1 Wo steht die Personalsuche heute?
- Worauf wir uns einstellen müssen, wenn wir nicht mehr die benötigten Fach- und Führungskräfte einstellen können.
- Warum Arbeitgebermarken an Strahlkraft verlieren und das Denken in Generationen nicht mehr zeitgemäß ist.
- Weshalb wir neue Wege in der Personalbeschaffung brauchen.
Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus. Aktuellen Prognosen zufolge soll die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2050 auf 26,5 Millionen Menschen zurückgehen. (Zum Vergleich: Ende 2017 waren rund 44 Millionen Erwerbstätige registriert.) In drei Jahrzehnten werden große Teile der zwischen 1980 und 2000 geborenen Generation Y noch voller Schaffenskraft sein. Falls unsere Nachkommen denn überhaupt Lust haben, so zu arbeiten, wie wir es gewohnt sind. Aktuellen Umfragen zufolge sieht es nicht so aus; die Präferenzen deuten eher auf „Life“ denn auf „Work“.
Was kommt, was bleibt, was drückt schon heute?
Das war der Schauder zum Aufwärmen. Aber dieses Szenario liegt weit in der Zukunft. Bis 2050 kann noch einiges passieren. Der Krieg kann näherkommen, das Klima kollabieren, Millionen von Chinesen könnten über die neue Seidenstraße nach Europa einwandern. In den ersten beiden Fällen bräuchte Deutschland voraussichtlich nicht mehr so viele Arbeitskräfte, und mit den Chinesen wären sie da. Warum sich also heute den Kopf über Notlagen von übermorgen zerbrechen? Haben wir keine akuten?
Doch, die haben wir. Zugegeben in einer weitaus schwächeren Variante, aber man kann sich ja langsam an das Gap, an das größte anzunehmende Personalerproblem, herantasten. Schon heute gelingt es nämlich nicht, alle freien Stellen mit passenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zu besetzen. Weil sich die demografische Verteilung bereits spürbar ändert, weil nicht jeder Berufstätige mit der Digitalisierung mithalten kann oder will und überhaupt: weil die Lücke zwischen dem von der Wirtschaft benötigten und dem von den verfügbaren Arbeitskräften verkörperten Wissen zusehends größer wird. Der Fachkräftemangel, so wird landauf, landab geklagt, sei der Engpass, durch den das Wirtschaftswachstum gebremst werde. Mit mehr fleißigen Händen und klugen Köpfen könnten die Unternehmen mehr produzieren, mehr verkaufen, mehr verdienen, mehr investieren, um mehr zu produzieren, mehr zu verkaufen ... Sie wissen schon.
Natürlich wissen Sie das, denn als Leser und Leserin dieses Buches sind Sie nicht nur mit den Ursachen des Problems vertraut, sondern auf die eine oder andere Weise auch in die Lösung eingebunden:
Als Wissenschaftler werden von Ihnen Vorschläge erwartet, was gesamtwirtschaftlich zu tun ist, um das Arbeitsangebot und die Arbeitsnachfrage in Übereinstimmung zu bringen. Die Restriktion: Ihre Empfehlungen sollen nach Möglichkeit nichts kosten und keine gesellschaftliche Gruppe in Aufruhr versetzen.
Als leitender Personaler eines Unternehmens, einer Organisation oder einer Behörde haben Sie die Entwicklung der letzten Jahre sorgenvoll beobachtet und längst sämtliche verfügbaren Kräfte auf das Personalmarketing und das Recruiting konzentriert. Wobei Ihre Kreativität davon gehemmt sein könnte, dass Ihre Geschäftsführung oder Ihr Vorstand schlichtweg nicht begreift, warum HR die Planzahlen verfehlt. Gibt es in diesem Land nicht Millionen von Arbeitslosen? Kann man bei uns etwa nicht gut verdienen? Tun wir nicht wirklich a l l e s, damit es den Leuten bei uns gefällt? Weiterbildung, flexible Arbeitszeiten, Fahrtkostenzuschuss, preiswerte und nahrhafte Mahlzeiten in der Kantine, und wenn die Leistung stimmt, kann man doch bei uns alles werden? Kopfschütteln. Machen Sie was.
Als Recruiter und Recruiterin blicken Sie dem Problem jeden Tag ins Auge. Sie sehen: Die Schaltung von Anzeigen, im Personalersprech „Post and Pray“, funktioniert nicht mehr. Für das viele Geld kommt wenig zurück. Das haben Sie gewissenhaft nach oben gemeldet und die Rückmeldung bekommen: Lassen Sie sich etwas einfallen. Wir bezahlen Sie dafür, dass Sie die besten Hochschulabsolventen ihres Jahrgangs, die weitsichtigsten Finanzanalysten, die tüchtigsten Ingenieure und die zuverlässigsten Berufskraftfahrer zu einer Bewerbung motivieren und mit den Allerbesten von diesen einen Vertrag schließen. Wie Sie die Lücken in unserer Belegschaft schließen, ist Ihre Sache. Don’t talk problems – talk solutions.
Und wenn Sie für das Personalmarketing verantwortlich sind, dann zerbrechen Sie sich wahrscheinlich ohnehin Tag und Nacht den Kopf, auf welche Weise Sie noch dem Mangel an Fachkräften entgegentreten können. Was haben Sie nicht alles konzipiert, implementiert, ausprobiert: Social Media Recruiting. Active Sourcing. Suchmaschinenoptimierung. Sie betonen Ihre Werte. Sie präsentieren sich auf Arbeitgeberwettbewerben. Sie zahlen Ihren Mitarbeitern Prämien für die Heranschaffung eines neuen Kollegen. Die Karriereseiten auf der Homepage Ihres Unternehmens sind picobello. Sie haben ein Talent-Management-System installiert, streuen das Buzzword Work-Life-Balance großzügig über ihre gesamten Werbemittel und unterstreichen mit einer Employer Brand Ihren hohen Sympathie- und Wohlfühlwert als Arbeitgeber. Nach Abheilung einiger Gewissensbisse haben Sie sich sogar an Arbeitgeberbewertungsportale herangeschlichen, um die Möglichkeiten einer für beide Seiten gedeihlichen Zusammenarbeit zu eruieren. Hat auch nicht geklappt.
Warum Arbeitgebermarken an Strahlkraft verlieren und das Denken in Generationen nicht mehr zeitgemäß ist
Werfen wir doch mal einen Blick auf einige Standardinstrumente des Recruiting, um zu verstehen, warum sich die darin gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt haben.
Mit dem Social Media Recruiting haben viele Personaler geglaubt, das Ei des Kolumbus entdeckt zu haben: Es spart die teuren Suchanzeigen in den ohnehin kaum mehr gelesenen Printmedien, es verleiht den suchenden Unternehmen einen frischen, jugendlichen Look, und es holt die potenziellen Kandidaten dort ab, wo sie zuhauf anzutreffen sind: In den sozialen Medien, professionellen Netzwerken und in brancheneigenen Foren. Einige Jahre lang, als das Internet noch neu war und man für die „Werbung auf der Datenautobahn“ noch nicht verlacht wurde, haben sich die Verheißungen tatsächlich erfüllt. Und was machen die besten Fach- und Führungskräfte (die, die wir haben wollen) heute, wenn ihnen mitten in einem Chat ein aufdringlicher Jobbot entgegenspringt? „Klick und weg“ machen sie. Genauso bei Anfragen über Xing, LinkedIn und wie sie alle heißen. „Klick und weg“. Bei 20 kaum unterscheidbaren Anbaggerversuchen jeden Tag macht sich kaum jemand die Mühe, das einzelne Angebot zu studieren. Gute Mitarbeiter wollen individuell kontaktiert werden.
Seit dem Jahrtausendwechsel hat das Employer Branding eine steile Karriere hingelegt. Anfangs gab es auch wirklich eine Menge guter Konzepte für Employer Brands. In der Folge bemühten sich zuerst die Konzerne und dann Unternehmen mittlerer Größenordnung, als einzigartige Stimme im Chor der lauten Lockrufe Gehör zu finden. Doch die Marketingabsichten waren flugs durchschaubar. Außerdem mangelte es oft an Substanz, so dass die Marke selten für fundierte und einzigartige Inhalte stand, sondern meist nur wie ein locker-flockig aufgeklebtes Etikett wirkte: „Bestseller“. Kosmetik aber wird von intelligenten Menschen (zur Erinnerung: Das sind die, die wir alle uns als Mitarbeiter wünschen) schnell entlarvt. Und wenn gar die Mehrheit der Arbeitgeber hübsch geschminkt zur Personalsuche antritt, dann wird die wahre Schönheit leicht übersehen.
Die Wirkungsweise des Employer Branding ist vom Nachlaufeffekt in homöopathische Dosen verwässert worden. Sowohl der Begriff als auch die damit verbundenen Maßnahmen zeigen deutliche Verschleißerscheinungen. Dass die Ausrichter von Arbeitgeberwettbewerben mit dem Versprechen, die Arbeitgebermarke stärken zu können, nun schon tief im ausschließlich lokal tätigen Mittelstand um Kundschaft werben, ist der beste Beweis. Wenn es rings umher von Marken nur so wimmelt, geht die einzelne schlicht und einfach unter. In einem Wald ist der einzelne Baum auch nur ein Stamm. Fazit: Employer Branding braucht Substanz, die nicht immer gegeben ist.
Die logische Weiterentwicklung des Employer Branding ist Employer Reputation. Im Gegensatz zur in der „Brand“ verkörperten Momentaufnahme geht es hier um den substanziell und dank positiver Erfahrungen der Arbeitnehmer gehärteten guten Ruf als Arbeitgeber („Reputation“). Während die Arbeitgebermarke ständiger Erosion ausgesetzt ist, permanent neu erdacht wird und so meist keine tiefen Wurzeln schlagen kann, gründet die Employer Reputation tiefer, nämlich auf gelebten Werten und einer vom ganzen Unternehmen verinnerlichten Haltung, die auf Talente anziehend wirkt. Ein guter Ansatz – nur setzt er eben just die Substanz voraus, die nicht einfach behauptet werden kann, sondern tatsächlich da sein muss.
Auch der vergleichsweise junge Ansatz, mit sogenannten Kandidaten-Personas (Candidate Persona) zu arbeiten, ist nicht bis zu Ende durchdacht und von daher in der Praxis auch kaum aus dem Anfangsstadium („könnte eine Idee sein“) hinausgekommen. Kandidaten-Personas sind idealtypische Steckbriefe der gesuchten Kandidaten. Ähnlich wie beim Candidate Profiling beschreiben sie die Merkmale der Zielgruppe, so dass sich die Recruiter ein genaues Bild von den Gesuchten machen können. Allein mit der Schaffung von Kandidaten-Personas kommt man der Zielgruppe jedoch weder auf die Spur noch tatsächlich nahe. Dieser Teil der Aufgabe bleibt, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, dem Candidate Profiling vorbehalten.
Vor etwa vier, fünf Jahren haben Arbeitgeber die Agilität für sich entdeckt und glauben, damit die Bewerber vom Hocker und zu sich reißen zu können. Die werbliche Aussage heißt: Wir sind ein durch und durch bewegliches, kunden- und mitarbeiterorientiertes Unternehmen, somit auf der Höhe der Zeit und ergo der beste Arbeitgeber, den man sich nur vorstellen kann. Bei näherem Hinsehen (und das tun die Leute, die wir auf unserer Payroll haben wollen) erkennt man freilich auch hier das kunstvolle Make-up. Früher nannten sich agile Unternehmen „atmende“ Unternehmen. Was das in Wirklichkeit bedeutet, weiß auch fast jeder Arbeitnehmer.
Seitdem die Kandidaten ausbleiben, probiert das Recruiting ständig neue Methoden aus. Ein weiteres bekanntes Modell ist die Beschreibung von Zielgruppen anhand von Generationen-Clustern. Aber woher nehmen die Personaler ihr Wissen über alterstypische Bedürfnisse von Arbeitnehmern? Kaum ein HR-Bereich hat eine eigene Research-Abteilung. Die meisten beziehen ihr Wissen aus Fachmedien, Studien und Kongressen. Dieses geliehene Wissen wird viel zu oft gedankenlos übernommen, ohne Prüfung, ob die allgemeinen Erkenntnisse auch zu den spezifischen Anforderungen des eigenen Unternehmens passen. Menschen lassen sich nicht einteilen nach dem Datum ihrer Geburt. 50-Jährige können ähnlichen Wertvorstellungen anhängen wie 20-Jährige. Es gibt 24-jährige und es gibt 54-jährige Väter, die sich mit dem Thema Work-Life-Balance auseinandersetzen. Und es gibt 24-Jährige, denen das ebenso schnuppe ist wie 54-Jährigen. Es gibt alleinstehende Mütter mit Mitte 30, für die eine Kinderbetreuung im Betrieb das Nonplusultra ist. Und es gibt 52-jährige Frauen, die mit Hinblick auf ihren Enkel, nämlich den Sohn ihrer alleinstehenden Tochter, davon elektrisiert sind. Denn sie ist nicht nur eine engagierte Krankenschwester, sondern auch eine liebende Großmutter, die der Tochter gern so viel Arbeit wie möglich abnehmen möchte.
Nicht nur Banken haben sich längst vom Denken in Lebenszyklen und Generationen verabschiedet. Was um 1980 noch der große Wurf zu sein schien – die Ansprache von Kunden, die in bestimmten Lebenszyklen vermutet wurden und von daher übereinstimmende Kapitalbedarfs- oder -vermehrungsinteressen haben sollten – hat sich knapp vier Jahrzehnte später in Luft aufgelöst. Menschen jeden Alters definieren sich heute in und über die ureigene Lebenswelt. Dieser Ansatz funktioniert also auch nicht mehr.
Ziemlich neu und in ihrer Wirkungsweise noch umstritten sind Gamification (die Einbindung spielerischer Elemente in den Bewerbungsprozess), Influencer Marketing (Aufrufe zur Bewerbung von meist nur über das Internet bekannt gewordenen Menschen, also C-, D- und Z-Promis) und Eye-Tracking-Analysen bei Stellenanzeigen (bei denen der Blickverlauf von lesenden Probanden gemessen wird, um Hinweise auf besondere Aufmerksamkeit weckende Formulierungen zu finden). Und bis zum Erscheinen dieses Buchs wird das Recruiting bestimmt noch weitere Blüten treiben. Genauer: Scheinblüten, denn das Grundmuster bleibt unverändert: „Wir bieten – Sie kommen.“ Oder auch nicht.
Die Personalansprache nach Schema F funktioniert nicht mehr
Selbstverständlich sind Sie nicht dafür verantwortlich, dass es in vielen Berufsfeldern weniger leistungsbereite, mehrsprachige, digital affine und leistungswillige Menschen gibt als früher. Oder, um diese Sichtweise nicht völlig unter den Tisch zu kehren, dass Mitarbeiter heute nach Meinung der Unternehmen mehr können und sollen als früher.
Doch Personaler und die Wissenschaft von den Human Resources, von der Sie schließlich ihr Fach gelernt haben, tragen Verantwortung dafür, dass die Personalansprache überall demselben Schema F...