Geburt Leben Sterben Tod
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Geburt Leben Sterben Tod

Potsdamer Vorlesungen über das Lebenswissen in den romanischen Literaturen der Welt

  1. 1,121 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Geburt Leben Sterben Tod

Potsdamer Vorlesungen über das Lebenswissen in den romanischen Literaturen der Welt

Über dieses Buch

Unsere eigene Geburt und unser eigener Tod entziehen sich unserem reflektierten Erleben. Die Literaturen der Welt bieten uns die Chance, Zugriff auf Anfang und Ende eines Lebens zu erhalten, Geburt, Leben, Sterben und Tod zu repräsentieren, zu reflektieren und zu (re)inszenieren. Aus dieser hochmobilen Konfiguration ergeben sich ungeheure kreative Kräfte, welche dieser Band mit Blick auf die Frage des Lebenswissens analysiert. Welche literaturgeschichtlich und ästhetisch relevanten Aspekte treten in den Geburts- und Sterbeszenen in den romanischen Literaturen der Moderne hervor? Inwieweit enthalten die Gestaltungsformen von Geburt und Sterben erzähltechnische Programmierungen, die uns nicht notwendigerweise den Schlüssel zum eigenen Leben, sicherlich aber den zum Leben der Literaturen der Welt in die Hand geben? Furchtlos sollen diese Vorlesungen das Zusammenleben von Liebe und Tod, von Leben und Lesen, das (literarische) Erleben von Geburt oder das (literarische) Überleben des eigenen Todes anhand von Texten aus der Romania des 18. bis 20. Jahrhunderts untersuchen.

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Information

Jahr
2022
eBook-ISBN:
9783110751505
Auflage
1

TEIL 1: Grundlagen eines Wissens vom Leben und Entwürfe der Geburt von Welten

Von der Zukunft des menschlichen Lebens

Nähern wir uns zunächst in einem zweiten Schritt an die Themenstellung unserer Vorlesung vom Gebiet der Philosophie und von einem Punkt aus an, der seit der Wende zum 21. Jahrhundert recht stark diskutiert wird. Ich meine die Debatte um Eugenik und spreche unter anderem von Jürgen Habermas' Buch Die Zukunft der menschlichen Natur – auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, das erstmals 2001 erschien und mittlerweile bereits in der mindestens sechsten – und erweiterten – Auflage vorliegt. Die Frage nach dem Leben ist eine Themenstellung, welche in besonderem Maße und seit vielen Jahrhunderten die Philosophie angeht. Auch wenn letztere diese Frage mit Hilfe eines seit dem Beginn der Moderne stark akademisch disziplinierten Diskurses erörtert und nicht über die Freiheiten und Polysemien literarischer Diskurse verfügt, so sind die Ergebnisse dieser akademischen Disziplin doch für unsere Vorlesung von großem Interesse.
Der Eingangstext dieses Bandes, der auf einen Vortrag anlässlich einer Preisverleihung in Zürich zurückgeht, steht unter dem Titel „Begründete Enthaltsamkeit. Gibt es postmetaphysische Antworten auf die Frage nach dem ‚richtigen Leben‘?“ und setzt sich mit einem Problem auseinander, das wir ebenfalls von Beginn an traktieren wollen: dem Verhältnis der unterschiedlichen Disziplinen zum Leben – weit jenseits der Literaturen der Welt. Ich möchte Ihnen gerne den Auftakt dieses Aufsatzes und dieses ersten Teils von Jürgen Habermas' Buch ungekürzt vor Augen führen und zu Gehör bringen; jenen beiden Sinnen, die ich mit unterschiedlichsten Zitaten immer wieder aufs Neue bei Ihnen anregen möchte. Lassen wir uns also auf die Logik und Argumentation eines renommierten deutschen Philosophen ein und stellen wir zunächst fest, dass dieser Philosoph auf ein Beispiel aus der deutschsprachigen Literatur zurückgreift:
Im Anblick von „Stiller“ läßt Max Frisch den Staatsanwalt fragen: „Was macht der Mensch mit der Zeit seines Lebens? Die Frage war mir kaum bewusst, sie irritierte mich bloß.“ Frisch stellt die Frage im Indikativ. Der nachdenkliche Leser gibt ihr, in der Sorge um sich selbst, eine ethische Wendung: „Was soll ich mit der Zeit meines Lebens machen?“ Lange genug meinten Philosophen, dafür geeignete Ratschläge parat zu haben. Aber heute, nach der Metaphysik, traut sich die Philosophie verbindliche Antworten auf Fragen der persönlichen oder gar der kollektiven Lebensführung nicht mehr zu. Die Minima moralia beginnen mit einem melancholischen Refrain auf Nietzsches fröhliche Wissenschaft – mit dem Eingeständnis eines Unvermögens: „Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinen Freunden einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt [...] die Lehre vom richtigen Leben.“ Inzwischen ist die Ethik, wie Adorno meint, zur traurigen Wissenschaft regrediert, weil sie bestenfalls zerstreute, in aphoristischer Form festgehaltene „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ erlaubt.1
Wir sehen, dass Jürgen Habermas auf das Zitat des Schweizer Schriftstellers Max Frisch wenige Zeilen später ein anderes Zitat aus der Feder des deutschen Philosophen Theodor W. Adorno folgen lässt. In dieser Eingangspassage werden verschiedene Dinge schnell deutlich: Zum einen wird beklagt, dass die Philosophie einen ganzen Bereich geradezu aufgegeben habe, für den sie früher zentral zuständig gewesen sei. Es handelt sich um den Bereich der Lebensführung, mithin der Frage nach dem richtigen Leben, wie sie von der Moralphilosophie und der Ethik zuvörderst gestellt wurde. Warum aber traut sich die Philosophie, wenn wir Jürgen Habermas glauben, in diesem Bereich nichts mehr zu? Vertraut sie ihren eigenen Ratschlägen postnietzscheanisch nicht mehr?
Abb. 4: Jürgen Habermas (*1929) bei einer Diskussion in der Hochschule für Philosophie München.
Zugleich wird deutlich, dass Adorno ein halbes Jahrhundert zuvor bereits konstatieren musste, in welch starkem Maße die Philosophie bereits zum damaligen Zeitpunkt in der Gefahr stand, diese Bereiche immer mehr zu verlieren. Und doch hatten diese ehedem den Kernbereich der Philosophie und des Philosophierens gebildet…
Jürgen Habermas rückt diese Feststellung selbstverständlich strategisch an den Beginn seines Buchs, um sich eben diesem Gebiete zuzuwenden. Denn er wird im weiteren Verlauf des ersten Teils darstellen, in welch starkem Maße andere Disziplinen und Tätigkeiten in diesen Leerraum geschlüpft sind, allen voran die Psychoanalyse, aber auch – und dies in wachsendem Maße – all jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Bereich der Genomforschung und der Gentechnologie tätig sind und die aus der hohen gesellschaftlichen Legitimation, die ihnen zuteilwird, in nicht selten recht unbedarfter, geradezu naiver Weise Normierungen und Normvorstellungen vom ‚richtigen Leben‘ entwickeln und anbieten. Sie stoßen damit gezielt in jenen Leerraum, welchen die Philosophie – und nicht nur sie – hinterlassen hat.
Des Weiteren scheint es mir in diesem Zusammenhang nicht zufällig zu sein, dass der Philosoph Jürgen Habermas zunächst den Schweizer Schriftsteller Max Frisch – gewiss auch eine Reverenz gegenüber dem Ort der Preisverleihung – zu Wort kommen lässt. Denn es ist die Literatur, welche ihrerseits zu keinem Zeitpunkt darauf verzichtet hat, uns immer und immer wieder aufs Neue vom Leben zu erzählen, uns nach dem Leben zu fragen, uns ihr dichtes und zugleich diffuses Wissen über das Leben und vom Leben im Lebensprozess selbst vorzustellen. Die Literatur lebt uns ihre ständig erneuerten Fragen und Aporien vor, die ihr eigenes Lebenswissen mitgestalten und ihr Sein als ein künstlerisches Tun präsentieren, das – um mit Roland Barthes zu sprechen – darauf spezialisiert ist, nicht spezialisiert zu sein.
Wir haben bereits im Einleitungsteil zu dieser Vorlesung gesehen, dass sich die Literaturen der Welt unablässig mit dem Leben, mit dem Begriff des Lebens, mit den Fragen des Lebens auseinandersetzen. Wie wir am Beispiel von David Wagners Experimentaltext Leben gesehen haben, lassen die Literaturen der Welt die Frage nach dem richtigen Leben nicht unbeantwortet, ja mehr noch: Sie überschütten uns mit Antworten, die nicht auf einen eindeutigen Nenner zu bringen sind, sondern vielmehr einen Respons darstellen, der sich auf neue, nun spezifischere Fragen öffnet.
Die Literatur ist daher für den Philosophen Habermas mit Recht die erste Anlaufstelle und ein erster Bezugspunkt. Nicht aber die Literaturwissenschaft, die sich ja professionell mit der Deutung von Literatur beschäftigt. Sie hat sich im Verlauf ihrer Geschichte während des 20. Jahrhunderts immer stärker vom Begriff und den Bedeutungen des Lebens entfernt; und man könnte mit guten Gründen vermuten, dass sie dies zum gleichen Zeitpunkt tat, auf den bereits Theodor W. Adorno aufmerksam machte, nur dass sie diesen Abschied vom Leben in einer wesentlich radikaleren Weise vollzog. Wir haben bei unserem kurzen Rückblick auf die Philologie ja gesehen, wie stark der Lebensbegriff und das Nachdenken über das Leben beispielsweise noch bei einem Philologen wie Erich Auerbach war.
Bedeutungsvoll an diesem historischen Prozess ist nicht allein dessen Radikalität, sondern auch die Tatsache, dass ein solcher Rückzug aus dem Leben nicht einmal ins Bewusstsein der Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler gedrungen zu sein scheint; ein Bewusstsein davon, diesen riesigen und genuin literarischen Bereich jemals besessen beziehungsweise den Begriff und die Problematik des Lebens jemals verlassen und aufgegeben zu haben. Genau an diesem Punkt aber setzen meine Überlegungen zu unserer aktuellen Vorlesung an. Denn gleichsam zwischen den ‚Grenzen‘ von Geburt und Tod – und diese ‚Grenzen‘ gehören selbstverständlich dazu – erstreckt sich das Leben. Letzteres nehmen wir gleichsam von seinen beiden Enden her in Angriff – so wie die berühmte Wurst, die ja bekanntlich zwei Enden hat und nicht notwendig vektoriell gerichtet ist. In gewisser, freilich methodologisch veränderter Weise erobern wir uns mit dieser Vorlesung einen traditionellen Bereich der Philologie zurück. Ist dies darum ein Beleg dafür, eine ‚Zukunftsphilologie‘ zu sein? Ich würde nicht zögern, eine solche Frage zu bejahen.
Zweifellos sind sowohl im Bereich der Philosophie als auch der Literatur gleichsam die Räume für die Reflexion des richtigen Lebens immer enger geworden und die Modelle für ein ethisch fundiertes Leben mit der Zeit abhandengekommen. Dies ließe sich zumindest für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts behaupten. Die Pluralisierung der Lebensverhältnisse und die multi-, inter- und transkulturellen Bewegungen tun heute ein Übriges, um diesen Prozess Im Kontext der zu Ende gegangenen vierten Phase beschleunigter Globalisierung im Weltmaßstab zu verstärken.2 Doch gerade in einem solchen weltumspannenden Zusammenhang, so scheint mir, haben die Literaturen der Welt weitaus bessere Chancen als die Philosophie, lebbare Modelle und Lebensvorstellungen zu diskutieren und ästhetisch zu repräsentieren, ohne in den unangenehmen Geruch zu kommen, normative und kulturell fixierte Lebensentwürfe entwickeln zu wollen.
Nun sind speziell in unserer Zeit die Dinge in Sachen Anfang und Ende des menschlichen Lebens technologisch sehr in Bewegung gekommen, insoweit der Mensch immer stärker sowohl den Beginn als auch das Ende des Lebens nicht nur zu gestalten, sondern zu programmieren und umzukodieren sucht. Wir haben einen ersten Einblick bereits durch die Problematik der Organtransplantation bekommen, doch lauten wesentliche Stichworte hierzu vor allem Präimplantationsdiagnostik (PID) sowie Forschung an embryonalen Stammzellen. Die daraus resultierenden grundlegenden Veränderungen und Folgewirkungen hat Jürgen Habermas in einer weiteren Passage seines Buches über Die Zukunft der menschlichen Natur recht plastisch dargestellt. Lassen wir den Philosophen also nochmals zu Wort kommen:
Bisher konnte das säkulare Denken der europäischen Moderne ebenso wie der religiöse Glaube davon ausgehen, dass die genetischen Anlagen des Neugeborenen und damit die organischen Ausgangsbedingungen für dessen künftige Lebensgeschichte der Programmierung und absichtlichen Manipulation durch andere Personen entzogen sind. [...] Unsere Lebensgeschichte ist aus einem Stoff gemacht, den wir uns ‚zu Eigen machen‘ und im Sinne Kierkegaards ‚verantwortlich übernehmen‘ können. Was heute zur Disposition gestellt wird, ist etwas anderes – die Unverfügbarkeit eines kontingenten Befruchtungsvorgangs mit der Folge einer unvorhersehbaren Kombination von zwei verschiedenen Chromosomensätzen. Diese unscheinbare Kontingenz scheint sich aber – im Augenblick ihrer Beherrschbarkeit – als eine notwendige Voraussetzung für das Selbstseinkönnen und die grundsätzlich egalitäre Natur unserer interpersonalen Beziehungen herauszustellen. Denn sobald Erwachsene eines Tages die wünschenswerte genetische Ausstattung von Nachkommen als formbares Produkt betrachten und dafür nach eigenem Gutdünken ein passendes Design entwerfen würden, übten sie über ihre genetisch manipulierten Erzeugnisse eine Art der Verfügung aus, die in die somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit einer anderen Person eingreift und die, wie es bisher scheint, nur über Sachen, nicht über Personen ausgeübt werden dürfte. Dann könnten die Nachgeborenen die Hersteller ihres Genoms zur Rechenschaft ziehen und für die aus ihrer Sicht unerwünschten Folgen der organischen Ausgangslage ihrer Lebensgeschichte verantwortlich machen.3
Auf diesen biotechnologisch von den Life Sciences geprägten Gebieten der ‚Lebens-Gestaltung‘ zeichnet sich also eine neue Entwicklung ab, die in unseren Überlegungen, die um Literatur kreisen, nicht unberücksichtigt bleiben darf. Denn menschliches (und auch tierisches) Leben kann im Zeichen eines biotechnologisch-medizinischen Fächerensembles längst zum Gegenstand eines wissenschaftlichen ‚Lebens-Designs‘ werden. Die Ausschaltung der Kontingenz und des Zufalls, der für Balzac bekanntlich im berühmten Vorwort zu seiner Comédie humaine noch „le plus grand romancier du monde“ war, geht die Literaturen der Welt und deren Lebensbegriff ganz unmittelbar an. Die gewünschte und biotechnologisch angestrebte größtmögliche Ausschaltung des Zufalls aber stellt auch die Philologie im Zeichen des Zusammenspiels von Zufall, Möglichkeit und historischer Notwendigkeit vor gewaltige Herausforderungen.4
Ich hatte zu Beginn unserer Vorlesung gesagt, dass sich unsere eigene Geburt und unser eigener Tod unserem reflektierten Erleben entziehen. Dies wäre zwar auch in den Zeiten der Präimplantationsdiagnostik noch immer der Fall. Doch ist die Unverfügbarkeit über die Programmierung des Lebens – und damit die rationale Konzeption eines Menschen am Reißbrett der Biowissenschaften – auf einer sehr zentralen, entscheidenden Ebene aufgebrochen: Sie beginnt, einer zunehmenden Verfügbarkeit von Lebensvorgängen und Lebensbereichen Platz zu machen.
wir können auch an dieser Stelle erkennen, dass die Nicht-Verfügbarkeit bislang ein menschliches Attribut war, die Verfügbarkeit hingegen ein fraglos göttliches. Auf diesem weiten ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen – von Transplantationen und Verpflanzungen
  5. TEIL 1: Grundlagen eines Wissens vom Leben und Entwürfe der Geburt von Welten
  6. TEIL 2: Geburt, Leben, Sterben, Tod – Literarische Inszenierungen
  7. TEIL 3: Geburt und Tod im Lager: Vom Leben und Sterben im konzentrationären Universum
  8. TEIL 4: Vom Leben und Sterben in autoritären Systemen: Vom Diktatorenroman, seinen Anfängen und Widerständigkeiten
  9. TEIL 5: Vom Leben, Sterben und vom Weiterleben der Welten: Lebenswissen in poetisch verdichteter Form
  10. TEIL 6: Von der Geburt und vom Lebenswissen der Avantgarden – Vom kubanischen Son bis zu Ophelias Tod und Wiedergeburt
  11. TEIL 7: Geburt und Tod als Zeichen des Lebens: Von den Formen und Normen des Zusammenlebens
  12. Personenregister