Teil 1:
Die neue Kultur des Ausgrenzens und Stummschaltens
Eine kleine Chronik der Ausgestoßenen
In den folgenden Jahren verfestigte sich bei mir der Eindruck, dass wir in einer zunehmend intoleranten Kultur leben, in der alle möglichen Menschen aufgrund ihrer – fast immer rechtlich von der Meinungsfreiheit gedeckten – Äußerungen unter massiven Druck gesetzt werden und etwa ihren Job oder einen Auftrag verlieren, von ihrem Arbeitgeber gerügt, aus einer Organisation ausgeschlossen, als Redner ausgeladen oder persönlich bedroht werden.
Hier eine kleine Chronik von Fällen aus Deutschland und der angloamerikanischen Welt, die in meinem Gedächtnis hängen geblieben sind, weil ich die fraglichen Meinungen bzw. Äußerungen besonders harmlos und/ oder die Konsequenzen besonders extrem fand, und/ oder weil Personen betroffen waren, die ich persönlich kenne. Die Fallsammlung, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, soll außerdem die enorme Bandbreite der betroffenen Personen, Organisationen und Lebensbereiche sowie die Vielfalt der eingesetzten Einschüchterungsmethoden beleuchten.
2015
Tim Hunt: Der britische Biologie-Nobelpreisträger verliert aufgrund eines einzigen, öffentlich vorgetragenen – aus meiner Sicht unwitzigen, aber recht harmlosen – Witzes über Frauen in der Wissenschaft („Drei Dinge geschehen, wenn [Mädchen] im Labor sind: man verliebt sich in sie, sie verlieben sich in einen, und wenn Sie sie kritisieren, weinen sie. Vielleicht sollten wir getrennte Labore für Jungen und Mädchen haben.“9) seine Professur und mehrere Mitgliedschaften bei wissenschaftlichen Organisationen.
2016
Jörg Baberowski: Der Historiker und Gewaltforscher hat in mehreren Beiträgen die Flüchtlingsaufnahmepolitik der Regierung Merkel kritisiert. Als Baberowski an der Universität Bremen sprechen soll, wirft ihm der dortige AStA wahrheitswidrig vor, „in der jüngeren Vergangenheit wiederholt gewalttätige Ausschreitungen gegen Geflüchtete und Anschläge auf deren Unterkünfte gerechtfertigt“ zu haben, und ruft die Studenten auf, gegen den Vortrag zu protestieren. Aus Sicherheitsgründen verlegt die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung den Vortrag in ihre eigenen Räume. Die Veranstaltung muss von zwei Mannschaftswagen der Polizei und einem privaten Sicherheitsdienst geschützt werden. Der angekündigte Protest bleibt allerdings aus.10
2017
Thomas Greiss: Der deutsche Eishockeytorwart, seit 2015 für einen amerikanischen Verein spielend, „liked“ auf Instagram ein Foto Adolf Hitlers mit der Bildunterschrift „nie verhaftet, nie verurteilt, genauso unschuldig wie Hillary“, sowie ein weiteres Posting, eine Fotomontage, in der Donald Trump mit einem Schwert in der einen und dem abgeschlagenen Kopf Hillary Clintons in der anderen Hand posiert. Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB), Alfons Hörmann, spricht daraufhin von „politischem Extremismus“, der im Sport nichts zu suchen habe, und droht Greiss mit Ausschluss aus dem deutschen Olympia-Team. Der Deutsche Eishockey-Bund (DEB) bestellt den Spieler zum Gespräch ein und rügt ihn. Auch sein Team, die New York Islanders, distanziert sich in einer offiziellen Stellungnahme von Greiss’ Verhalten.11
James Damore: Der Softwareingenieur wird bei Google entlassen, nachdem er in einem internen, äußerst vorsichtig formulierten Dokument geschlechtsspezifische Ungleichheit in der Technologiebranche teilweise auf biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen zurückführt und anregt, dass Initiativen zur Förderung von Frauen diese Unterschiede berücksichtigen und in ihrem Sinne nutzen sollten. Der Fall wird von Medien weltweit aufgegriffen.12
Bret Weinstein: Der Evolutionsbiologe, Professor am Evergreen State College im US-Bundesstaat Washington, wird einer Hetzkampagne ausgesetzt und persönlich bedrängt und bedroht, weil er kritisiert, dass weiße Universitätsmitarbeiter für einen Tag dem Campus fernbleiben sollten, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Der Sicherheitsdienst der Uni weigert sich, ihn zu schützen, und rät ihm, den Campus zu verlassen. Weinstein muss sein Biologie-Seminar in einem öffentlichen Park abhalten. Er und seine Frau, die Anthropologin Heather Heying, kündigen ihre Jobs am College und verklagen ihren ehemaligen Arbeitgeber. Sie bekommen von einem Gericht Abfindungen zugesprochen.13
Spiked: Die American University in Washington D. C. untersagt dem britischen Online-Magazin Spiked (für das ich schreibe) die Nutzung ihrer Räumlichkeiten für eine Podiumsdiskussion über Title IX, ein kontroverses Gesetz, welches die Gleichstellung von Frauen an amerikanischen Bildungseinrichtungen regelt. Eine feministische Gruppierung hatte sich bei der Hochschule über die geplante Veranstaltung beschwert, weil sie „Hassrede“ gegen Frauen befürchtete. Die Debatte fand schließlich in den Räumlichkeiten des ebenfalls in Washington sitzenden libertären Magazins Reason statt.14
Rainer Wendt: Ein geplanter Vortrag des Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft an der Goethe-Universität Frankfurt zum Thema „Polizeialltag in der Einwanderungsgesellschaft“ wird abgesagt. Zuvor hatten linke Gruppierungen gegen die Veranstaltung mobilisiert. Auch ein offener Brief von 60 Wissenschaftlern der Goethe-Universität und anderer deutscher Hochschulen forderte, Wendt nicht sprechen zu lassen. Der Polizeigewerkschaftschef verstärke „rassistische Denkstrukturen“ und positioniere sich „fernab eines aufgeklärten Diskurses“. Wendt hatte in Bezug auf die Flüchtlingspolitik davon gesprochen, dass Deutschland „kein Rechtsstaat“ sei, und behauptet, Polizeibeamte in Deutschland würden kein sogenanntes „Racial Profiling“ betreiben.15
Finis Germania: Ebenfalls ins Jahr 2017 fällt die Löschung von „Finis Germania“ aus der Spiegel-Bestsellerliste für Sachbücher. Die Textsammlung aus dem Nachlass des Historikers Rolf Peter Sieferle, der sich 2016 das Leben nahm, setzt sich u. a. mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung auseinander. Zu den umstrittensten Aussagen des Bandes, der im Verlag Antaios des neurechten Vordenkers Götz Kubitschek erschien, gehören die Behauptungen, Auschwitz sei „zum letzten Mythos einer durch und durch rationalisierten Welt geworden“ und die Juden würden „den Tätern und ihren Symbolen die Kraft ewiger Verworfenheit“ zuschreiben.
Der Spiegel entfernt das Buch zunächst ohne Angabe von Gründen aus der Liste. Später erklärt das Magazin, es sehe sich in einer „besonderen Verantwortung“, da es das Buch ohne die Empfehlung seines Redakteurs Johannes Saltzwedel nicht in die Liste geschafft hätte.16 Saltzwedel hatte im Juni 2017 als Mitglied der Jury der „Sachbücher des Monats“ seine gesamten 20 Stimmpunkte auf Finis Germania kumuliert, um ein politisches Zeichen zu setzen. Trotz heftiger Kritik, u. a. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, steht der Spiegel zu seiner Entscheidung, die Bestsellerliste aus politischen Gründen zu manipulieren.
2018
Carl Benjamin und Yaron Brook: Antifa-Aktivisten stoppen eine Podiumsdiskussion am King’s College London. Geplant ist eine Debatte zwischen Carl Benjamin, auch bekannt als „Sargon of Akkad“, einem YouTuber der sich selbst als „liberal“ bezeichnet und sich u. a. kritisch mit der politischen Korrektheit auseinandersetzt, und Yaron Brook, dem Vorsitzenden des Ayn Rand Institute, einer Organisation die die individualistische, staatsskeptische Philosophie der russisch-US-amerikanischen Autorin Ayn Rand verbreitet. Brook ist auch für sein Eintreten für den Staat Israel bekannt. Keiner dieser beiden Männer kann auch nur annähernd als „faschistisch“ beschrieben werden. Dennoch werfen die Antifa-Anhänger Nebelbomben, lösen den Feueralarm aus und ergreifen Mikrofone. Es brechen Rangeleien zwischen ihnen, Besuchern und dem Sicherheitsdienst aus. Der Saal muss schließlich geräumt und die Veranstaltung abgebrochen werden.17
Felix Perrefort: Der Autor will an der Uni Mainz einen Vortrag mit dem Titel „Islamisierung und antirassistisches Appeasement“ halten. Verschiedene linke Gruppierungen, darunter der „Antifaschistische Aufbau Mainz“ kündigen vorab an, die Veranstaltung stören zu wollen. Als der Vortrag beginnen soll, besetzen Aktivisten die Bühne, rufen Slogans in ein Megafon und versuchen, Perrefort mit Trillerpfeifen zu übertönen. Zwischen den Sitzen bricht ein Handgemenge aus. Nach 15 Minuten rückt die Polizei an. Die Veranstaltung wird aus Sicherheitsgründen abgebrochen und nach zwei Wochen unter Polizeischutz nachgeholt.18
2019
Amelie Wen Zhao: Die in China aufgewachsene Autorin, die heute in den USA lebt, zieht ihren Fantasy-Erstlings-Roman „Blood Heir“ von der Publikation zurück. Gegen Zhao hat es in den Sozialen Netzwerken eine Kampagne gegeben, deren Vorwürfe schwer fassbar sind. Konkret geht es wohl u. a. um eine „problematische“ Szene, in der Sklaverei dargestellt wird, um den Mangel an „genderqueeren“ Charakteren, um einen Bösewicht, der humpelt und um „unerträgliche Klischees über die chinesische Kultur“. Das Verlagshaus Delacorte hat Zhao zuvor einen sechsstelligen Vorschuss gezahlt und Vorabexemplare an viele Blogger und Influencer verschickt.19
Chaim Noll: Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung sagt überraschend eine geplante Lesung mit dem deutsch-israelischen Schriftsteller in Leipzig ab. Nachdem Noll zunächst keine Begründung erhält, äußert sich der Leiter des zuständigen Landesbüros, Matthias Eisel, später gegenüber der Presse und begründet die Absage mit Nolls Kritik an der deutschen Außenpolitik gegenüber Israel und dem Iran, welche der Autor u. a. auf dem Weblog „Die Achse des Guten“, auf dem auch migrations- und islamkritische Meinungen erscheinen, publiziert.20
Maya Forstater: Die Ökonomin, eine angesehene Expertin für Steuerfragen, wird von ihrem Arbeitgeber, der Londoner Denkfabrik „Center for Global Development“ entlassen, weil sie auf Twitter transsexuelle Menschen beleidigt habe. Konkret geht es um Posts wie: „Ja, ich glaube, dass männliche Menschen keine Frauen sind. Ich glaube nicht, dass ‚Frausein‘ eine Frage der Identität oder weiblicher Gefühle ist. Es geht um Biologie. Menschen beiderlei Geschlechts sollten nicht beschränkt (oder diskriminiert) werden, weil sie nicht den traditionellen geschlechtsspezifischen Erwartungen entsprechen.“ Oder: „Ich bin so überrascht, dass intelligente Menschen, die ich bewundere, die in anderen Bereichen absolut für Wissenschaft sind und sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzen, sich verrenken, um nicht zugeben zu müssen, dass sich Männer nicht einfach in Frauen verwandeln können.“21 Forstaters Klage gegen die Entlassung wird von einem Arbeitsgericht abgewiesen.22
Brian Leach: Der 54-jährige körperlich behinderte Brite, der in einer Filiale der Supermarktkette ASDA arbeitet, teilt auf seinem privaten Facebook-Profil einen religionskritischen Videoclip des Komikers Billy Connolly. Ein Kollege in der Unternehmenszentrale fühlt sich davon verletzt. Leach löscht den Post von seiner Seite, entschuldigt sich und entfernt jegliche Arbeitskollegen aus seiner Freundesliste. Dennoch wird er fristlos entlassen, weil er gegen die Social-Media-Richtlinien seines Arbeitgebers verstoßen habe.23 Nachdem Medien auf den Fall aufmerksam machen, bekommt Leach seinen Job zurück.
Hans Joachim Mendig: Der Produzent von Fernsehserien und Spielfilmen verantwortet seit 2016 als Gründungsgeschäftsführer der „HessenFilm und Medien GmbH“ die hessische Filmförderung. Im Juli 2019 trifft Mendig auf Einladung des PR-Beraters Moritz Hunzinger den Bundesvorsitzenden der Alternative für Deutschland (AfD), Jörg Meuthen, in Frankfurt am Main zum Mittagessen. Im Internet postet er ein Foto dieser Begegnung mit dem Kommentar: „Sehr angeregter und konstruktiver politischer Gedankenaustausch“. Zwei Monate später erscheint ein Artikel des Frankfurter Stadtmagazins „Journal Frankfurt“ mit besagtem Foto. Es kommt zu einer öffentlich ausgetragenen Kontroverse. Rund 600 Filmschaffende, darunter Iris Berben, Jasmin Tabatabei und Nicolette Krebitz, fordern in einer gemeinsamen Erklärun...