I
DAS PARFÜM DER GEWALT
§ 7
Stellen wir uns vor. — Im Jahr 101 945003 stößt ein Ethnohistoriker auf den Roman »Das Parfüm« von Patrick Süskind.004 Da Romane seiner Auffassung nach »irgendwie« die soziale Wirklichkeit ihrer Zeit widerspiegeln, schließt er aus diesem, es müsse in der grauen Vorzeit üblich gewesen sein, dass Jungfrauen ermordet werden, um Parfüm aus ihnen herzustellen. Hierdurch sensibilisiert, gräbt nun ein Kollege den Krimi »Leichenschmaus« von Brigitte Glaser aus.005 In ihm hilft ein Meisterkoch seiner durch Depression bedrohten Kreativität hoch, indem er aus Fleisch von zuvor durch ihn eigenhändig getöteten Mitmenschen Hochgenüsse für die Restaurantgäste zaubert. Noch bleibt die Fachwelt skeptisch, in wie weit diese zugegebenermaßen fiktiven Texte Rückschlüsse auf die Realität des zwanzigsten Jahrhunderts zulassen. Da aber tauchen die Prozessakten eines »Kannibalen von Rotenburg«006 auf. Alle Zweifel sind wie weggeblasen.
§ 8
Pinker’s Rhetorik. — In analoger Art geht Steven Pinker vor in dem 1000-Seiten-Buch »Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit«,007 um zu beweisen, das »Gewaltniveau«008 in »prähistorischen« Zeiten und in »nichtstaatlichen«, »anarchischen«, »anarchistischen« Gesellschaften009 sei stets höher als unter den schlimmsten Terrorherrschaften.010 Auf der einen Seite präsentiert er uns reißerisch Anekdoten, ohne auch bloß einen einzigen Gedanken an ihre Fähigkeit preiszugeben, dass man verallgemeinerbare Aussagen über frühere Zeiten aus ihnen macht. Wie achtlos er dabei vorgeht, zeigt sich etwa auch darin, dass er die »Eiserne Jungfrau « als frühneuzeitliches Folterinstrument beschreibt, obgleich es sich bei ihr aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Mythos handelt.011 Auf der anderen Seite setzt er uns Statistiken und Grafiken vor mit Zahlen, deren Zustandekommen er meist auch unerklärt lässt. Die Leser sollen sie wohl, eingestimmt durch die Anekdoten, hinnehmen und glauben. Bei der »Rekonstruktion« des Tods von Ötzi, einer 1991 gefundenen Gletschermumie, behauptet Pinker, Ötzi gehörte »zu einer Gruppe, die Überfälle beging und mit einem Nachbarstamm aneinandergeraten war. Er tötete einen Mann mit einem Pfeil, holte sich seine Waffe zurück, tötete einen zweiten, holte sich wiederum die Waffe und trug einen verwundeten Kameraden auf dem Rücken davon, bevor er einen erneuten Angriff abwehren musste und selbst einem Pfeil zum Opfer fiel«.012 Obgleich inzwischen die meisten Experten, die sich mit einer Rekonstruktion des Tods von Ötzi befassen, tatsächlich von einem gewaltsamen Tod ausgehen, wird die zitierte Rekonstruktion Pinkers keineswegs allgemein geteilt,013 eher widerspricht sie einer Reihe der Fakten.014 Die Darstellung von Pinker mit dem Anschein, der Hergang von Ötzis Tod sei auf diese Weise und nicht anders zu rekonstruieren, ist suggestiv. Über sieben Seiten referiert er Gräueltaten, die im Alten Testament, der Thora, beschrieben werden, teilweise versehen mit genauen Zahlenangaben über die Opfer, bis der Satz kommt: »Das meiste davon hat in Wirklichkeit nie stattgefunden.«015 Ob die biblischen Geschichten, vor allem die Zahlenangaben, dennoch eine sozio-historische Relevanz haben, diskutiert Pinker nicht.
§ 9
Das Massaker von Crow Creek. — Bei Pinkers Gegenüberstellung der Gewalt unter »prähistorischen« und »nichtstaatlichen « Gesellschaften im Verhältnis zu »Staaten«016 belegt das sogenannte Crow-Creek-Massaker mit der Quote von sechzig Prozent getöteten Ortsansässigen – also wohlgemerkt: Einwohner der betroffenen Siedlung – in der Rubrik »prähistorische archäologische Fundstätten« absolut den Spitzenplatz; Platz zwei auf der Liste weist fünfundvierzig Prozent aus. Dagegen fällt dann das 20. Jahrhundert trotz beider Weltkriege mit drei Prozent der Bevölkerung – wohlgemerkt: der Bevölkerung rund um den Globus – kaum ins Gewicht und steht als relativ »gewaltlos« da.
§ 10
Allerlei Schätzungen. — Das Crow-Creek-Massaker fand zu Beginn des 14. Jahrhunderts auf dem amerikanischen Kontinent vor seiner europäischen »Entdeckung« durch Kolumbus statt.017 Dass ein Massaker von entsetzlicher Grausamkeit stattfand, schließt man aus Knochenresten eines Massengrabs. In der Siedlung scheinen 500 Menschen den gewaltsamen Tod gefunden zu haben. Die Spuren lassen überdies vermuten, dass viele Opfer vor ihrem Tod gequält wurden. Die Angabe, dem Massaker wären 60 Prozent der Einwohner zum Opfer gefallen, folgt aus einer Annahme über die Bevölkerungsdichte in der Siedlung. Es muss Überlebende gegeben haben, davon zeugt die Tatsache, dass ein Massengrab geschaffen wurde (und man davon ausgeht, dass die Täter ihre Opfer nicht bestatteten). Eine geringfügige Erhöhung der spekulativ angenommenen Einwohnerzahl würde zu einer niedrigeren Opferquote (oder eine Senkung der Annahme zu einer höheren) führen. Über die Zahl der Angreifer ist schlechterdings nichts bekannt.
§ 11
Allerlei Vergleiche. — ¿Warum fallen die – nach archäologischer Analyse durchaus übel zugerichteten – 500 Opfer von Crow Creek in Pinkers »Statistik« so viel stärker ins Gewicht als z. B. die Opfer des vom nationalsozialistischen Deutschen Reich begangenen Holocausts, der bis 1945 zwei Drittel aller in Europa lebenden Juden vernichtete,018 oder die Opfer der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki 1945 durch die Streitkräfte der USA, die rund die Hälfte der Einwohner direkt oder in der mittelbaren Folge ausmachten? — Antwort: Weil Pinker diese Opferzahlen auf die Bevölkerung der kriegsteilnehmenden Staaten oder gar der gesamten Erde bezieht, beim Massaker von Crow Creek dagegen nur auf die Opfer unter den Einheimischen des unmittelbar in Mitleidenschaft gezogenen Ortes.
§ 12
Nuancen der Bewertung. — Viele Menschen urteilen über die Atombombenabwürfe auf Japan trotz aller Trauer um die Toten heute moralisch tendenziell milder als über den Holocaust; das mag daran liegen, dass sie den Holocaust als grundlos, die Atombombenabwürfe dagegen (wenn nicht als militärisch notwendig, so doch) als aus damaliger Sicht für die rechte Seite »nachvollziehbar« erachten. Über die Gründe für das Massaker von Crow Creek wissen wir aber nichts und können es darum moralisch nicht bewerten. Die Einwohner Crow Creeks könnten sich eines bestialischen Verbrechens schuldig gemacht haben und der Angriff war eine Reaktion hierauf.019
§ 13
Das Massaker von Mỹ Lai. — Einen angemesseneren Vergleich zu Crow Creek stellt das Massaker von Mỹ Lai dar. Es wurde 1968 von Soldaten der Streitkräfte namens der USA im Rahmen des Vietnam-Kriegs verübt. Sie töteten fast alle Dorfbewohner, rund 500 Personen. Überlebende, die sich in umliegende Dörfer flüchteten, wurden 1972 durch die mit den USA verbündete südvietnamesische Armee erneut vertrieben. Das Massaker selber beendete der Hubschrauberpilot Hugh Thompson. Mit seiner Besatzung absolvierte er einen Aufklärungsrundflug und entdeckte aus der Luft das Massaker. Er landete. Durch die Drohung, notfalls auf die das Massaker ausübenden Kameraden (darunter ranghöhere Offiziere) feuern zu lassen, stoppte er sie und ließ dann eine Handvoll überlebender Vietnamesen in Sicherheit bringen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das mutige Eingreifen des Piloten, der der Befehlsordnung zuwider handelte und Angehörige der eigenen Armee mit der Waffe in Schach hielt, um eine Fortsetzung des angeordneten Mordens zu unterbinden, einer Moral entspringt, die gegen den Gehorsam, gegen den Anspruch des durch Pinker als der Friedensstifter gepriesenen Leviathans verstößt, der einzig legitime Quell von Gewaltausübung sein zu dürfen.020
§ 14
Neuberechnung. — Pinkers Horror der vor-geschichtlichen Gesellschaften021 wird von Creek Crow mit sechzig Prozent
»Todesfälle durch Krieg« angeführt und gelangt zu einem Durchschnitt022 von fünfzehn Prozent. Den Reigen der staatlichen Gesellschaften führt Alt-Mexiko mit fünf Prozent an, das 20. Jahrhundert bringt es gar nur auf drei Prozent. Für die staatlichen Gesellschaften korrigiere ich nach der vorausgegangenen Diskussion – Mỹ Lai 80 %, An Lushan023 67 %, Holocaust 67 %, Hiroshima 50 %, was einen Durchschnitt024 von 66 % »kriegsbedingte Todesfälle« für die staatlichen Gesellschaften ergibt. >> Siehe Grafik 1.1, S. 18. >>
§ 15
Der An-Lushan-Aufstand. — Sogar bei Pinker findet sich also ein staatsbasiertes Ereignis, das die Opferquote von Crow Creek übertrifft: der Aufstand An Lushans im China des 8. Jahrhunderts. Den dynastischen Kämpfen sollen – so Pinker – sechsunddreißig Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein; das entspricht etwa zwei Drittel der damaligen Bevölkerung Chinas. Dass diese Schätzung fragwürdig ist, wird uns an einer anderen Stelle beschäftigen.025 Der Aufstand An Lushans allerdings taucht in der hier besprochenen Statistik von Pinker gar nicht auf, sondern in einer Liste von den 21 der schlimmsten Dinge, die Menschen Menschen angetan haben, eine Liste, die dann wohlgemerkt ausschließlich staatsbasierte Ereignisse vom Fall Roms bis hin zu Mao Zedong verzeichnet.026 Zwölf dieser schrecklichsten Dinge fanden übrigens im 19. und 20. Jahrhundert statt; auf die restlichen 10 000 Jahre, von denen Pinkers neue Geschichte der Gewalt handelt, verteilen sich die übrigen neun Schandtaten – keine gute Quote für die These, dass die Gewalt aufgrund fortschreitender Staatlichkeit abgenommen habe und der Ewige Frieden des Leviathans unmittelbar bevorstehe. Wenn dann An Lushan dennoch auf dem Platz 1 der Liste rangiert, hat das damit zu tun, dass Pinker die Zahl der Opfer mit der Wachstumsrate der Weltbevölkerung multipliziert. Pinker geht demnach, grob gezeichnet, davon aus, dass ein Dorf mit achthundert Einwohnern, in welchem eine verwirrte oder verzweifelte Mutter ihr Kind tötet, doppelt so gewalttätig sei wie ein Staat mit achtzig Millionen Einwohnern, der 50 000 politische Gegner oder religiöse Abw...