V. Mein perfektes Leben â meine ersten eigenen Schritte zum Islam
Der 11. September â aufgerĂŒttelt
Wie kann ein Kapitel, das die Ăberschrift »Mein perfektes Leben« trĂ€gt, mit einem Datum beginnen, das zur Stunde null des Terrors wurde?
Aus Tod und Zerstörung erwÀchst nichts Gutes. Das weià ich. Und doch steht der 11. September am Anfang meiner Hinwendung zum Glauben.
Meine Geschichte ist voller Fragezeichen, ich versuche, die FĂ€den zu entwirren, und verwickele mich in neue WidersprĂŒche. Trotzdem mache ich weiter. InshaAllah wird sich alles finden, alles wird einen Sinn ergeben, wenn ich weiterrede.
Die Erinnerung braucht Worte, damit sie lebendig wird.
Markus und ich waren im SpĂ€tsommer 2001 nicht mehr zusammen, aber auch noch nicht getrennt. Es war nicht klar, was aus uns wĂŒrde. Vielleicht kennt ihr diesen Schwebezustand: Obwohl du spĂŒrst, dass eine Beziehung zu Ende ist, gestehst du es dir noch nicht ein. Du bemĂŒhst dich weiter, du kĂ€mpfst um verlorenes Gebiet.
Als die ersten Bilder aus Manhattan um die Welt gingen, saĂen Markus und ich wie ganz Berlin, wie ganz Deutschland und die ganze westliche Welt gebannt vorm Fernseher. Soweit ich mich erinnere, haben wir stundenlang kein Wort gesprochen. Ich weiĂ nicht, was in Markus vorging, der seine Kindheit in New York verbracht hatte.
Immer wieder sahen wir dieselben Szenen, die glĂ€nzenden GebĂ€udefassaden, der sich vergröĂernde Riss, der Rauch und der gewaltige Einsturz.
Immer wieder wurden die Nachrichten verlesen, die verzweifelte Söhne an ihre MĂŒtter geschickt hatten, bevor sie starben, immer wieder wurde der Name der Terrororganisation genannt, gleichzeitig wurden die Gesichter der Opfer gezeigt, in GroĂaufnahme, die Gesichter der Hinterbliebenen, das Weinen der MĂŒtter, die Wut und die Angst.
Solange eine realistische EinschÀtzung der AnschlÀge nicht möglich war, wurden dieselben Bilder gezeigt, Tod in Dauerschleife, auf Repeat. Die Berichterstattung war ungebremst emotional. Die Szenen verdunkelten die Köpfe und Herzen der Zuschauer.
Es waren Bilder der Zerstörung, und aus Zerstörung erwÀchst nichts Gutes.
Ich hatte genug.
Ich wusste, dass das nicht mehr aufhören wĂŒrde.
Ich hörte die Schreie der Menschen im World Trade Center, aber ich hörte auch die Schreie der Menschen von Sabra und Schatila, ich hörte die Schreie der Irakis, als die US-amerikanischen Bomben niedergingen, ich hörte die Schreie meines Onkels, den sie in einem Bunker in Israel folterten. WĂ€hrend Markus und ich vor dem Fernseher saĂen, wurden andere, alte Bilder in mir wach. Seelenflimmern. Ăber meine Seelenleinwand flimmerte der Tod.
Nichts mehr sehen, dachte ich, es ist genug.
Dann stand ich auf und schaltete das GerÀt aus.
Nine-Eleven war fĂŒr die westliche Welt die Stunde null.
Das Ende der Welt.
Nine-Eleven war der Moment der Wahrheit: der Moment, als EuropĂ€er und US-Amerikaner ihre Verletzlichkeit spĂŒrten.
US-Amerika fĂŒhrt Krieg, seit ich denken kann. Aber das BlutvergieĂen fand stets auĂerhalb der Landesgrenzen statt. Amerikas Kriege waren immer weit weg. Sie waren im Sucher der Drohnen und Kampfbomber, in den Zahlen und Meldungen, die ĂŒber den Newsticker von CNN liefen. In den Augen der Veteranen, die mit zerbrochener Seele aus dem Krieg zurĂŒckkehrten. Aber sie waren nicht im Herzen der Nation.
FĂŒr den Westen war Nine-Eleven die Stunde null. Aber nicht fĂŒr mich. Ich war Deutsche, ich war im Westen aufgewachsen, aber der Tod, der im Nahen Osten wĂŒtete, hatte mich nicht verschont. Ich war allein mit meinen Toten, der Westen weinte nicht um sie.
Das klingt hart.
Aber ich will offen sein. Nur wer den Abgrund sieht, kann eine BrĂŒcke bauen, die darĂŒber fĂŒhrt.
Nachdem ich das GerÀt ausgeschaltet hatte, sah ich Markus an. »Ich glaube, jetzt beginnt die Hetzjagd auf uns Muslime«, sagte ich mit sicherer Stimme.
Ich wusste, was Krieg bedeutete und wie Feindbilder entstanden. Ich kannte die Mechanismen der Propaganda.
Al-Qaida hatten erklĂ€rt, sie wollten einen alle islamischen LĂ€nder und Gebiete umspannenden »Gottesstaat fĂŒr alle RechtsglĂ€ubigen« grĂŒnden. Sie nannten sich Gotteskrieger, genau wie die Verbrecher in Syrien es heute tun. Sie missbrauchten Allahs Namen und die Heilige Schrift des Islam fĂŒr ihre verbrecherischen Ziele. Ich nenne sie ĂŒbrigens »Shaytan-Krieger«!
Was das fĂŒr uns bedeutete, fĂŒr uns Muslime, die in Europa und in den Staaten lebten, konnte ich mir an fĂŒnf Fingern abzĂ€hlen. Die Spaltung wĂŒrde beginnen. Zwischen uns Muslimen und dem Rest der Welt. Alle BrĂŒcken wĂŒrden ab diesem Moment durch mediale Propaganda eingerissen werden. Das konnte ich spĂŒren.
Angst differenziert nicht. Angst ist ein groĂer Gleichmacher. Wir beteten zu Allah und die Terroristen gaben vor, es auch zu tun. FĂŒnf Mal am Tag riefen unsere Muezzine »Allahu akbar â Allah ist der GröĂte«, wenn sie zum Gebet einluden. Die Terroristen riefen Allahu akbar, bevor sie ein Flugzeug mit Zivilisten in ein Wahrzeichen des Westens lenkten, bevor sie ihre Sturmgewehre durchluden oder ihre SprengstoffgĂŒrtel explodieren lieĂen. War es ihnen egal, dass sie nicht nach dem Islam handelten? War es ihnen wirklich so egal, dass sie Allahs Gesetze ignorierten und ihre eigenen schufen?
Die Medien wĂŒrden die Angst schĂŒren, und Dietmar von nebenan, der Hartz IV bekam und am Stammtisch ĂŒber AuslĂ€nder schimpfte, die ihm die Jobs wegnahmen, Dietmar von nebenan wĂŒrde ein neues Feindbild haben, an dem sich seine Rachegedanken festmachten. Rachefantasien und TötungswĂŒnsche leben auch im Westen. Sie sind nur weniger offenbar als in den Kriegsgebieten dieser Welt.
Ich bat Markus, auf Saleem aufzupassen, steckte einen Block und einen Stift in meine Tasche und fuhr mit der Ringbahn durch Berlin. Ich guckte mir die Leute an. Ich notierte EindrĂŒcke. Ich wollte sehen, was auf der StraĂe vor sich ging. Herausfinden, ob sich Berlin ...