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Hegemonie und Kulturkampf
Verknüpfung von Neoliberalismus und Islam in der Türkei
- German
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Über dieses Buch
Die Türkei durchläuft einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf den politischen Autoritarismus und die Repression richtet, rückt Errol Babacan die kulturkämpferische Dynamik in den Blick. Auf der Basis einer Feldstudie bestimmt er die Regierungspartei AKP als Trägerin eines Hegemonieprojekts, das mit einer wachsenden Schicht religiöser Akteure vernetzt ist, die ihre Stellung sukzessive ausbauen. Die Religionsbehörde Diyanet, theologische Schulen und islamische Bruderschaften werden dabei im Zentrum einer religiösen Privilegienstruktur verortet, deren sozio-ökonomische Grundlage ein neoliberales Armutsregime ist.
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Information
1.Einführung
Die Gründung der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) im Jahr 2001 markiert eine Zäsur in der Geschichte des politischen Islam. Eine Gruppe von »Erneuerern« unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan spaltete sich von einem »traditionalistischen« Flügel der islamistischen Milli Görüş Bewegung ab. Mit Erdoğan wechselte ein großer Teil der Bewegung in die neue Partei und brachte die über Jahrzehnte akkumulierten Organisierungs- und Mobilisierungsressourcen und das in den Kommunen erworbene Regierungswissen mit. Die neue Partei stand dadurch von Anfang an auf einem breiten Sockel. Ihr erster Wahlerfolg von 2002 war bedingt durch eine vom neoliberalen Regime verursachte schwere politische und ökonomische Krise. Die Wähler quittierten die mit der Krise verbundenen harten sozialen Einschnitte, indem sie der regierenden Parteienkoalition ihr Vertrauen entzogen. Mit nur 34 Prozent der Wahlstimmen erreichte die aus der Opposition gestartete AKP aufgrund des türkischen Wahlsystems nahezu eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Sie konnte eine Regierung bilden, ohne Koalitionen eingehen zu müssen. In der Folge gelang ihr eine Stabilisierung des neoliberalen Regimes, sie konnte ein Hegemonieprojekt aufbauen und dieses schrittweise in ein Staatsprojekt überführen.
In den ersten zehn Jahren ihrer Regierungszeit verbanden sehr viele mit der AKP die Erwartung einer politischen Liberalisierung. Die politischen Islamisten, so die Annahme, hatten sich unter der transformativen Wirkung des »freien Marktes« und des Parlamentarismus in konservative Demokraten verwandelt. Die Partei wurde als Projekt einer gläubigen Mittelklasse begriffen, die die kulturellen Werte der Mehrheitsbevölkerung repräsentiere und den neoliberalen Entwicklungspfad mit demokratischen Zielen verknüpfe. Die Rede war von einer konservativen Revolution von unten, die von der Zivilgesellschaft, bestehend aus der neuen Mittelklasse und assoziierten Intellektuellen, angeführt werde. Konzepte wie »Normalisierung«, »Westernisierung«, »Vermählung des Neoliberalismus mit dem Islam« und »Säkularisierung des Islam« spiegelten die Erwartung eines Epochenbruchs in der Geschichte der Türkei.
Als politischer Widerpart der AKP wurde eine kulturell marginale, autoritäre Staatselite ausgemacht, die sich im Militär und der Justiz verschanzt hatte und in Verteidigung ihrer Privilegien gegen die neoliberale Öffnung stemmte. Die Staatselite verkörperte aus dieser Transformationsperspektive volksfremde und elitäre Werte, sie führte zur Verteidigung ihrer Machtposition einen Kulturkampf auf der Grundlage des Laizismus. Durch die Frontenbildung wurde dem Geschehen eine höchst dramatische Note verliehen. Die »konservativen Demokraten« sollten die in der Geschichte der Türkei unvollständig gebliebene bürgerliche Revolution vollenden, indem sie der in den Gründungsprinzipien der Republik ausgemachten »autoritären Staatstradition« ein Ende bereiteten.
Die Niederschlagung des Aufstands im Sommer 2013, der im Istanbuler Gezi-Park begann und sich sukzessive auf das ganze Land ausbreitete, bereitete der Erwartung einer politischen Liberalisierung ein Ende. In der Folge vollzog sich ein bemerkenswertes theorie-politisches Manöver. Die prominente These von der neuen demokratisierenden Mittelklasse, die als Trägerin der Transformation bestimmt worden war, wurde stillschweigend fallengelassen. Unversehens wurde davon ausgegangen, die AKP habe sich verselbständigt, von ihrer gesellschaftlichen Anbindung gelöst und quasi über Nacht in eine autoritäre Partei verwandelt.
In meiner Studie werde ich die These vertreten, dass es keine autoritäre Verwandlung, sondern eine kontinuierliche Entwicklung gegeben hat. Die Erwartung einer Demokratisierung stellte ein theoretisch angeleitetes Missverständnis dar. Es wurde zur Basis für die wohlwollende Begleitung und Förderung der ohnehin großen gesellschaftlichen Unterstützung des Projekts der AKP, mit dem das politische System von einer parlamentarischen Demokratie in ein autoritäres Präsidialsystem überführt wurde. Als – aufgerüttelt durch den landesweiten Aufstand – die Entwicklungstendenzen auch von den Verfechtern einer Liberalisierung erkannt wurden, war das Projekt schon sehr weit fortgeschritten.
Das Missverständnis beruhte maßgeblich auf zwei Irrtümern, deren Aufrechterhaltung auch die Analysen der gegenwärtigen Kräftekonstellation noch prägt. Zum einen wurde das Verhältnis zwischen der AKP und den gesellschaftlichen Klassen auf fehlerhafte theoretische Annahmen gegründet. Die die AKP konstituierende gläubige Mittelklasse, hinter der sich ein bestimmter Teil der Unternehmerschaft des Landes verbarg, war zu keiner Zeit Vertreterin bürgerlicher Werte wie »Freiheit« oder »Gleichheit«. Sie kann eher als gesellschaftliche Trägerin eines neoliberalen Armutsregimes beschrieben werden, das eine große Masse der Bevölkerung in einen Status der Unmündigkeit drängt. Der politische Autoritarismus der AKP findet einen breiten gesellschaftlichen Nährboden in diesem Armutsregime. Zum zweiten wurde die Rolle der Religion im politischen Projekt der Partei nicht adäquat erfasst. Die Religion stellt keinen authentischen kulturellen Wert dar, sondern eine moralisch-ethische Kraft, mit der der Status der Unmündigkeit legitimiert und auf Dauer gestellt werden soll.
Einsetzend mit dieser Kritik wird die vorliegende Studie die Forschungsfrage aufnehmen, welche Rolle die Religion im politischen Projekt der AKP im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Klassen erhielt. Sie wird an theoretische Konzepte anknüpfen, die das politische Projekt der AKP als neoliberalen Autoritarismus bestimmen und Religion als kulturelles Mittel in der Regulierung der Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen begreifen. Auf der empirischen Grundlage einer ethnographischen Feldstudie wird sie in Weiterführung dieser Konzepte die Rolle der Religion neu bestimmen. Die primäre These wird sein, dass die religiöse Trägerschaft dem politischen Projekt eine besondere Dynamik verleiht. Im Zuge einer genaueren Bestimmung der kulturellen und sozialen Merkmale der Trägerschaft wird die Studie eine religiöse Privilegienstruktur offen legen, die sich in Form von öffentlichen Institutionen wie der staatlichen Religionsbehörde und theologischen Bildungsinstitutionen in Verschränkung mit privaten religiösen Netzwerken realisiert. Die Studie wird aufzeigen, dass die Struktur von Akteuren getragen wird, deren Affiliation mit der Religion sie auch zu Nutznießern ökonomischer Privilegien macht.
In Auseinandersetzung mit Religionskonzepten, durch die die besondere Leistung der AKP als »Säkularisierung des Islam« charakterisiert wird, wird diese Studie schließlich eine Definition von Islamismus vorschlagen. Islamismus wird als Doppelbewegung zwischen Regulierung der Beziehungen zwischen den Klassen und Etablierung einer Privilegienstruktur auf der Grundlage religiöser Ideen und Praktiken bestimmt. Der Kulturkampf wird als Modus Operandi re-konzeptualisiert, über den die religiöse Trägerschaft ihre Privilegien politisch ausficht. Indem die Religion als kulturelles Zentrum einer Privilegienstruktur bestimmt wird, kann die Islamisierungsdynamik in der Türkei als umfassender Ausgrenzungsprozess säkularer und der dominanten Auslegung des Islam widersprechenden Praktiken und Wissensbestände aus der gesellschaftlichen Partizipation begriffen werden.
Im Zuge der Begründung dieser Thesen wird auch eine Antwort auf die Frage entwickelt, warum die AKP trotz aller Turbulenzen immer noch standhalten kann. Nach inzwischen 17 Jahren an der Regierung hat die Partei etliche Krisen und interne Querelen überstanden, an denen viele andere Parteien wahrscheinlich gescheitert wären. Trotz substanzieller Verluste beim Führungspersonal – von den prominenten Parteigründern ist einzig Tayyip Erdoğan übrig geblieben – und trotz eines Putschversuchs ehemals verbündeter Kräfte im Jahr 2016 ist die Partei nicht auseinandergebrochen. Selbst über schwere ökonomische Krisen hinweg konnte die AKP große Teile der Bevölkerung an sich binden und ein Zersplittern des rechten Lagers verhindern. Ihre gesellschaftliche Stärke, so das Argument dieser Studie, bezieht die Partei aus der Fähigkeit, die Beziehungen zwischen den Klassen zu moderieren. Ihre Besonderheit liegt im Aufbau der erwähnten Privilegienstruktur, mit der die Reproduktion einer wachsenden Schicht religiöser Intellektueller verknüpft ist, die der Partei Orientierung und Zusammenhalt verleihen.
2.Vorgehen und Werdegang der Studie
Die Bearbeitung der Forschungsfrage erfolgt auf dem Wege der Theorierekonstruktion. Die Vorgehensweise bei der Theorierekonstruktion besteht in der Überprüfung einer existierenden Theorie anhand eines empirischen Falls (Burawoy 1998). Die zu überprüfende Theorie dieser Studie ist die auf Antonio Gramsci zurückgehende Hegemonietheorie. Als ich 2008 mit der Konzipierung der Studie begann, war die Favorisierung eines hegemonietheoretischen Zugangs dadurch begründet, dass der AKP eine zentrale Rolle in der konsensualen Stabilisierung des neoliberalen Projekts zuzukommen schien. Die Partei wurde in der Forschungsliteratur als Bündnis charakterisiert, das disparate gesellschaftliche Kräfte unter der Führung einer Fraktion der Bourgeoisie integrierte und eine Entwicklungsperspektive vorbrachte, die Zusammenhalt in einer gespaltenen Gesellschaft organisierte. Es erschien sehr ungewöhnlich, dass ausgerechnet diese Partei, deren in der islamistischen Bewegung verwurzeltes Personal über Jahrzehnte den Umsturz der demokratischen und laizistischen Ordnung verfolgt und dabei etliche politische Krisen provoziert hatte, sich dem Laizismus, der Demokratie und einer pluralistischen Erneuerung verpflichtet haben sollte. Die vermeintliche Annäherung an die laizistische Demokratie deutete auf einen Wandlungsprozess, der sich in hegemonietheoretischen Begrifflichkeiten als eine Form der passiven Revolution hypothetisch fassen ließ. Die hiervon ausgehende Frage war, ob und wie dieser Wandlungsprozess, der nahezu die gesamte islamistische Bewegung mit der AKP erfasst und sich mit einem Expansionsprozess durch Integration bewegungsferner Kräfte verbunden zu haben schien, hegemonietheoretisch genauer bestimmt werden könnte.
Eine zweite Ungewöhnlichkeit bestand darin, dass die AKP breite Zustimmung von den im Zuge neoliberaler Politik sozial entrechteten und verarmten ArbeiterInnen erhielt, obwohl sie sich nachdrücklich der Fortführung neoliberaler Politik verschrieben hatte. Der Sachverhalt forderte die hegemonietheoretische Annahme heraus, dass die Hegemonie herrschender Klassen auf der Grundlage materieller Konzessionen, zumindest an Teile der beherrschten Klassen, beruht. Die konkrete Herausforderung der Theorie anhand des Falls Türkei war gerahmt von Bedenken in der Forschungsliteratur bezüglich der räumlichen und zeitlichen Reichweite von Hegemonietheorie. Sie wurden sowohl mit Blick auf die Übergänge innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise vom Fordismus zum Neoliberalismus (Demirović 2006a; Hirsch 2005: 197ff.) als auch hinsichtlich der Anwendbarkeit von Hegemonietheorie auf Gesellschaftsformationen der kapitalistischen Peripherie vorgebracht (Becker 2008). Vor diesem Hintergrund verband ich das Vorhaben der Theorierekonstruktion mit dem Ziel, einen Beitrag zur Frage nach der räumlichen und zeitlichen Reichweite von Hegemonietheorie zu leisten.
Um Einblicke in die Wandlungs- und Expansionsprozesse sowie Generierung von Zustimmung für das Projekt der AKP zu gewinnen und damit eine empirische Grundlage für die Theorierekonstruktion zu legen, nahm ich mir vor, die Zusammensetzung und gesellschaftliche Verankerung dieser Partei anhand von zwei lokalen Fallbeispielen zu erforschen. Für die Feldstudie bestimmte ich zwei Großstädte, in denen der expansive Integrationsanspruch der AKP an erkennbare Grenzen stieß: Izmir und Diyarbakır. Die AKP erzielte dort Ergebnisse unter dem landesweiten Durchschnitt. Die Metropole Izmir mit etwa drei Millionen EinwohnerInnen an der ägäischen Küste im Westen des Landes wurde von der Republikanischen Volkspartei (CHP) regiert. Die Großstadt Diyarbakır mit etwa 650.000 EinwohnerInnen im kurdischen Südosten der Türkei wurde hingegen von der Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) regiert. Beide Parteien befanden sich auf nationaler Ebene und in fast allen anderen Großstädten in der Opposition. Die Untersuchung in diesen beiden Städten durchzuführen, erschien mir aus zwei Gründen sinnvoll. Zum einen standen Kommunalwahlen an und es hieß, die AKP richte ein besonderes Augenmerk auf diese beiden Städte und werde dort einen besonders engagierten Wahlkampf führen. Ich nahm an, dass hiermit intensive Aktivitäten verbunden sein würden, die mir auch den Zugang zum Feld erleichtern könnten. Zum anderen erschien es mir aufschlussreich, sich dem Untersuchungsgegenstand gewissermaßen von seinen Grenzen her anzunähern. Izmir galt als politische Hochburg des Kemalismus und Diyarbakır als eine der kurdischen Bewegung. Zugleich bestand die Erwartung, dass die AKP mit ihrem expansiven Integrationsanspruch auch diese beiden Städte erobern werde (vgl. Doğan 2009b). Umso mehr stand für mich die Frage im Raum: Warum war es der AKP, deren Personal sich von seiner historischen Verbindung zur islamistischen Bewegung emanzipiert und einem pluralistischen Projekt zugewandt haben sollte, bisher nicht gelungen, in diesen Städten Mehrheiten zu generieren?
Mein erster Feldaufenthalt fand im März 2009 statt und war auf drei Wochen begrenzt. Das hauptsächliche Ziel bestand darin, den noch relativ unerforschten Untersuchungsgegenstand explorativ zu erschließen. Mit Exploration ist das Sammeln von Informationen über einen Untersuchungsgegenstand gemeint, das die erste Überprüfung vorhandener Hypothesen und eventuell die Formulierung neuer Hypothesen vorbereitet (Bortz/Döring 2006: 356). Zu dieser Zeit gab es außer journalistischen Recherchen noch keine profunde Literatur über den Parteiapparat und seine gesellschaftliche Einbettung. Auf eine bestimmte Datenerhebungsmethode hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt. Ich wollte zunächst sondieren, ob ich überhaupt einen Zugang zum Feld erhalten würde. Ins Auge gefasst hatte ich, Experteninterviews zu führen und Dokumente zu erheben. Die Experteninterviews sollten mir das Wissen professioneller Beobachter der Parteienlandschaft zugänglich machen und dazu verhelfen, meine Ausgangshypothesen zu hinterfragen. Sofern möglich, sollten sich teilnehmende Beobachtungen und halbstandardisierte Interviews mit Parteifunktionären anschließen, wofür ich einen Leitfaden vorbereitet hatte.
Die Aufnahme erster Kontakte mit Funktionären erfolgte rascher, als ich erwartet hatte. Im Vorfeld hatte ich eine sich kurzfristig ergebende Chance ergriffen, als Dolmetscher für eine Reisegruppe deutscher GewerkschafterInnen zu arbeiten, zu deren Programm auch ein Besuch der AKP-Zentrale in Istanbul gehörte. Dort knüpfte ich meinen ersten Kontakt, der mir wiederum einen Kontakt in Izmir vermittelte. Durch die Verlegung des Aufenthalts in die Zeit des Kommunalwahlkampfs waren die Akteure tatsächlich leicht zu erreichen. Schon nach wenigen Gesprächen in Wahlkampfbüros, die es in jedem Stadtviertel gab, knüpfte ich Bekanntschaften zu Funktionären und durfte an einem Treffen der Parteijugend teilnehmen. Aus ihnen ergaben sich alle weiteren Interview-, Gesprächs- und Beobachtungsgelegenheiten, auch im weit entfernten Diyarbakır.
Nachdem die Sondierung abgeschlossen war und die ersten Daten vorlagen, hatte ich den Eindruck gewonnen, dass Elemente der AKP-Politik, die ich für wichtig erachtet hatte, weniger bedeutsam waren, während andere nach vorne rückten. Die ersten Interviews lieferten nur sehr begrenzte Einsichten. Professionalisierte Politiker pflegten einen eingeübten Diskurs, von dem sie kaum abwichen. Sie sprachen im sichtlichen Bemühen, ein weltoffenes, liberales, pluralistisches Bild zu transportieren. Ich wurde als Botschafter adressiert, der dieses Bild in die Welt tragen sollte. Zu den häufigeren Sätzen zählten: »Wir sind für alle da«, »Wir kleben nicht an unseren Sesseln so wie diejenigen vor uns«, »Unsere Politik ist transparent«, »Wir stehen für Frieden und Konsens in der Gesellschaft«. Der Einfluss professionalisierter Rhetorik erschien mir groß. Die Durchführung der Interviews während des Wahlkampfs erwies sich an diesem Punkt als Nachteil.
Als ergiebig stellte sich die teilnehmende Beobachtung heraus, durch die sich ein Einblick in die gesellschaftliche Einbettung der Partei und ihre Praktiken eröffnete. Der teilnehmenden Beobachtung liegt die Annahme zugrunde, dass durch Teilnahme an Interaktionen und Situationen Aspekte von Praktiken beobachtbar und erfahrbar werden, die in Gesprächen und Dokumenten über diese Situationen nicht zugänglich sind (Breidenstein u.a. 2015: 71ff.). So fiel mir bereits im Zuge erster Beobachtungen eine deutliche Repräsentation des türkischen Islamismus im Umfeld der Partei auf, der in der theologischen Ausbildung der Parteijugend und deren Verbindungen zu religiösen Netzwerken verankert war. Mein Blick wurde auf einen Aspekt gelenkt, den ich in der Planung der Studie zwar berücksichtigt, aber nicht für zentral gehalten hatte. Dass das Personal der AKP nicht nur fromm, sondern zu einem erheblichen Teil in der Tradition des politischen Islam verwurzelt war, war mir selbstverständlich bewusst. In der wissenschaftlichen Literatur und den Medien wurden jedoch im Einklang mit prominenten Parteimitgliedern ein klarer Bruch mit dieser Tradition und ein Wandel des türkischen Islamismus behauptet. Meine ersten Beobachtungen vor Ort widerlegten die Behauptung dieses Bruchs zwar nicht eindeutig, sie stellten jedoch eine Irritation dar, die durch weitere Ereignisse, die dem vorherrschenden Bild über die Partei widersprachen, verstärkt wurde.
Eine Irritation war bereits während meiner ersten Begegnung mit einem Parteifunktionär entstanden, den ich im Rahmen meiner Dolmetscher-Tätigkeit in der Istanbuler AKP-Zentrale getroffen hatte. Nach einem einführenden Vortrag des Vorstandsmitglieds für die gewerkschaftliche Reisegruppe über Charakter und Ziele der Partei folgte eine Fragerunde, bei der die Antwort immer wieder auf den breiten Repräsentationsanspruch der Partei hinauslief. Auf eine Frage, wie seine Partei zur in jüngerer Zeit vermehrt diskutierten »Armenier-Problematik« stehe und wie sie die Vertreibung der Armenier des Osmanischen Reichs bewerte, antwortete der Funktionär:
Es war Krieg und wir waren von allen Seiten umzingelt. Im Osten haben wir gegen die Russen gekämpft. In einem Krieg müssen alle zusammenstehen. Um den Feind bekämpfen zu können, muss das Hinterland ruhig sein. Der Rücken muss frei sein. Stellt euch vor, ihr kämpft gegen jemanden. Da ist eine Front und euch gegenüber steht der Feind. Doch plötzlich kommt jemand von hinten und will euch erschießen. Stellt euch das vor. Was würdet ihr tun? Ihr würdet euch verteidigen, nicht wahr? Ihr würdet das nicht hinnehmen. So war das mit den Armeniern. Sie sind uns in den Rücken gefallen. Es war Krieg und das konnte nicht hingenommen werden. Es musste etwas getan werden. Was mit den Armeniern passiert ist, hängt damit zusammen.
Nachdem ich die Antwort für die Reisegruppe übersetzt hatte, herrschte beklommenes Schweigen. Das war nicht die AKP, die in deutschen Zeitungen unisono für ihr Einstehen für Völkerverständigung und eine demokratische Erneuerung von Unten gelobt wurde, die sich in Distanz zur bisher dominierenden türkischen Geschichtsthese für eine gemeinsame Historikerkommission mit Armenien einsetzte und eine »ergebnisoffene Untersuchung des Verschwindens armenischen Lebens« aus Anatolien versprach. Stattdessen waren wir mit der klassischen Dolchstoßlegende konfrontiert worden, die den Genozid als einen Akt der Selbstverteidigung im Rahmen von Kriegshandlungen rechtfertigte.
Mit zahlreichen Eindrücken und einigen Irritationen im Gepäck trat ich die Rückreise nach Deutschland an. Ich stand vor der Frage, wie ich weitermachen sollte. Ich entschied, den erkundenden Zugang der teilnehmenden Beobachtung beizubehalten und die Spuren, die sich gezeigt hatten, weiterzuverfolgen. Unterdessen wurde ich in der Zeit bis zur zweiten Reise mit einer Reihe neuer Veröffentlichungen zu meinem Forschungsgegenstand konfrontiert. Ab 2009, kurz nach Beginn meiner Arbeit, erschienen erste umfangreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen zur AKP. Es mag nicht erwähnenswert, weil erwartbar erscheinen, dass im Laufe einer Studie neue Literatur über den Forschungsgegenstand veröffentlicht wird. Doch war ich mit einer außergewöhnlichen Häufung konfrontiert, ...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titelseite
- Impressum
- Inhalt
- Vorbemerkung und Danksagung
- Abkürzungsverzeichnis
- 1. Einführung
- 2. Vorgehen und Werdegang der Studie
- Teil I – Stand der Forschung
- Teil II – Theoretische Perspektive
- Teil III – Entwicklungsgeschichte und Konstitutionsmerkmale des islamistischen Hegemonieprojekts
- Teil IV – Religiöse Infrastruktur und Praxis
- 7. Fazit: Hegemonie, Kulturkampf und sunnitische Privilegien – Was ist Islamismus?
- Literatur- und Quellenverzeichnis