September: Gnade
Zeit des Staunens
»Sage zu den Israeliten:
Am ersten Tage des siebenten Monats
sollt ihr Ruhetag halten mit Posaunenblasen zum GedÀchtnis,eine heilige Versammlung.«
3. Mose 23,24
Diesen Monat:
Challah
(Hefezopf) backen nach Ahavas Rezept (4. Mose 15,17-21).
Rosch Haschana, das jĂŒdische Neujahrsfest, feiern mit Schofar Blasen und traditionellem Essen
(3. Mose 23,23-24; 3. Mose 29,1-6).
Eine Liste mit NeujahrsentschlĂŒssen erstellen
Das Ende des Jahres mit einer
»Taschlich«-Zeremonie begehen
Haare schneiden
»Ich muss irgendwo ein Schofar auftreiben«, rief ich Dan von der KĂŒche aus zu.
»Einen was?«
»Ein Schofar! Ich muss ein Schofar auftreiben, um darauf zu blasen.«
»Kannst du das bitte noch mal wiederholen?«
»Ich habe gesagt, dass ich ein Schofar brauche! Ich muss ein Schofar auftreiben, um darauf zum Rosch Haschana zu blasen.«
Dan drĂŒckte auf den Pausenknopf der Fernbedienung und kam mit einem verdutzten Gesichtsaudruck zu mir in die KĂŒche.
»Das ist ein Widderhorn«, sagte ich erklÀrend. »Ich brauche ein Widderhorn, um es zu Rosch Haschana zu blasen.«
»Ach so, ich hatte verstanden, du brauchst einen Chauffeur«, sagte Dan kichernd. »Einen ganz kleinen Moment habe ich mir schon Sorgen gemacht.«
Was war das fĂŒr ein Jahr fĂŒr Dan! Erst kampiert seine Frau im Vorgarten, dann adoptiert sie ein Computerbaby. Sie lebt in einem Kloster, und bald darauf sucht sie ein altertĂŒmliches Blasinstrument, das den Beginn des neuen Jahres verkĂŒndet ⊠im September!
Es waren nur noch ein paar Wochen bis zum Ende des Projektes. Inzwischen hatte ich aufgehört, auch nur so zu tun, als hĂ€tte ich alles im Griff. Ich ĂŒberlieĂ meine wilde HaarmĂ€hne völlig sich selbst und ignorierte die fĂŒnfeinhalb Kilo, die ich seit dem Beginn des Projektes zugenommen hatte. AuĂerdem schloss ich mich stundenlang in meinem BĂŒro ein, um zu schreiben. Ich vernachlĂ€ssigte meinen Blog und rannte in der Stadt herum, um Zutaten fĂŒr meine letzten paar Aufgaben zusammenzusuchen. Dabei wirkte ich wohl richtig durchgeknallt. Denn eine Freundin fragte besorgt: »Willst du nicht vielleicht ein, zwei Monate Pause machen und die Sachen nach Weihnachten nachholen?«
Eine Pause so kurz vor dem Ende? Das kam gar nicht infrage. Ich hatte dieses »Endspurt-GefĂŒhl«! Wenn nötig, wĂŒrde ich lieber drei Liter Kaffee und noch mehrere Energydrinks hintereinandertrinken, nur um es endlich hinter mir zu haben!
Dass unser Sexleben litt, brauche ich wohl nicht extra zu erwÀhnen.
Und unsere Beziehung mit Freunden und Familie auch.
Ebenso wie jede Art von anderem Leben, das wir einmal gehabt hatten.
Zu all dem kam hinzu, dass mich im August ein Journalist um ein Interview bat und einen netten, langen Online-Artikel ĂŒber mein Jahr biblischen Frauseins veröffentlichte. Dieser Artikel zog Tausende Kommentare nach sich, die Titelgeschichte einer Zeitschrift, jede Menge kontroverse Debatten und das Interesse mehrerer groĂer Verlage in den USA, GroĂbritannien, Australien und sogar Israel. Eh ich mich versah, lief mein E-Mail-Postfach beinah ĂŒber mit Interviewanfragen âŠ
Wie sich herausstellte, findet nicht jeder Gefallen an der Idee, dass eine Frau es ein Jahr lang mit den biblischen Regeln ganz genau nimmt. Im Internet entwickelten besonders zwei völlig entgegengesetzte Lager einen regelrechten Hass auf das Projekt: Atheisten und Evangelikale. Die Atheisten hielten mich fĂŒr eine naive religiöse Spinnerin, die das Ganze als eine Demonstration besonderer Frömmigkeit veranstaltete, um die patriarchalischen Elemente der Bibel zu glorifizieren. Die Evangelikalen warfen mir vor, ich sei eine radikale liberale Feministin und inszeniere das Ganze als Akt der Rebellion, um diejenigen, die die Bibel lieben, dumm dastehen zu lassen. Mein Projekt sei ein »Affront gegen alle, denen die Bibel lieb und teuer ist« und »eine Verhöhnung Gottes und der Bibel«.
Nun hĂ€tte man vielleicht meinen können, dass all diese negative Aufmerksamkeit mich ernĂŒchtert oder mir den Mut genommen hĂ€tte. Doch dieses Mal merkte ich, dass der Hass, der online ĂŒber mir ausgeschĂŒttet wurde, nicht in dem MaĂe zu mir durchdrang wie damals bei der AnkĂŒndigung des Projektes. Nein, ich distanzierte mich nicht von meinen GefĂŒhlen und Ăberzeugungen. Vielmehr hatte ich nun eine Strategie, um mit all dem Negativen umzugehen: durch kontemplatives Gebet und Meditation. Wenn die Wellen von extremer Kritik und extremem Lob mich aus dem Gleichgewicht brachten, nahm ich mir einen Augenblick Zeit, um die Augen zu schlieĂen und ĂŒber einem Psalm oder einer Bibelstelle zu meditieren. Ich betete, bis ich mein inneres Gleichgewicht wiedererlangt hatte. Immer wieder kam ich auf das Gebet von Teresa von Avila zurĂŒck, das ich ganz am Anfang des Projektes entdeckt hatte.
Lass dich nicht Àngstigen, nichts dich erschrecken.
Alles geht vorĂŒber. Gott allein bleibt derselbe.
Wer Gott hat, hat alles. Gott allein genĂŒgt.
Alles erreicht der Geduldige,
und wer Gott hat, der hat alles. Gott allein genĂŒgt.
Das oder ein StĂŒck Fair-Trade-Schokolade mit Himbeeren fĂŒhrten meistens zum Erfolg. Ich hatte sowieso nicht viel Zeit, um mich auf irgendwelches Online-GeplĂ€nkel einzulassen. Denn es standen die Vorbereitungen fĂŒr den letzten jĂŒdischen Feiertag â Rosch Haschana â an. Rosch Haschana ist das jĂŒdische Neujahrsfest und fĂŒr die frommen Juden eine heilige Zeit der Bestandsaufnahme und des In-sich-Gehens. Viele Menschen auf der ganzen Welt begehen den Jahreswechsel mit Partys, auf denen der Alkohol in Strömen flieĂt und es zu allen möglichen Exzessen kommt. Rosch Haschana bietet dagegen die Möglichkeit der jĂ€hrlichen Cheschbon Hanefesch, einer Selbsterforschung, einer inneren Bestandsaufnahme. In 3. Mose 23 wird sie beschrieben als eine Zeit, in der die Kinder Israels das Schofar blasen sollen, was daran erinnern soll, wie dem Volk am Berg Sinai die Thora gegeben wurde. Dadurch werden die Getreuen gesammelt, »um aus ihrer TrĂ€gheit aufzuwachen« und sich vor dem Schöpfer zu demĂŒtigen.
»In einem Jahr hatten wir einen Nachbarn, der wĂ€hrend des gesamten Monats jeden Abend bis zum Rosch Haschana sein Schofar blies«, erzĂ€hlte mir Ahava ĂŒber Skype. »Damals hatten wir einen SĂ€ugling, der zu dieser Zeit immer schlief. Ich muss also gestehen, dass mich diese ganze Sache ziemlich geĂ€rgert hat.«
Rosch Haschana beginnt mit einer zehntĂ€gigen Zeit der BuĂe, die ihren Höhepunkt im Jom Kippur, dem Versöhnungstag, hat. Diese Tage der Ehrfurcht, wie sie auch oft genannt werden, haben eine geradezu mystische Bedeutung in der Gemeinschaft der Juden. Denn man glaubt, dass sie eine Phase des Gerichtes darstellen, in der alle Menschen auf der Welt der ĂberprĂŒfung durch den AllmĂ€chtigen unterworfen werden.
»In dem Monat vor Rosch Haschana sprechen wir BuĂgebete und es wird jeden Tag der Schofar geblasen«, erklĂ€rte Ahava. »Wir bereiten uns durch eine innere Bestandsaufnahme geistlich vor. Es ist ja einfach, jeden Tag um die ganz normale Vergebung zu bitten, aber in dieser Zeit des Jahres nehmen wir die Dinge in den Blick, die wir vielleicht versĂ€umt oder vernachlĂ€ssigt haben, besonders die kleinen Dinge, die sich im Laufe der Zeit einschleichen. Wir bitten diejenigen um Vergebung, denen wir Unrecht getan haben, auch unsere Verwandten, Kinder, Ehepartner und Eltern.«
In diesem Jahr fiel Rosch Haschana genau auf die letzten drei Tage meines Jahres biblischen Frauseins. Deshalb fand ich es sehr passend, das ganze Projekt mit einer Zeit der Bestandsaufnahme und Selbsterforschung und dann mit einem Essen und BrĂ€uchen abzuschlieĂen, die typisch sind fĂŒr das »biblische« Neujahr.
Aber woher sollte ich ein Schofar besorgen? GlĂŒcklicherweise rief mein Vater an: »Rachel, ich habe ein Shofar in meinem BĂŒro, erinnerst du dich denn nicht daran? Ich benutze es als Anschauungsobjekt in meinen Bibelkursen.«
Möge der Tag der Ehrfurcht also beginnen!
Als ich Ahava fragte, ob es sonst noch etwas »Biblisches« gĂ€be, das ich bis zum Ende des Jahres unbedingt noch ausprobieren mĂŒsse, schrieb sie zurĂŒck: »Hast du schon Brot gebacken? Das ist ein wichtiges Gebot fĂŒr die Frauen: Brot zu backen und den zehnten Teil davon fĂŒr die Priester abzunehmen. Ich backe zu den Feiertagen meistens einen Hefekranz als Symbol fĂŒr den Kreislauf des Lebens. Wenn du das Rezept haben möchtest, dann melde dich einfach.«
Der Tradition gemÀà sollten drei Sabbatmahlzeiten und zwei Mahlzeiten an Feiertagen mit »Challah« beginnen. In 4. Mose 15 wird festgelegt, dass beim Backen ein Teil des Teiges abgenommen und als Opfer fĂŒr den Herrn dargebracht werden muss. »Auch wenn es gar keinen Tempel gibt, an dem die Priester es entgegennehmen könnten«, erklĂ€rte Ahava, »trennen wir immer noch einen Teil des Teiges (etwa von der GröĂe eines Eies von der Gesamtmenge des Teiges) ab, und dieser Teil ist heilig. Diesen kleinen Teil verbrennen wir, damit er nicht mehr fĂŒr andere Zwecke verwendet werden kann oder wir ihn selbst essen. Dieser kleine Teil wird als Challah bezeichnet und daher hat das Brot seinen Namen â nicht umgekehrt.«
Seit Jahrhunderten praktizieren jĂŒdische Frauen diesen Brauch, nehmen einen kleinen Teil vom Teig ab, nachdem er gegangen ist, verbrennen diesen Teil im Ofen und sprechen dabei einen Segen. Ich gab Ahava recht. Das musste ich vor dem Ende meines Jahres biblischen Frauseins unbedingt noch ausprobieren.
Also bat ich Ahava um das Rezept und sie schickte es mir mit folgender Anmerkung: »Bevor mein Mann und ich uns verlobt und geheiratet haben, hat er dieses Brot immer gebacken. Es war um LĂ€ngen besser als jedes Challah, das ich jemals selbst gemacht oder woanders probiert habe. Er weigerte sich jedoch, mir das Rezept zu geben, bevor wir verheiratet waren. Inzwischen backe ich dieses Brot andauernd und ich gebe dir das Rezept einfach so. Du brauchst mich dafĂŒr nicht mal zu heiraten!«
Das Rezept war fĂŒr sechs Brote berechnet und ich benötigte dafĂŒr 2300 g Mehl, sieben Eigelb, 1 Liter Wasser, 300 g Zucker, ein wenig Ăl, sieben Teelöffel Hefe und vier Esslöffel Salz. Das schien ziemlich viel. Aber ich fand es einfacher, sechs Challah zu backen, als das ganze Rezept durch sechs zu teilen. Doch weil man nicht einfach mal so nebenbei sechs Brote zusammenrĂŒhrt, hielt ich mir die beiden Tage vor Rosch Haschana frei, um Challah zu backen. An einem Dienstagnachmittag bestĂ€ubte ich unseren Esstisch mit Mehl, zog meine RĂŒschenschĂŒrze an, band mein Haar zusammen und machte mich ans Werk.
Dan hat als Kind immer zugeschaut, wie seine Mutter Brot backte, und hatte eine Art mĂ€nnlichen Respekt vor diesem Vorgang, der wie ein naturwissenschaftliches Experiment anmutet. Deshalb half er mir beim Abmessen aller Zutaten und gab sich dabei gröĂte MĂŒhe, genau zu sein: 1100 ml handwarmes (nicht heiĂes!) Wasser, 300 g Zucker und sieben Teelöffel Trockenhefe. In einer groĂen SchĂŒssel mischten wir Wasser, Zucker und Hefe, dann schauten wir gespannt zu, wie sich in der hellbraunen Mischung BlĂ€schen bildeten. Ein gutes Zeichen! Nach fĂŒnf Minuten fĂŒgten wir die Eigelbe hinzu, Ăl und Salz.
»Dann fĂŒgst du langsam das Mehl hinzu...