermutet wurde, kann durchweg auf jüdische Vermittlung zurückgehen. Nirgendwo läßt sich eine direkte bleibende Beeinflussung durch heidnische Kulte oder nichtjüdisches Denken nachweisen“.2
Das Wort „nirgendwo“ im letzten Satz ist, wie Hengel selbst richtig bemerkt, der Punkt, an dem sich die Geister scheiden.3 Die Wichtigkeit der alttestamentlichjüdischen Tradition für das entstehende Christentum ist unstrittig; an der Ausschließlichkeit dieser Bedeutung entstehen leicht Zweifel. Es ist doch eine wohlbekannte Tatsache, dass nicht nur Juden, sondern auch viele Nichtjuden schon in der Mitte des 1. Jh.s n.Chr. zu christlichen Gemeinden zählten: Wie konnte die frühe Kirche von den vielfältigen paganen Wirkungen völlig oder fast völlig unberührt bleiben?4
Die von Hengel nie akzeptierte Idee eines „christlichen Synkretismus“ lehnt auch der Autor der vorliegenden Studie ab. Um diesen Standpunkt zu vertreten, habe ich einen schwierigen Weg gewählt, damit die Ergebnisse mehr überzeugen können.5 Die hier von mir vertretene These lautet: Sogar beim Zitieren der paganen Werke bleiben die christlichen Autoren durch das jüdische Gedankengut weit mehr beeinflusst, als durch den Inhalt der von ihnen zitierten paganen Werke.
Dort, wo diese These Zustimmung findet, entsteht leicht der Wunsch, das Argument ins Feld zu führen, pagane Werke würden in den christlichen Schriften nur selten zitiert. Man verweist dabei natürlich auch darauf, dass dies vor allem in neutestamentlichen Schriften der Fall ist, die ja die mit Abstand wichtigsten Texte des ersten christlichen Jahrhunderts (und im Grunde genommen auch des ganzen Christentums) sind.6 Dieses Argument ist aber, obschon nicht falsch, viel zu einfach, um mit ihm die Opponenten der oben angeführten These überzeugen zu können. Es gibt ja immerhin im 2. Jh. n. Chr. auch solche christliche Werke, die relativ viele pagane Zitate enthalten, und in den „Stromata“ des Clemens von Alexandrien wimmelt es von ihnen buchstäblich.
Es besteht andererseits auch keine Notwendigkeit, alle vorhandenen paganen Zitate von vornherein als Merkmal eines großen Respekts vor der griechischen Kultur zu betrachten. Die vielen Äußerungen der christlichen Autoren über die griechischen „Autoritäten“ belehren uns, dass die Letzteren in diesen Urteilen oft weniger gut abschneiden. Stattdessen wird die wissenschaftlich objektivere Möglichkeit genutzt, die der Forschung offen steht, nämlich die Geschichte der Entstehung dieser interessanten Gewohnheit christlicher Autoren zu verfolgen, Zitate aus paganen Werken in ihren eigenen Schriften anzuführen.
Es bleibt noch das Problem, dass es schwierig ist, genau zu beurteilen, welche Disziplin für das uns jetzt interessierende Problem eher zuständig ist. Es ist auf jeden Fall klar, dass das Thema aus verschiedenen Perspektiven auch sehr unterschiedlich gesehen werden kann. Was für die Einen absolut selbstverständlich ist, mag für andere als absolutes Novum erscheinen. Für die Letzteren wird dann das Interessanteste an der vorliegenden Arbeit das Hauptergebnis sein, für die Ersteren eher vielfältige Details.
Die Frage, die in diesem Buch gestellt wird, lautet: Warum haben christliche Schriftsteller der frühen Zeit nicht nur die Heiligen Schriften (zunächst des Alten, dann zunehmend auch des Neuen Testaments) gerne zitiert, sondern auch die Autoren, die unter „die Äußeren“7 fallen?
1.1.2 Umfang des Stoffes und terminologische Bezeichnungen
Anfangs muss zum einen der Umfang des Themas genau bestimmt werden, zum andern sind Erläuterungen zur verwendeten Terminologie vonnöten.
Unter den „paganen Schriften“ werden hier diejenigen verstanden, die von den griechischen Schriftstellern und Dichtern der klassischen und hellenistischen Zeit verfasst worden sind. Außer den Texten der jüdischen Tradition sind auch solche ausgeschlossen, die zu anderen, für die griechische Antike mindestens teilweise fremden Traditionen gehören, etwa zur babylonischen oder ägyptischen.
Für pagane Literaturtraditionen wurden im russischen Original dieser Studie häufig Termini extern und außerbiblisch8 gebraucht, gelegentlich auch außersynagogal. Diesen standen intern, biblisch und synagogal gegenüber als Bezeichnung für jüdisch und christlich im literarischen Sinne. Sowohl die Synagoge als auch die Kirche wurden von den Menschen besucht, die teilweise zur biblischen Kultur von Geburt und Erziehung gehörten, teilweise aber nicht. Alle „Besucher“ waren aber durch ihre Vertrautheit mit der Bibel und der biblischen Tradition und durch zumindest partielle Entfremdung von der paganen (außerbiblischen) Tradition miteinander verbunden. Im vorliegenden Buch werden diese Bezeichnung viel seltener verwendet. Trotzdem möchte der Autor darauf aufmerksam machen, dass die im Original vorgeschlagene Unterscheidung in philologischer Hinsicht viel bedeutsamer ist, als die Frage der Einhaltung bzw. Nichteinhaltung der Einzelgebote der Tora. Auch der Grad der Vertrautheit und der Entfremdung mag von Bedeutung sein, was in Bedarfsfällen ausführlicher diskutiert wird.
Es war notwendig, den Umfang der zu behandelnden Texte rein philologisch einzuschränken, d. h. die Fragen zu beantworten, was genauer als Zitat gelten soll, wodurch sich ein Zitat von einer Anspielung unterscheidet, und in welchem Maße auch indirekte Zitate in Betracht gezogen werden sollen. Genauso wie bei der Wahl des Betrachtungshorizonts (s. 1.1.1) war es auch hier höchst wichtig, eine aussichtsreiche Methode zu finden. Keine der vielen Theorien der „Intertextualität“, wie sie in den letzten vierzig Jahren aufgestellt worden sind, konnte a priori als eine solche Methode akzeptiert werden.9 Es muss hier deutlich gemacht werden, dass unsere Definition des Zitats durch die Bedürfnisse unserer Arbeit bestimmt ist. Durch das Wort Zitat wird eine Einfügung eines fremden Textes in das eigene Werk des Verfassers bezeichnet, die mit Sicherheit oder doch mit großer Wahrscheinlichkeit absichtlich ist und die Herkunft des benutzten Textes von einem anderen Autor deutlich machen will. Ein Zitat kann genau oder ungenau sein; eine Erwähnung oder Nichterwähnung des zitierten Autors bzw. eines Werkes ist nicht entscheidend. Selbstverständlich können nur diejenigen Zitate für alle LeserInnen bemerkbar sein, die als solche speziell gekennzeichnet sind.
Als Anspielung wird hingegen eine relativ knappe Aufnahme eines fremden Textes bezeichnet, wenn es nicht bzw. wenig wahrscheinlich ist, dass viele Leser die Herkunft des benutzten Textes bemerken können. Eine Anspielung kann zitatähnlich sein, wo es sich um eine relativ genaue Wiedergabe des Originalwortlauts handelt. Nichtbeabsichtigte Verwendungen fremder Texte können von gewollten Anspielungen selten sauber unterschieden werden, fallen deswegen unter eine Kategorie mit diesen Letzteren. Somit überlappen sich, wie es auch sachgemäß ist, Zitate mit Anspielungen, jedoch nur zum kleinen Teil.
Es wird (wesentlich seltener) auch die Bezeichnung Nacherzählung verwendet. Darunter wird eine Einfügung des Inhalts eines größeren fremden Textes in das eigene Werk des Verfassers verstanden, wenn derselbe dabei nicht versucht, diesen Text im obengenannten Sinne zu zitieren.
Auch soll erwähnt werden, dass es in dieser Studie außer um Zitate und Anspielungen auch um nachahmende Überarbeitungen paganer Texte gehen wird. Solche nachgeahmten Texte, die als Imitationen bezeichnet werden, stehen als Untersuchungsobjekte nicht auf einer Ebene mit Zitaten, dürfen aber keineswegs übersehen werden (s. vor allem 2.5).
1.1.3 Vorbemerkung zu eventuellen paganen Vorläufern
Die folgende Vorbemerkung bezieht sich auf die Entscheidung des Autors, von der Annahme eines direkten Einflusses der paganen „Klassik“ auf die christlichen Schriftsteller abzusehen.
In den christlichen Werken, in denen pagane Zitate am häufigsten vorkommen, nämlich in den apologetischen Traktaten des 2. Jh.s, werden die christliche und die pagane Kultur, vor allem aber die beiden Literaturen, scharf einander gegenüber gestellt. Eine ähnliche Entgegensetzung ist innerhalb der paganen Literatur unvorstellbar.
Es ist z. B. undenkbar, dass irgendein vorchristlicher paganer Verfasser auf Plato oder Homer als auf „Schüler des Mose“ verwiesen hätte, dass er jüdische Fälschungen mit biblischen Motiven unter dem Namen einer Sibylle zitieren würde oder einen Homer die Wahrheit der jüdischen Heiligen Schrift bezeugen ließe. Innerhalb der paganen Tradition der Antike ist schon die Hervorhebung der Gruppe der „griechischen Dichter und Philosophen“ unmöglich, die dabei noch einerseits den Propheten der Bibel entgegengesetzt wird, andererseits aber den „unwissenden“, „ungläubigen“ und den Christen (oder Juden) gegenüber feindlich gesinnten „Heiden“.
Gerade diese und ähnliche Züge sind jedoch für das Zitieren der christlichen Apologeten und des Clemens von Alexandrien charakteristisch, wobei dies...