III Stalking und Beratungspraxis
9 Hilfe, wo bist du?
Ein unvollstĂ€ndiger Ăberblick eines unvollstĂ€ndigen Beratungsnetzwerks in Deutschland
Olga Siepelmeyer und Wolf Ortiz-MĂŒller
- 9.1 Einleitung
- 9.1.1 Zielsetzung und Ablauf
- 9.2 Beratungseinrichtungen bundesweit
- 9.2.1 Allgemeine Klassifikation der Einrichtungen
- 9.2.2 Beratung sowohl fĂŒr Stalker*innen als auch Stalkingbetroffene
- GeschlechtsĂŒbergreifend
- 9.2.3 Beratung fĂŒr StalkingtĂ€ter*innen
- GeschlechtsĂŒbergreifend
- Geschlechtsspezifisch
- 9.2.4 Beratung fĂŒr Stalkingbetroffene
- GeschlechtsĂŒbergreifend
- Geschlechtsspezifisch
- 9.3 Forschungseinrichtungen
- 9.4 Entwicklungen und VerÀnderungsbedarf
- 9.5 Fazit und Ausblick
- 9.6 Literatur
Zusammenfassung:
Dieser Beitrag bietet eine Ăbersicht der Einrichtungen in Deutschland, die Stalkingbetroffene und Menschen, die stalken, beraten. Die Zusammenstellung resultiert aus der Beantwortung bundesweit versandter Fragebögen, aus telefonischen AuskĂŒnften und aus Internetrecherchen. Die Liste gibt den Informationsstand vom Oktober 2016 wieder und versteht sich als eine Orientierungshilfe sowie als einen Schritt, die Vernetzung der beteiligten Helfer*innen zu fördern. Probleme, die den Aufbau eines Netzwerks erschweren, werden ebenfalls thematisiert.
9.1 Einleitung
Noch immer erreichen uns wöchentlich bei Stop-Stalking aus dem ganzen Bundesgebiet Anfragen von Ratsuchenden, ob es denn auch in ihrer Stadt, in ihrer Region eine auf Stalking spezialisierte Beratungsstelle gebe? Schon bald nach der GrĂŒndung wurde fĂŒr uns deutlich, dass Stop-Stalking Berlin aufgrund seiner medialen PrĂ€senz auch fĂŒr viele nicht in Berlin ansĂ€ssige Ratsuchende eine erste Anlaufstelle darstellt, wenn sie eine UnterstĂŒtzung oder Information zum Thema Stalking benötigen. Wir bemĂŒhen uns seit Jahren, diesem Personenkreis eine passende Empfehlung zu geben und bemerken immer wieder, wie rar gesĂ€t spezialisierte Stalkingberatungsstellen in Deutschland sind.
WĂ€hrend man fĂŒr viele spezielle Fragestellungen zu Ă€hnlich komplexen Problematiken (z. B. hĂ€usliche Gewalt, PĂ€dophilie, sexueller Missbrauch) feststellen muss, dass es immer noch »weiĂe Flecken« auf der Landkarte gibt, stellt sich die Situation fĂŒr Stalkingbetroffene, noch mehr aber fĂŒr ratsuchende Stalker*innen weitaus drastischer dar: bildlich gesprochen erscheint ganz Deutschland als eine groĂe weiĂe FlĂ€che, aus der sich nur vereinzelt Konturen lokaler Beratungsangebote abzeichnen.
Wie flĂ€chendeckend Netzwerke psychosozialer Angebote fĂŒr andere Problematiken mittlerweile ausgebaut sind, erkennt man an diesen Beispielen: im Bereich hĂ€uslicher Gewalt existiert seit 2013 die bundesweite Hotline »Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen«; mittlerweile verfĂŒgt fast jede Kreisstadt ĂŒber zumindest eine Frauenberatungsstelle, an die sich gewaltbetroffene Frauen wenden können.
Die 2005 in Berlin gegrĂŒndete Einrichtung Kein TĂ€ter werden fĂŒr die Problematik pĂ€dophiler Menschen hat mit den Jahren ein Netzwerk von Ă€hnlichen Einrichtungen in bislang elf StĂ€dten etabliert, an das sich Ratsuchende wenden können. Alle beteiligten regionalen Einrichtungen haben sich auf Mindeststandards verpflichtet, welche UnterstĂŒtzungsleistung ratsuchende PĂ€dophile erhalten können.
Seit den 1980er Jahren ist es gelungen, dass aus der damaligen Selbsthilfegruppe Wildwasser e. V. in Berlin ein bundesweites Netzwerk gleichnamiger Einrichtungen in einer Vielzahl von StĂ€dten erwachsen ist, die ein fachlich hochqualifiziertes Angebot fĂŒr die Opfer sexuellen Missbrauchs bereitstellen und sich ĂŒberregional in Landes- oder Bundesarbeitsgemeinschaften vernetzen.
Ganz anders die Situation im Fall von Stalking! Von den politisch ZustĂ€ndigen wird bisher nicht erkannt, dass angesichts der vielen Betroffenen ein erweiterter Bedarf fĂŒr eine bundesweite Angebotsstruktur besteht. Man entlastet sich gern mit dem Hinweis, dass Stalking schon bei der Beratung der von hĂ€uslicher Gewalt betroffenen Frauen abgedeckt werde. Das stimmt aber nur fĂŒr den kleinen Teil der FĂ€lle, wenn Stalking als FolgephĂ€nomen hĂ€uslicher Gewalt in Erscheinung tritt. Ausgeschlossen bleiben hierbei mĂ€nnliche Stalkingbetroffene, die â je nach Untersuchung â zwischen 20 und 40% aller StalkingfĂ€lle ausmachen. AuĂen vor bleiben auch all die weiblichen Stalkingopfer, bei denen gar keine hĂ€usliche Gewalt vorausging, sondern das Stalking auf einer ganz anderen Dynamik beruht, z. B. einem beziehungssuchenden Stalking oder einem rachemotivierten Stalking, dessen Ausgangssituation gar keine Liebesbeziehung war.
Hinsichtlich der mĂ€nnlichen StalkingtĂ€ter wird von politischen ReprĂ€sentant*innen argumentiert, dass sie ja bei MĂ€nnerberatungsstellen Hilfe finden können. Diese sind jedoch zumeist nur auf TĂ€ter hĂ€uslicher Gewalt eingestellt und bieten hierfĂŒr qualifizierte Kurse an. LĂ€ngst nicht alle Stalker jedoch wenden ĂŒberhaupt physische Gewalt an. Viele unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Problematik ganz betrĂ€chtlich von MĂ€nnern, die ihre Partnerinnen schlagen. Die Vorstellung, StalkingtĂ€ter könnten bei MĂ€nnereinrichtungen Hilfe
finden, ist insbesondere angesichts der Tatsache unsinnig, dass ein nicht unerheblicher Teil der Menschen, die stalken, Frauen sind (
Kap. 4).
Kurzum, weder gibt es genug spezialisierte Beratungseinrichtungen, noch ist das Beratungsangebot der ĂŒberwiegenden Anzahl der ĂŒbrigen Beratungs- und Hilfeeinrichtungen darauf ausgerichtet, dass Stalking ein ganz eigenes Problemverhalten mit eigenen Ausgangskonstellationen darstellt. Auch wird allgemein zu wenig zur Kenntnis genommen, dass alle Geschlechter auf der Seite der TĂ€ter*innen wie auch der Opfer vorkommen.
9.1.1 Zielsetzung und Ablauf
Das Aufzeigen der MÀngel, MissstÀnde und Entwicklungsaufgaben sollte uns nicht davon abhalten, in diesem Beitrag all jene uns bekannten Einrichtungen in Deutschland vorstellen zu können, die einen oder mehrere Teilaspekte von Hilfen bei Stalking anbieten.
Aus der eingangs beschriebenen Problematik, dass wir so viele Ratsuchende aus anderen Regionen ohne konkrete Weitervermittlung lassen mussten, ist unsere Initiative erwachsen, zu möglichst vielen Beratungsstellen mit Hilfe eines Fragebogens Kontakt aufzunehmen, um zukĂŒnftig »Nicht-Berliner-Ratsuchenden« hilfreiche AuskĂŒnfte ĂŒber regionale Beratungsmöglichkeiten geben zu können.
Ein weiteres Ziel der Umfrage war selbstverstĂ€ndlich auch, dass wir das vor Ort gesammelte Erfahrungswissen zu diesem immer noch neuen Problemfeld bĂŒndeln und die Grundlagen fĂŒr einen fachlichen Austausch schaffen wollten.
Wir haben als Quellen weitere Informationswege genutzt: Eine von den Autor*innen durchgefĂŒhrte Internetrecherche wurde ergĂ€nzt durch unstrukturierte Interviews im Rahmen des kollegialen Austausches. Hinzu kamen die Antworten auf den Fragebogen, der an 40 Einrichtungen abgeschickt wurde.
Der Fragebogen beinhaltete insgesamt 18 Fragen und deckte zwei Bereiche ab: allgemeine Angaben zur Exploration struktureller Bedingungen und inhaltliche Informationen wie Ziele, Schwerpunkte, Konzepte und Methoden der Beratung. Die Befragten wurden gebeten, den Fragebogen so ausfĂŒhrlich wie möglich zu beantworten. Wegen groĂer struktureller Unterschiedlichkeit der Einrichtungen und selektiver RĂŒckmeldungen zu einzelnen Fragen, die eine statistische Auswertung behindern, entschieden wir uns fĂŒr eine qualitative Beschreibung der Einrichtungen, von denen wir ausgefĂŒllte Fragebögen erhalten haben. Wir erheben keinen Anspruch auf VollstĂ€ndigkeit.
9.2 Beratungseinrichtungen bundesweit
9.2.1 Allgemeine Klassifikation der Einrichtungen
Der Fragebogen und die Recherche differenzierten die Angebote nach folgenden Kriterien:
âą Richtet sich das Beratungsangebot an Stalker*innen oder an Stalkingbetroffene oder an beide Seiten?
⹠Zielt das Angebot auf jede Art von Stalking, unabhÀngig von der Motivation der Stalker*innen, oder geht es primÀr um die Bearbeitung der Stalkingproblematik bei ehemaligen Intimpartner*innen im Kontext der Gewalt in nahen sozialen Beziehungen?
âą Ist das Angebot geschlechtsspezifisch (nur fĂŒr Frauen, MĂ€nner oder andere Geschlechtsdefinitionen) oder steht es allen Geschlechtern zur VerfĂŒgung?
âą Findet die Beratung im Einzelsetting oder als Gruppenangebot statt?
Im Folgenden wird eine Beschreibung der Beratungsstellen anhand ihrer Zielgruppe und GeschlechtsspezifitÀt unternommen.
9.2.2 Beratung sowohl fĂŒr Stalker*innen als auch Stalkingbetroffene
GeschlechtsĂŒbergreifend
Seit 2006 berÀt das
Stalking-KIT (Kriseninterventionsteam) Bremen im Rahmen einer TĂ€ter-Opfer-Ausgleich-Einrichtung sowohl StalkinggeschĂ€digte als auch Stalker*innen. Das Stalking-KIT entstand zunĂ€chst als EU-Projekt mit Partnereinrichtungen aus Schweden, GroĂbritannien, Polen und Italien. Die psychologischen BeratungsgesprĂ€che werden an einem besonders niedrigschwelligen, zentral gelegenen, auch mit dem ĂPNV gut zu erreichenden Ort angeboten. Die Lage wahrt gleichzeitig eine AnonymitĂ€t. Beratungen werden im Umfang von 20 Wochenstunden angeboten. GesprĂ€che werden nach Bedarf, anfangs wöchentlich, spĂ€ter etwa 14-tĂ€gig, durchgefĂŒhrt. Beratungen bei sehr komplexen Situationen können auf lĂ€ngere Zeit angelegt werden. »ĂberprĂŒfungstermine« finden einige Monate nach Beendigung des Nachstellungsverhaltens statt. Das Bremer Stalking-KIT ist mit den Einrichtungen Stop-Stalking Berlin, der Bundesarbeitsgemeinschaft-Stalking, dem DBH â Fachverband fĂŒr soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik â und mit Neustart Ăsterreich â einer Gesellschaft, die Gerichtshilfe-, BewĂ€hrungshilfe und TĂ€ter-Opfer-Ausgleich anbietet â vernetzt. Der Ansatz des Bremer Stalking-KIT wurde 2007 vom deutschen Bundesministerium der Justiz als
best-practice zu Konferenz des EuropĂ€ischen PrĂ€ventionspreises gemeldet (Weiteres ĂŒber das Bremer Stalking-KIT
Kap. 16,
http://www.stalking-kit.de/).
Stop-Stalking Berlin wurde 2008 als Beratungsstelle fĂŒr StalkingtĂ€ter, ihre Angehörigen und FachkrĂ€fte, die mit Stalking im beruflichen Alltag zu tun haben, gegrĂŒndet. 2014 erweiterte die Beratungsstelle ihr Angebot und berĂ€t seitdem auch Stalkingbetroffene. Ein multiprofessionelles und multikulturelles Team, zur Zeit aus vier festangestellten Berater*innen und zwei freien Mitarbeiter*innen mit Qualifikationen in psychologischer Psychotherapie, Psychologie, PĂ€dagogik und SozialpĂ€dagogik, bietet Beratungen auĂer Deutsch auf fĂŒnf weiteren Sprachen an. Zur Arbeit der Beratungsstelle
Kap. 10,
http://www.stop-stalking-berlin.de/.
Das Interventionszentrum gegen hĂ€usliche Gewalt des PfĂ€lzischen Vereins fĂŒr soziale Rechtspflege SĂŒdpfalz e. V. Landau arbeitet sowohl mit den Betroffenen, als auch mit den TĂ€ter*innen und mit den von Gewalt betroffenen Fam...