Kapitel 1
Der Herr ist mein Hirte
Kate McConnell öffnete die Augen. Wo war sie nur? Helle Lichter blendeten sie. Da bewegte sich etwas. Eine Sirene heulte.
Sie schloss die Augen und öffnete sie noch einmal, hoffte, dass dies alles irgendwie verschwinden wĂŒrde. Aber ihre Hoffnung erfĂŒllte sich nicht.
Ein Rettungswagen. Sie lag in einem Rettungswagen.
Was war denn nur passiert?
Eine MĂ€nnerstimme hinter ihr rief: âWeibliche Person, etwa fĂŒnfundvierzig, multiple Verletzungen. Blutdruck: neunzig zu sechzig. Puls: eins-vierzig. Atmung: fĂŒnfundzwanzig, kurz und flach.â
Jeder Ruck und jede ErschĂŒtterung brachte neue Schmerzen, einen scharfen Stich in ihrer Brust und ein brutales ReiĂen in ihrem rechten Bein. Kate wollte sich an die Brust greifen, aber ihre Arme waren anscheinend festgeschnallt. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr blauer Pullover und die Hose waren mit einer klebrigen Masse durchtrĂ€nkt. Blut? Der Mann da eben â er hatte ĂŒber sie geredet!
Eine kurze Erinnerung blitzte auf: Ihr Wagen war auf der verschneiten StraĂe ins Schleudern geraten. Dann ein Knall; Glas zersplitterte und Metall knirschte. Ein Autounfall. Panik stieg in ihr hoch. Ich habe einen Autounfall gehabt.
In der Zeitung wĂŒrde am nĂ€chsten Tag stehen, es sei der schlimmste Verkehrsunfall gewesen, der sich je auf diesem Streckenabschnitt der I-95 zwischen Washington D.C. und Baltimore ereignet hĂ€tte. FĂŒnfundzwanzig Fahrzeuge waren an der Massenkarambolage beteiligt, davon sechs LKWs und ein Bus.
Der Donnerstag war mit etwa 12 Grad und Sonnenschein ein wunderschöner Tag gewesen. Doch dann hatte es am Freitag plötzlich einen heftigen Umschwung gegeben, und die Temperaturen waren auf unter null Grad abgesunken. Sehr ungewöhnlich fĂŒr Oktober. Und zu allem UnglĂŒck hatte es auch noch zu schneien begonnen. In nur zehn Minuten waren mehrere Zentimeter Schnee gefallen. Von diesen WitterungsverhĂ€ltnissen wurden vor allem die Autofahrer ĂŒberrascht, die auf der I-95 unterwegs waren.
Die Stimme hinter Kate fuhr mit der medizinischen EinschĂ€tzung ihres Zustands fort: âVerliert immer wieder das Bewusstsein, Kopfverletzungen nicht auszuschlieĂen.â
âHilfeâ, flĂŒsterte sie. Jeder Atemzug kostete sie groĂe Anstrengung. Irgendwie bekam sie nicht genĂŒgend Luft. AuĂerdem drehte sich alles um sie. Sie versuchte es noch einmal: âHilfe.â
âHalten Sie durch. Versuchen Sie, bei uns zu bleiben.â Ein junger Mann beugte sich ĂŒber sie, suchte ihren Blick. Seine Stimme war ruhig, aber es lag beunruhigend viel Besorgnis in seinen Augen.
Sie wollte nicken, doch das gelang ihr nicht.
âNicht bewegen. Wir sind auf dem Weg ins Krankenhaus.â
Sie wollte sich am liebsten von den Gurten befreien und sich von dieser Bahre erheben, aber sie schaffte es nicht einmal, den Kopf zu bewegen. Die Schmerzen strahlten von ihrer Brust und dem Bein in ihren ganzen Körper aus.
Die Stimme sprach weiter: âStarke Blutungen aus einer Wunde am rechten Bein â scheint ein offener Bruch zu sein. Innere Verletzungen nicht auszuschlieĂen.â
Ein paar Sekunden herrschte Stille. Nur das Sirren der Reifen auf der StraĂe war zu hören.
âOkay. Mache ich. GeschĂ€tzte Ankunftszeit in fĂŒnf bis acht Minuten, je nach Verkehrslage.â
Was war denn nur geschehen? Kate rekapitulierte ihren Vormittag. Sie war sehr in Eile gewesen und hatte ihren alten Kombi ziemlich getreten. Ein Einkauf im Supermarkt am Morgen, dann wieder nach Hause, anschlieĂend eine Fahrt von 26 Kilometern, um einer Freundin, die sich von einer gröĂeren Operation erholte, Mittagessen zu bringen, auf dem RĂŒckweg ein Abstecher zur Reinigung, um die schmutzige WĂ€sche abzugeben. Danach waren noch verschiedene andere Dinge zu erledigen gewesen. Und auf einmal hatte es zu schneien begonnen.
Die Reinigung. Sie hatte noch einmal zur Reinigung zurĂŒckfahren wollen, aber warum?
Eine Hand legte sich auf ihre Stirn, und sie öffnete die Augen. Das Gesicht des jungen Mannes kam wieder in ihr Sichtfeld. Er sah noch immer mindestens so nervös aus wie eben.
âWie heiĂen Sie?â
Sie versuchte sich zu konzentrieren. Wie war ihr Name? Ach ja. âKate ⊠McConnell.â Jedes Wort kostete sie groĂe MĂŒhe.
âIhr Geburtstag?â
Sie suchte nach der Antwort, aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. TrÀnen stiegen ihr in die Augen.
âDas macht nichts, keine Sorge. Alles wird gut. Aber bleiben Sie bitte bei mir.â
âWas ist pas-?â Sie wollte das Wort zu Ende aussprechen, doch es gelang ihr nicht.
âSie hatten einen Verkehrsunfall auf der Autobahn.â Er tastete nach ihrem Puls. âEs gab mehrere AuffahrunfĂ€lle, eine richtige Massenkarambolage. Sieht ĂŒbel aus da drauĂen.â
Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder, die Frage blieb ungestellt. Sie wollte verschiedene Worte aussprechen, aber sie fielen ihr einfach nicht ein.
âMattâ, krĂ€chzte sie schlieĂlich. Ihr Sohn. âJohn.â Ihr Mann.
âSie saĂen allein im Wagen. Versuchen Sie sich etwas auszuruhen. Wir bringen Sie auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus.â
Der Rettungswagen schwankte, wenn er andere Autos ĂŒberholte. Die Stimme des RettungssanitĂ€ters verklang und wurde wieder lauter. Kate schloss die Augen.
Ein neuer Gedanke kam und schreckte sie auf. Vielleicht starb sie ja jetzt. Ob es wohl so war, das Ende? Kam es wirklich so schnell? Wo noch so viel unerledigt geblieben war?
Kates Gedanken rutschten ab, wirbelten durcheinander und drehten sich um die Ereignisse der vergangenen Woche.
âIch glaube nicht, dass mein Leben von Bedeutung istâ, hatte sie zu einer Freundin gesagt. âSeit fast fĂŒnfundzwanzig Jahren bin ich Christin und habe nichts bewirkt. Ich könnte nicht eine einzige Person nennen, auf die ich einen positiven Einfluss hatte, nicht einmal in meiner eigenen Familie.â
âAber das stimmt doch gar nicht. Du engagierst dich im Anbetungsteam der Kirche, du bringst Menschen in Not Essen, und du schreibst immer so wunderschöne Bibelverse auf, die du dann verschenkst.â
âAber was bewirkt das schon?â
John. Er war wichtig. Und Matt.
Matt, der sich vom Glauben abgewandt hatte, als er sein Studium aufgenommen hatte. Jetzt ging er nicht einmal mehr zur Kirche.
âAch, Mama!â, hörte sie ihren Sohn sagen. âDu glaubst diesen Unsinn doch nicht etwa wirklich.â
Sie konnte einfach nicht zu ihm durchdringen.
WĂŒrde sie tatsĂ€chlich sterben?
Jemand hob behutsam ihr Augenlid an. Es war der junge Mann von vorhin. Er schaute ihr so eindringlich in die Augen, als wollte er ihre Seele ergrĂŒnden.
âBleiben Sie schön bei mir, okay?â
Sie spĂŒrte das Schwanken des Rettungswagens, dann einen scharfen Ruck, als er abbog.
âHilfeâ, keuchte Kate erneut. Der Schmerz in ihrer Seite war unertrĂ€glich.
âBleiben Sie bei mir.â
Eine Welle des Schwindels erfasste sie und alles wurde schwarz. Dann spĂŒrte sie nichts mehr.
John McConnell saĂ an seine...