TEIL II SOZIALE ARBEIT ALS WISSENSCHAFT
7 SOZIALE ARBEIT UND WISSENSCHAFT
In diesem Kapitel geht es darum zu zeigen, dass Soziale Arbeit sich nicht nur als Praxis oder Profession verstehen darf, sondern sich auch ganz explizit als Wissenschaft konstituieren muss. Der Sozialen Arbeit kommt in modernen Gesellschaften eine so wichtige Funktion zu, dass sie zu ihrer eigenen Absicherung auf die AnschlussfĂ€higkeit an das Wissenschaftssystem nicht verzichten kann. Dazu erfolgt in diesem Kapitel eine EinfĂŒhrung in die Grundlagen wissenschaftlichen Denkens, zumindest soweit dies fĂŒr ein Grundstudium im Bereich der Sozialen Arbeit erforderlich ist.13
Worin sich die Notwendigkeit einer Wissenschaft fĂŒr die Soziale Arbeit begrĂŒndet und warum viele Praktiker/innen die Bedeutung von Wissenschaft oftmals falsch einschĂ€tzen, wird im ersten Teilkapitel aufgezeigt (Kap. 7.1). Was Wissenschaft ist und kann, wird dann im Anschluss daran dargelegt (Kap. 7.2). Im darauffolgenden Teilkapitel wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Soziale Arbeit die drei PrĂŒfkriterien, die an eine Wissenschaft gestellt werden, bereits erfĂŒllen kann: Metatheoretische Fundierung, Theorienkonkurrenz und Forschung (Kap. 7.3). Alle drei Fragen können â wie schlieĂlich zusammenfassend dargestellt wird â positiv beschieden werden, sodass einer wissenschaftlichen Durchdringung der Sozialen Arbeit, wie sie in diesem Buch durchgefĂŒhrt wird, nichts mehr im Wege steht (Kap. 7.4).
7.1 Warum braucht Soziale Arbeit Wissenschaft?
Ăber Wissenschaft im Bereich der Sozialen Arbeit zu sprechen ist schwierig, nicht nur deshalb, weil es viele Politiker/innen, Verbandsvertreter/innen, BĂŒrger/ -innen etc. gibt, die wissenschaftliches Denken in diesem Bereich fĂŒr unnĂŒtz halten, sondern weil es aus zwei GrĂŒnden bis heute nicht gelungen ist, die Sozialarbeiter/innen selbst davon zu ĂŒberzeugen, wie wichtig Forschung fĂŒr die konkrete Arbeit ist. DafĂŒr gibt es zwei Vermutungen:
Praktiker/innen scheinen oftmals der Ansicht zu sein, Soziale Arbeit spiele sich in einem personalen VerhĂ€ltnis (Sozialarbeiter/in â Klient/in) bzw. sozialkulturellen Raum (Person in Kontext) ab, der so individuell und spezifisch geprĂ€gt ist, dass sich die daraus ergebenden Erkenntnisse nicht verallgemeinern lieĂen. Entscheidungen mĂŒssten demnach auf der Basis von eigenen Erfahrungen persönlich und oftmals intuitiv getroffen werden.
Viele Sozialarbeiter/innen sind offensichtlich davon ĂŒberzeugt, dass eine rein wissenschaftliche Argumentationsweise der KomplexitĂ€t sozialer Probleme und Interventionen nicht gerecht wird. Und sie fĂŒrchten, möglicherweise nicht zu Unrecht, dass die Wissenschaft (mit ihrer hohen Diskursmacht) vornehmlich dazu beitrĂ€gt, die sozialen Hilfen einzuschrĂ€nken und die Vertreter/innen der Sozialarbeit zu desavouieren.
Warum es auch in angewandten Wissenschaften, z. B. der Ăkonomik (und damit auch der Sozialen Arbeit), sinnvoll ist, wissenschaftlich zu denken, hat Daniel Kahnemann (2012) in seinem Buch âSchnelles Denken, langsames Denkenâ aufgezeigt. Dabei macht er deutlich, dass Praktiker/innen immer auf der Basis ihrer Erfahrungen und ihrer Intuition handeln und entscheiden mĂŒssen. Allerdings sollten sie aufgrund der permanent bestehenden Möglichkeit der FehleinschĂ€tzung dazu bereit sein, ihr Denken gleichzeitig immer auch einer âmentalen Kontrolleâ zu unterziehen. Eine eher auf Intuition basierende Vorgehensweise fĂŒhrt nĂ€mlich oftmals nicht nur zur âkognitiven TĂ€uschungâ, sondern auf lange Sicht zu âmentaler Faulheitâ oder âEgo-Depletionâ, was im Buch mit dem Begriff der âSelbsterschöpfungâ (S. 58) ĂŒbersetzt wird. Dies bedeutet, dass der/die Betreffende mit den eigenen ErklĂ€rungstheorien nicht mehr wirklich zurechtkommt und zu âkognitiven Vereinfachungenâ wie z. B. Stereotypisierung, Rassismus, Sexismus etc. tendiert.
âEine Person wurde von einem Nachbarn wie folgt beschrieben: âSteve ist sehr scheu und verschlossen, immer hilfsbereit, aber kaum an anderen oder an der Wirklichkeit interessiert. Als sanftmĂŒtiger und ordentlicher Mensch hat er ein BedĂŒrfnis nach Ordnung und Struktur und eine Passion fĂŒr Details.â Ist Steve eher Bibliothekar oder Landwirt?â (ebd., S. 17).
Nach Kahnemann erklĂ€rt sich die Tendenz der meisten Befragten, in Steve einen Bibliothekar zu vermuten, aus dem Umstand, dass âsachdienliche statistische ErwĂ€gungenâ (ebd.) auĂer Betracht gelassen werden und er schreibt dazu:
âWussten Sie, dass in den Vereinigten Staaten auf jeden mĂ€nnlichen Bibliothekar zwanzig Landwirte kommen? Weil es so viel mehr Landwirte gibt, wird man höchstwahrscheinlich auch mehr âsanftmĂŒtige und ordentlicheâ Menschen auf Traktoren als an Informationsschaltern von Bibliotheken findenâ (ebd., S. 17 f.).
Folglich muss es deshalb im Alltagsleben und in jeder Praxis immer wieder darum gehen, das schnelle Denken (in Form von Intuition, Erfahrungswissen, Routine etc.) mit Hilfe von langsamem Denken (in Form von wissenschaftlich und v. a. empirisch gestĂŒtzter Reflexion) zu korrigieren. Eine wissenschaftliche Vorgehensweise zeichnet sich demnach vor allem dadurch aus, dass sich alle Aussagen und Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen den als allgemein anerkannt geltenden Untersuchungsmethoden stellen und sich so gegenĂŒber dem PrĂŒfkriterium der Wiederholbarkeit und der Generalisierbarkeit bewĂ€hren mĂŒssen. Was sich einmal im Rahmen eines Forschungsprozesses als wahr erwiesen hat, muss sich demzufolge auch immer wieder an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten bestĂ€tigen lassen (Krumm 1983).
Beide Wissenstypen, das intuitiv-erfahrungsbasierte und das wissenschaftlich-erkenntniskritische Wissen, mĂŒssen also miteinander verbunden werden und sich ergĂ€nzen. Dabei darf keine Form des Denkens unter- oder ĂŒberbewertet werden:
âą Gegen die intuitiven Erkenntnismethoden z. B. der Hermeneutik (siehe dazu Kap. 10) spricht vor allem das PhĂ€nomen der âkognitiven TĂ€uschungâ oder der âFokussierungsillusionâ: Sozialarbeiter/innen sind möglicherweise der vollen Ăberzeugung, dass sie ihre Klienten und Klientinnen gut verstehen, in Wirklichkeit jedoch bewerten sie unbewusst einzelne Aspekte der Person des Klienten/der Klientin stĂ€rker und erliegen damit der Tendenz zur âregressiven Vorhersageâ. Dies bedeutet: Relativ willkĂŒrliche Verhaltensweisen kausal aufeinander bezogen ergeben scheinbare PlausibilitĂ€t.
âą Jedoch auch die rein empirische Sichtweise (siehe dazu Kap. 12) darf nicht ĂŒberschĂ€tzt werden. Nicht nur, weil die zu beobachtenden PhĂ€nomene durch den Vorgang der Operationalisierung und Messung stark verkĂŒrzt werden, sondern vor allem deshalb, weil die Diskursmacht der Wissenschaft in modernen Gesellschaften sehr stark von der dort herrschenden rationalistischen Ideologie (Max Weber) bestimmt wird. Wissenschaftliche Studien im Bereich der Sozialarbeit werden hĂ€ufig von Politik und Wirtschaft finanziert und deren Hauptinteresse besteht vor allem darin, Einsparungen im sozialen Bereich vorzunehmen, um dieses Geld dann an anderer Stelle (fĂŒr BaumaĂnahmen, Wirtschaftssubventionen etc.) ausgeben zu können. Allerdings stellt sich dabei das Problem, dass, wer am Diskurs um Macht nicht teilnimmt, auch keine Stimme bekommt. Dies bedeutet: Will die Sozialarbeit hier diskursmĂ€chtig sein und bleiben, muss sie sich auch dieser Diskursrhetorik der empirischen Wissenschaft und deren Grammatik bedienen (Bourdieu 1998, S. 156 f.).
Als Folge davon sollten Praktiker/innen und Forscher/innen zukĂŒnftig immer angeben bzw. versuchen herauszufinden, mittels welcher methodischer Vorgehensweisen Daten oder Ergebnisse entstanden sind, sodass sich die Rezipienten und Rezipientinnen dieser Tatsachen und der damit verbundenen möglichen EinschrĂ€nkungen bewusst werden. Der/die jeweilige Betrachter/in wird sich dann entscheiden mĂŒssen, ob er/sie diese Vorgehensweise als relevant oder irrelevant ansieht. Das heiĂt natĂŒrlich nicht, dass Forschung deshalb willkĂŒrlich wĂŒrde.
Was als wahr oder unwahr, als gute oder schlechte Praxis gilt, muss sich im wissenschaftlichen Diskurs bewĂ€hren. Es gilt jedoch dabei stets die jeweiligen Bedingungen der Wissensproduktion mit zu reflektieren und niemand, der/die in der Praxis Verantwortung ĂŒbernimmt, sollte sich dieser Anstrengung des multiperspektivischen Denkens entziehen.
7.2 Was ist Wissenschaft?
7.2.1 Die Wahrheit der Wissenschaft
Gerade weil Wissenschaft offensichtlich nicht die absolute Wahrheit versprechen kann, haben viele Menschen ihr gegenĂŒber ein gespaltenes VerhĂ€ltnis. Auf der einen Seite nehmen sie die Errungenschaften insbesondere der modernen Technik gerne wahr, haben tiefen Respekt vor Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die z. B. den Nobel-Preis bekommen, auf der anderen Seite aber haben sie Schwierigkeiten damit, die hĂ€ufig sich widersprechenden Ergebnisse wissenschaftlicher Theoriebildung und Forschung angemessen einzuordnen. Denn stĂ€ndig neue Erkenntnisse ĂŒber ErnĂ€hrungsfragen, stĂ€ndig widerlegte Vorhersagen ĂŒber Wirtschaftskrisen und Fehler bei wissenschaftlichen Gutachten können durchaus so etwas wie Wissenschaftsfrust nach sich ziehen.
Ein wichtiger Grund fĂŒr diese skeptische bzw. widersprĂŒchliche Haltung unserer Gesellschaft gegenĂŒber Wissenschaft liegt in der meist unbewussten Unterstellung, dass Wissenschaft stets âreinâ sein mĂŒsse. Dabei handelt es sich um ein VerstĂ€ndnis von Wissenschaft, das insbesondere von John Locke und Francis Bacon im Rahmen des klassischen âEmpirismusâ und spĂ€ter dann von Karl Popper (1973/1934) im Rahmen seiner Theorie des kritischen Rationalismus entwickelt wurde. Demnach mĂŒssen sich Aussagen oder Hypothesen (das sind aus Theorien abgeleitete Aussagen), um wissenschaftlich als âwahrâ gelten zu können, einem strengen Reglement unterziehen: eng am Ideal der Naturwissenschaft orientiert werden sie nur dann als âwahrâ anerkannt, wenn sie ausschlieĂlich auf Erfahrung basieren, ĂŒber wiederholbare Experimente und objektive Beobachtungen gewonnen worden sind und jederzeit wieder bestĂ€tigt werden können.
Nachdem aber die Wissenschaft erkannt hatte, dass man sich niemals sicher sein kann, ob ein ĂberprĂŒfungsprozess tatsĂ€chlich auch in Zukunft âwiederholbarâ ist, blieb ihr gar nichts anderes ĂŒbrig, als Abschied von der âinduktiven Methodeâ der Erkenntnisgewinnung zu nehmen. Diese geht bzw. ging davon aus, dass aus einer wiederholten Anzahl von bestĂ€tigten Ergebnissen auf die âWahrheitâ der betreffenden Theorie geschlossen werden kann (Induktionsprinzip). Wer aber kann sich sicher sein, dass (so ein Beispiel von Popper) der âAll-Satzâ âAlle SchwĂ€ne sind weiĂ!â nicht doch einmal durch das Vorhandensein bunter oder schwarzer SchwĂ€ne widerlegt werden kann. Aus diesem Grunde gelten die wissenschaftlichen Erkenntnisse seit Popper immer nur vorlĂ€ufig: Jede noch so gut bestĂ€tigte Theorie kann jeweils nur als âvorlĂ€ufig verifiziertâ gelten. Dagegen gilt jedoch: Eine Theorie, die sich als nicht wiederholbar erweist, kann und muss endgĂŒltig als âfalsifiziertâ aussortiert werden. FĂŒr den/die Wissenschaftler/in folgt daraus, dass sie dem Ergebnis einer Untersuchung neutral gegenĂŒber bleiben können: sowohl die Verifikation wie die Falsifikation einer These oder Theorie bildet einen Erkenntnisfortschritt, und nur darum muss es in der Wissenschaft gehen.
7.2.2 Abstraktes oder konkretes Erkenntnisideal?
Nach Popper mĂŒssen entsprechend dieser Kriterien viele Bereiche der angewandten Wissenschaften, wie z. B. die PĂ€dagogik, die Wirtschaftswissenschaften, die Soziale Arbeit, die Soziologie, aber auch die Geschichtswissenschaften oder die Kunst als nicht-wissenschaftsfĂ€hig bzw. âpseudo-wissenschaftlichâ ausgeschlossen werden. Diese These hat schlieĂlich bei der Tagung der Deutschen Soziologie im Jahr 1961 zu einer denkwĂŒrdigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung â dem âPositivismusstreitâ â zwischen Karl Popper und dem deutschen Soziologen Theodor W. Adorno gefĂŒhrt (Adorno et al. 1969). Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fĂŒhrte Popper einige Thesen zu einem kritisch-rationalen WissenschaftsverstĂ€ndnis aus. Insbesondere in seiner berĂŒhmt gewordenen âsechsten Theseâ formuliert er seinen Standpunkt bezĂŒglich einer âreinen Wissenschaftâ:
â6. Die Methode der Sozialwissenschaften wie auch die der Naturwissenschaften besteht darin, Lösungsversuche fĂŒr ihre Probleme, von denen sie ausgeht â auszuprobieren. Lösungen werden vorgeschlagen und kritisiert. Wenn ein Lösungsversuch der sachlichen Kritik nicht zugĂ€nglich ist, so wird er eben deshalb als unwissenschaftlich ausgeschaltet, wenn auch vielleicht nur vorlĂ€ufig. (âŠ)
17. Die sogenannte ObjektivitĂ€t der Wissenschaft besteht in der ObjektivitĂ€t der kritischen Methode ⊠und auch darin, dass die logischen Hilfsmittel der Kritik â die Kategorie des logischen Widerspruch...