Ich weinte nicht, als Vater starb 
 und hasste Sex, bis ich Liebe fand
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Ich weinte nicht, als Vater starb 
 und hasste Sex, bis ich Liebe fand

Geschichte eines Inzests und einer Heilung

Iris Galey

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  1. 320 pages
  2. German
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Ich weinte nicht, als Vater starb 
 und hasste Sex, bis ich Liebe fand

Geschichte eines Inzests und einer Heilung

Iris Galey

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À propos de ce livre

Iris war 14, als sie das Geheimnis preisgab: Sie wurde jahrelang von ihrem Vater missbraucht. Zwei Tage spĂ€ter erschoss sich der Vater. Iris wurde in ein MĂ€dcheninternat gesteckt und sprach nie mehr davon – bis sie 40 Jahre spĂ€ter, in Neuseeland, eine TV-Sendung ĂŒber Inzest sah und die Tragödie ihrer Lebensgeschichte aufzuschreiben begann. Ihr Buch Ich weinte nicht, als Vater starb, in dem sie sich den Namen Olivia gab, um Distanz zum Erlebten zu gewinnen, erschien1986 zum ersten Mal und wurde ein Weltbestseller.Heute ist Iris Galey 80 Jahre alt und glĂŒcklich verheiratet. Es war ein langer und harter Weg der Heilung mit vielem Scheitern und Wiederaufstehen, um das tief sitzende Kindheitstrauma zu ĂŒberwinden und mit der unsichtbaren Verletzung leben zu lernen.Dieser Doppelband enthĂ€lt den Weltbestseller Ich weinte nicht, als Vater starb und die neue Fortsetzung 
 und hasste Sex, bis ich Liebe fand, in der Iris Galey ihre Geschichte bis heute fortschreibt. Sie beweist, dass es nie zu spĂ€t ist fĂŒr einen Neuanfang und jeder seine Kindheit im RĂŒckblick noch einmal neu gestalten kann.Mit einem Vorwort des Traumatherapeuten Steven Hoskinson.

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Informations

Éditeur
mvg
Année
2015
ISBN
9783864157950

Erster Teil:

Ich weinte nicht, als Vater starb

Mutter

Ich höre Dich schon sagen, es zeuge von schlechtem Geschmack, ein solches Buch zu schreiben. Mutter, ich hatte keine andere Wahl. Dieses Buch schrieb sich von selbst, denn das, was wir sind, sind wir durch unsere Erfahrung geworden. Es war der einzige Weg, meine IdentitĂ€t zu finden, ĂŒber alles hinwegzukommen und dabei nicht zu zerbrechen. Durch die Resonanz, die es gefunden hat, fĂŒhle ich mich anerkannt. Eigentlich ist dieses Buch das grĂ¶ĂŸte Geschenk, das ich Dir, meiner Familie und mir selbst machen konnte – obwohl es sehr schmerzlich war, ehrlich zu sein. Aber jetzt ist der Schmerz vorbei und mit ihm all die Gedanken und GefĂŒhle, die mich so lange nicht losgelassen haben. Ich bin frei, und Du solltest es auch sein! Ich liebe Dich, Mama.
Olivia

1

Frau Dresden, unsere deutsche HaushÀlterin, bot mir nach dem BegrÀbnis einen Apfel an.
Ich konnte den Geruch der Cox-Orange nicht aushalten, denn mein Vater hatte sich dort oben auf dem Dachboden, wo die Äpfel fĂŒr den Winter gelagert waren, erschossen.
Ich war vierzehn, und er hatte es meinetwegen getan.
Ich hasste dieses Haus in Bradford, hatte das Nachhausekommen gehasst, seit wir dort lebten.
Ich blickte mich im SpĂŒlraum um, der neben der KĂŒche lag, und sah Frau Dresden verbissen Eiercreme in einer SchĂŒssel schlagen. Ihre fleischigen Arme bebten im Rhythmus ihrer Bewegungen. Wenn es Krisen gab, machte sie immer Pudding.
Als ich die samtige gelbe Creme schlĂŒrfte und zu dem neuen Herd aus rotem Backstein hinĂŒbersah, vermisste ich die schwarz polierte Yorkshire-Kaminsole, die herausgerissen worden war. Das einzige Überbleibsel aus alten Zeiten war der Kleiderhalter an einem Flaschenzug, der mit der feuchten, vergessenen WĂ€sche unter der Decke hing.
Widerwillig betrachtete ich die Unterhosen meines Vaters und jene riesigen unserer HaushĂ€lterin. Mich schauderte, und ein eiskalter Schweißtropfen rollte mir den RĂŒcken hinunter.
Er wird diese Unterhosen nicht mehr brauchen, dachte ich. Ich war froh und fĂŒhlte kein Bedauern. Ich fragte mich, wo Mama war. Erinnerungen stiegen hoch 

Jeden Abend, wenn Vater mit seinem Triumph Dolomite die Auffahrt hochfuhr, hatte ich Angst. Ich beobachtete ihn durch das Seitenfenster. Kleinlich untersuchte er sein Auto nach den winzigsten Schmutzflecken auf dem blauen Lack. Dann hinkte er mit seiner arthritischen HĂŒfte durch die HintertĂŒr. Ich hörte, wie er Frau Dresden anschrie und zurechtwies.
Jeden Abend ließ er mich warten, weil er die Schuhe, die ich zu putzen hatte, inspizieren wollte. Manchmal schlug er mit einem Schuh auf meinen Kopf, ein andermal stieß er ihn in meinen Bauch.
»Ich habe ihr beigebracht zu kochen, doch nie macht sie es so, wie ich es ihr gezeigt habe, und du bist auch ein Schwachkopf. Wieso bist du zu blöde, ein paar Schuhe zu putzen, so wie ich es dir gezeigt habe? Was fĂŒr ein Versager ist mein Kind! Wieso bin ich dazu verdammt, so eine Sammlung von dummen Weibsbildern um mich zu haben?«
Er rief immer vom Gang her: »Du bist ganz alleine fĂŒr deine Fehler verantwortlich! Darum musst du Disziplin lernen und entsprechend erzogen werden!«
Selbst wenn ich Beulen auf meiner Stirn hatte, wagte es niemand, seine AutoritĂ€t infrage zu stellen. Er hatte es weit gebracht. Als Direktor eines bekannten schweizerischen Chemieunternehmens wurde er sehr respektiert und gefĂŒrchtet. Er hatte uns alle von unserer Minderwertigkeit ĂŒberzeugt. Er hĂ€tte viel lieber einen Sohn gehabt und ließ uns immer spĂŒren, dass man ihn wegen der Geduld, die er fĂŒr uns aufzubringen hatte, eigentlich hĂ€tte bemitleiden mĂŒssen.
Und jede Nacht hatte es noch Schlimmeres gegeben, viel Schlimmeres. Ich konnte jetzt kaum noch atmen, wenn ich nur daran dachte.
»Heute Nacht nicht! Keine Nacht mehr!« sagte ich laut, wĂ€hrend ich fingerschleckend die CremeschĂŒssel leerte und meine schmutzigen Schuhe zur Seite stieß.
»Vot’s zat?«, fragte die HaushĂ€lterin.
»Nichts, Frau Dresden!«
Meine Gedanken kehrten zu dem BegrĂ€bnis zurĂŒck. Ich hatte mich sehr bemĂŒht zu weinen, doch die TrĂ€nen wollten nicht kommen. Wir alle standen vor der Kapelle auf dem Friedhof. Mutter wies mich darauf hin, dass der GĂŒrtel an meinem dunkelblauen Trauerkleid verdreht war. Ich hatte es schon zur Schule angezogen und war das einzige MĂ€dchen ohne Uniform gewesen. Heute war die Schule aus fĂŒr mich. Ich erinnerte mich, wie sehr ich gehofft hatte, dass meine hinter dem RĂŒcken gefalteten HĂ€nde mir das GefĂŒhl und den Anschein von mehr Traurigkeit geben wĂŒrden, als ich tatsĂ€chlich empfand. Ich betrat die Kapelle, froh, den vielen Reihen von GrĂ€bern zu entrinnen. Skelette da unten, verwesendes Fleisch. Grinsende ZĂ€hne, die ZahnĂ€rzte einst mit GoldfĂŒllungen versehen hatten. All diese Nerven jetzt tot. Ich setzte mich in die vorderste Bankreihe und war mir sicher, Gott könne mich durchschauen: Anstatt mich zu grĂ€men, dachte ich nur Schlechtes.
Ich bemerkte Freunde und MĂ€nner aus der Firma meines Vaters. Diejenigen, die ich sah, weinten nicht. Niemand außer Mama weinte. Der Kranz der Firma war der grĂ¶ĂŸte, ganz in GrĂŒn, Weiß und Gold. Blumen, die nach dem Winter auf ihrem Weg ans Licht die harte Erde durchstoßen hatten, um schließlich auf einem Sarg zu landen!
Jetzt, daheim im SpĂŒlraum, fragte ich mich, ob ich mich anders hĂ€tte verhalten sollen, um den Erwartungen meiner Mutter und der anderen zu entsprechen. Ich konnte es nicht, dachte ich. Ich konnte es nicht, weil alles, was ich empfand, unglaubliche Erleichterung war. Die Erleichterung war jetzt so groß, dass ich zu weinen anfing 

»Danke fĂŒr den Pudding«, rief ich und versetzte der WandtĂ€felung Tritte, wĂ€hrend ich den dunklen Korridor entlangging.
»Hör auf damit und zieh dir deine Socken hoch!«, brĂŒllte Frau Dresden.
Ich lief am Wohnzimmer vorbei und war ĂŒberrascht, dass kein Feuer im Kamin brannte. Jeden Abend nach der Schuhputzprozedur hatte Vater mit einem Krug Guinness-Bier am Feuer gesessen. Er stocherte so lange mit dem SchĂŒrhaken in der rot glĂŒhenden Kohle herum, bis auch dieser durchscheinend rot glĂŒhte, worauf er ihn schnell in die dunkle FlĂŒssigkeit tauchte und umrĂŒhrte. Ich sah, wie der Schaum hochschoss und ĂŒberlief. Seine Lippen wurden ganz weiß, wenn er den Schaum abschlĂŒrfte.
Einmal, als ich mich besonders mutig fĂŒhlte, hatte ich ihn gefragt: »Papa (denn ich durfte ihn nicht Vater nennen), warum kannst du mich nicht einfach lieb haben? Weißt du, so wie andere Papas? Nicht mit 
 dem 
 einfach lieb haben?« Mit spöttischem Blick sah er auf, der Muskel in seiner Wange zuckte. Er schlug seine Knie zusammen, dann lehnte er sich in seinem Ledersessel zurĂŒck, streckte die Beine aus, steckte seine Hand in die Hosentasche und sagte: »Schau, wie er groß wird. Schau dir dein Spielzeug an. Schau, wie er hĂŒpft! Er gehört dir. Er will, dass du ihn anfasst und hĂ€ltst. Er kann nicht anders! Schau, wie dein Spielzeug hĂŒpft.«
Ich stand da, diese schreckliche Übelkeit stieg in mir auf, wie immer. Ich wollte fortlaufen, aber ich wagte es nicht. Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass niemand kam, dann stĂŒrzte er sich auf mich, packte meine Hand und presste sie dorthin.
Ich hatte den leeren Kamin und den Sessel, in dem er gesessen hatte, angestarrt; jetzt wandte ich mich ab. Mich ĂŒberkam das gleiche GefĂŒhl wie damals. Dieses schmerzliche GefĂŒhl von Einsamkeit und Wertlosigkeit. Alles in mir sehnte sich nach jemandem, der mich halten und streicheln wĂŒrde, ohne diesen entsetzlichen Teil – das Sexuelle.
Ich lief weiter, hielt unten an der dunklen Treppe an und schaute hinauf.
Dort oben hatte er es getan.
Langsam stieg ich zum Dachboden hinauf. Der Geruch der Äpfel umgab mich.
Ekelerregend. Ich streckte meine Arme ĂŒber das GelĂ€nder hinaus, bewegte sie auf und ab wie FlĂŒgel und sagte: »Ich bin ein Vogel. Ich bin ein Vogel, und ich kann wegfliegen, und es ist gut, ein Vogel und ein MĂ€dchen zu sein und zu fliegen.« Wieso sagte ich dies immer, wenn ich hinaufging? Ich zögerte, als ich oben vor seiner SchlafzimmertĂŒr angekommen war, der TĂŒr, durch die ich so oft hatte gehen mĂŒssen.
Zaghaft öffnete ich die TĂŒr und starrte an die Decke. »Nun ist alles gut«, sagte ich laut. »Er ist fĂŒr immer fort! Er kann mir nicht mehr wehtun, nie mehr!« Nach einer Weile wagte ich es, den Blick zu senken. Was ich sah, ließ mich erschaudern. Ich fĂŒhlte mich nicht gut und wollte nicht hierbleiben, und doch musste ich hinsehen.
Auf der blau-weiß gestreiften Matratze war ein großer, feuchter Fleck. Der ausgewaschene rötliche Fleck, der vom Tod meines Vaters zeugte.
Wie unter Zwang musste ich in dem Raum mit seiner schrĂ€gen Decke und dem Dachfenster herumschauen. Dort waren der Schreibtisch, der Hocker, Bett und Nachttisch – alles in Chrom und schwarzem Marmor, außer der rot-weißen Schweizer Fahne, die mit vier NĂ€geln an die Wand geschlagen war.
Ich sah den knochigen, glatzköpfigen Mann vor mir, wie er meine Beine auseinanderriss und sich zwischen sie presste. Ich war neun, als es begann. Ich fĂŒhlte seine SchlĂ€ge, wenn ich mich wand. Ich sah ihn, wie er schnell nach seiner goldgerĂ€nderten Brille auf dem Nachttisch griff, um mich besser betrachten zu können. Wie die Wolfsgroßmutter in â€șRotkĂ€ppchenâ€č.
Wieso musste ich jetzt ausgerechnet daran denken? Ein MĂ€rchen! Hu! Wie er gerieben und gezerrt und mich angestarrt hatte! Wie mein dĂŒnner Arm sich verkrampfte bei dem, was er mich zu tun zwang. Weiter und weiter und weiter, hoch und runter, bis er endlich zu keuchen und stöhnen begann. Widerlich – aber fĂŒr mich das ersehnte Zeichen, dass ich bald schlafen gehen durfte.
»Sie haben Erde auf dich geworfen! Du bist nun unter ihr begraben, sicher in deinem Sarg vernagelt! Niemals mehr kannst du mir wehtun oder mich foltern!«
Dann drehte ich mich um und rannte die Treppe hinunter, ein letztes Mal.
Ich stĂŒrzte aus dem Haus und rannte ĂŒber die Straße. Ich hatte nur einen Freund auf der Welt. Ich klopfte an.
Miss Abbott schlurfte herbei. Wie immer spĂ€hte sie durch einen Spalt in ihrer morschen TĂŒr und fragte misstrauisch: »Wer ist da?«
»Ich bin es, Olivia.«
»Olivia, mein Liebes.«
Damit öffnete sie die TĂŒr und betrachtete mich mit einer Bewunderung, die mich verlegen machte. Noch peinlicher war mir der nĂ€chste Teil ihres BegrĂŒĂŸungsrituals: Sie schloss mich in ihre Arme, ging langsam auf die Knie und presste ihr Ohr gegen meinen schmalen Körper, glitt an ihm hinunter, bis sie an meinen knochigen Knien zu lauschen schien! Ich hasste diesen Teil und fĂŒhlte mich unbehaglich, wurde rot, unterdrĂŒckte ein Lachen und fragte mich, warum in aller Welt sie dies immer tat.
Dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, erhob sich Miss Abbott wĂŒrdevoll und fĂŒhrte mich in ihr Wohnzimmer.
Dankbar sank ich auf das BĂ€renfell, das das Sofa bedeckte, und legte meine Hand auf den riesigen Kopf mit den gelben Glasaugen. Hier im warmen Schein des Kaminfeuers entspannte ich mich zum ersten Mal seit dem BegrĂ€bnis. Miss Abbott hatte mir erzĂ€hlt, dass sie ganz zurĂŒckgezogen von der Außenwelt lebe. Sie litt unter Platzangst. Sie las die NĂ€chte hindurch und schlief viel tagsĂŒber, doch fĂŒr mich hatte sie immer Zeit. Wir waren uns das erste Mal begegnet, als sie gerade die Vögel in ihrem Garten fĂŒtterte.
Dank ihr lernte ich eine große Auswahl englischer Literatur kennen. Ich liebte es, wenn sie mir vorlas. Lachte in mich hinein, wenn sie aus Great Expectations vorlas, weil dort genau das beschrieben zu sein schien, das mir in ihrem altertĂŒmlichen Haus ins Auge fiel. Die VorhĂ€nge waren zerrissen und fadenscheinig, die Tapete in Fetzen und verblichen, Zuckerkrusten klebten an ungewaschenen Teetassen. Dies alles ĂŒbte eine sonderbare Anziehungskraft auf mich aus, ganz im Gegensatz zu unserer schweizerischen Perfektion, die durch stĂ€ndiges Herumnörgeln und Abrackern, Rastlosigkeit und Frustration erreicht wurde.
Hier gefiel es mir. Vater hatte mir verboten hierherzukommen, doch nun stand es mir frei, Freunde zu haben. Dies begriff ich plötzlich, als ich nach dem BegrĂ€bnis bei ihr saß. Jetzt wurde mir bewusst, dass es mit den SchlĂ€gen, der Grausamkeit, der entwĂŒrdigenden Ungerechtigkeit meines Vaters ein Ende hatte.
Ich blickte in Miss Abbotts gĂŒtiges Gesicht, sah die abgetragene, moosgrĂŒne KittelschĂŒrze, die sie jahraus, jahrein trug, sah ihr ergrauendes, in zwei Zöpfe geflochtenes Haar. Alles war wunderschön und gab mir das GefĂŒhl von Sicherheit. Ich begann, mich zu entspannen, und plötzlich wusste ich, dass ich dieses GefĂŒhl von Sicherheit hier, mit diesem neuen Menschen in meinem Leben, in meiner eigenen Familie nie kennengelernt hatte. Ich dachte dabei an Mama, schob aber den Vergleich schnell wieder beiseite.
Ich betrachtete die BĂŒcherstapel, die ĂŒberall herumlagen, die ÖlgemĂ€lde in schweren Goldrahmen und die GlaskĂ€sten mit den ausgestopften Vögeln, das Straußenei, das ich manchmal in die Hand nehmen durfte.
Gleich wĂŒrde sie sagen: â€șIch hole dir eine Tasse Tee und deine Scho-ko-laden-kekseâ€č, und ich wĂŒrde antworten: â€șIch mag es, wie du Scho-ko-lade sagstâ€č, und sie wĂŒrde fortfahren: â€șUnd ich mag es, wie du Seal-y-a-hamhund sagst.â€č Dann mĂŒssten wir beide lachen. Ich wegen ihres sehr englischen Akzents und sie wegen meines schweizerischen.
Ich bat sie, mir die Balkonszene oder »Sein oder nicht sein« vorzulesen, doch dann sah ich ein, dass es keine Lösung wÀre, mich abzulenken, dass ich sprechen musste. Ich musste mich ihr anvertrauen, musste versuchen zu verstehen, was geschehen war.
»Ich wĂŒrde gern mit Ihnen sprechen, aber ich weiß nicht, wie.«
»Ich verstehe. Dein marineblaues Kleid gefĂ€llt mir. Es ist viel hĂŒbscher als schwarz.«
»Man hat ihn heute begraben. Ich konnte nicht weinen.«
Sie sagte nur: »Liebes.«
Schweigen. Nach einer Weile sagte ich, wÀhrend ich jeden Muskel in ihrem Gesicht beobachtete: »Er hat sich erschossen.«
Ihr Gesicht ließ keine schlimme Reaktion erkennen. Meine Spannung löste sich noch mehr. Ich musste sprechen, musste es herausbringen.
»Er hat es meinetwegen getan.«
Ich fĂŒhlte mich kalt wie Stein.
»Du kannst mir alles erzĂ€hlen, doch nur, wenn du wirklich willst, mein Liebes. Nur wenn du meinst, es hilft dir. Ich weiß seit Langem, dass da etwas nicht stimmte. Du schienst immer so bedrĂŒckt.«
»Es ist schwer, darĂŒber zu sprechen, und alles ist so  «
»Komm, komm, es ist alles gut. Es wird dir viel besser gehen, wenn du dich einmal richtig ausweinst.«
Ich stammelte: »Es ist, als ob all der Schmerz aus mir herausbrechen möchte mit Worten 
 aber Mama meint, es sei zu schockierend. Ich soll nicht darĂŒber sprechen. Aber ich musste es mit ihm tun, und das war nicht zu schockierend, nicht wahr, dass ich das machen musste? Oh! Ich habe nur zweimal darĂŒber gesprochen, weil ich es nicht mehr aushalten konnte. Einmal mit diesen Leuten, die zu Besuch kamen, und die gingen dann zur Polizei, und danach mit der Polizistin.«
»Schsch 
, mein Liebes. Da hast du ein Taschentuch.«
»Wenn ich doch nur verstehen könnte, warum er das alles tat. Sehen Sie, Miss Abbott, er machte diese schrecklichen Dinge mit mir und sagte, dies sei ganz normal, doch man dĂŒrfe niemals darĂŒber reden. Ich bin so durcheinander, und ich verstehe es einfach nicht 
 Und als ich darĂŒber sprach, als ich es einfach nicht mehr aushalten konnte, peng, da stirbt er, erschießt sich, und es ist alles meine Schuld, und ich kann nicht einmal weinen bei seinem BegrĂ€bnis, und ich konnte ihn nicht lieb haben 
 Mitleid, ja, er tat mir leid, weil er hinkte und immer solche Schmerzen hatte, oh doch, aber dann war er so gemein! Nie ein Papa, nie eine Familie  «
Sie zog mich an sich, legte ihren Arm um meine Schulter, und ich schluchzte wie nie zuvor.
»Es ist die einzige Familie, die ich habe, hatte  «, schrie ich auf, »und wahrscheinlich ist das besser, als ĂŒberhaupt keine Familie zu haben.« Vor lauter Schluchzen konnte ich kaum noch atmen.
»Komm, komm, mein Liebes. Ich hatte keine Ahnung 
 Es ist einfach zu fĂŒrchterlich, was er dir angetan hat. Dass du so gelitten hast, so schrecklich unglĂŒcklich warst direkt unter meinen Augen, und keiner hat davon gewusst!«
»Er machte mir solche Angst und drohte, mich umzubringen.«
»Olivia!«
»Wenn Sie alles wĂŒssten, wĂŒrden Sie mich nicht mehr mögen. Sie wĂŒrden nicht mehr meine Freundin sein wollen. Das weiß ich. Ich weiß es.«
»Olivia, ich werde dich immer mögen und deine Freundin sein. Es ist nur ein solch unglaublicher Schock! Wenn ich daran denke, dass niemand davon wusste und dir helfen konnte! Wa...

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